J. Reinharz u.a.: The Road to September 1939

Titel
The Road to September 1939. Polish Jews, Zionists, and the Yishuv on the Eve of World War II


Autor(en)
Reinharz, Jehuda; Shavit, Yaakov
Reihe
Tauber Institute for the Study of European Jewry
Erschienen
Anzahl Seiten
XIX, 408 S.
Preis
$ 50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne-Christin Klotz, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin / Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg

Neben der Shoah gehören die 1930er-Jahre sicherlich zu den für Historiker/innen herausforderndsten, komplexesten und sensibelsten Forschungsgegenständen der Jüdischen und Europäischen Geschichte. Denn die Gefahr gerade jene Jahre zwischen 1933 und 1939 aus einer heutigen Perspektive, also mit dem Wissen um die Shoah, heraus zu interpretieren, ist immer präsent. Eine spannende und mitreißende Studie, die sich gegen eine solche Perspektive wendet und mit lang etablierten Denkmustern innerhalb der Forschung der 1930er-Jahre bricht, haben jetzt Jehuda Reinharz und Yaakov Shavit mit The Road to September 1939. Polish Jews, Zionists, and the Yishuv on the Eve of World War II vorgelegt. Bei dem Buch handelt es sich um eine englische Übersetzung des hebräischen Originals ha-Derekh le-September 1939 von 2013, die an einigen wenigen Stellen um aktuelle Forschungsliteratur und Diskussionen ergänzt wurde. Jehuda Reinharz und Yaacov Shavit haben bereits eine Reihe von Büchern zusammen geschrieben und knüpfen mit dem Band an ihre vorherige Forschung an. Während sie sich im Jahr 2006 in Glorious, Accursed Europe noch mit jüdischen Perspektiven auf und Vorstellungen von Europa als Idee von der Aufklärung bis in die heutige Zeit konzentrierten, stehen in ihrer jüngsten Studie die realpolitischen internationalen Beziehungen im Zentrum. Hierbei werden die Perspektiven zionistischer Politiker/innen im Yishuv mit denen der jüdischen Community in der Zweiten Polnischen Republik verglichen und mit anderen politischen Akteur/innen in unterschiedlichen europäischen Staaten in den 1930er-Jahren in Beziehung gesetzt. Beide Forscher fragen nach den Anstrengungen und Unternehmungen, die jüdische Politiker wie David Ben-Gurion, Yitzhak Gruenbaum, Chaim Weizmann und Zeev Jabotinsky unternahmen, um die sich drastisch verschlechternde Lage von Jüdinnen und Juden auf dem europäischen Kontinent, primär in Polen, zu verbessern. Sie zeigen auf, wie jüdische Mandatsträger/innen zu Gunsten der jüdischen Massen in Polen Einfluss auf die Weltpolitik zu nehmen versuchten und welche Wahrnehmungen sie von den krisenhaften Prozessen der Jahre kurz vor dem Zweiten Weltkrieg hatten. Neben den bekannteren jüdischen Persönlichkeiten bekommen auch weniger berühmte Intellektuelle bis hin zu den sogenannten kleinen Leuten Raum in den Ausführungen, sodass die rasanten Entwicklungen dank der Einbindung einer bottom-up Perspektive in ihrer Komplexität gelungen dargestellt werden können. Den Leser/innen werden damit Einblicke in die Lebensrealitäten der historischen Akteur/innen an ihren diversen politischen Wirkungsstätten gegeben: Die Blicke richten sich nach London, der zentralen Metropole des britischen Empires, nach Warschau, dem Dreh- und Angelpunkt der jüdischen Community Polens, in die von Jüdinnen und Juden bewohnten Gebiete Palästinas und in andere zentrale Schauplätze, an denen jüdische Politiker/innen sich erhofften, Einfluss nehmen zu können.

Die stark quellenbasierte und akteurszentrierte Studie will laut den Autoren als eine Art „collective diary of statesmen, social and political activists, and ordinary people“ fungieren (Preface, S. XVI). Diese Selbstbeschreibung ist nicht nur passend, sondern macht auch den wohl größten Reiz des Buches für Forscher/innen sowie für das interessierte Publikum aus. Reinharz und Yaakov schaffen es, jüdisches politisches und moralisches Denken und Handeln vor dem Horizont europäischer und hier insbesondere polnischer, deutscher und britischer Entwicklungslinien mit jenem im Yishuv zu kontrastieren. Dabei mag zunächst überraschen, dass sich die Autoren gegen Deutschland und für Polen als zentralen Schauplatz ihres Buches entschieden haben (Preface, S. XVII). In Anbetracht der Größe und der direkten Auswirkungen der Machtübernahme Hitlers auf die jüdische Community in Polen wirkt diese Entscheidung längst überfällig. Darüber hinaus waren polnische Jüdinnen und Juden spätestens seit 1924 die größte Gruppe unter jüdischen Migrant/innen nach Palästina und waren somit auch für die demographische und ökonomische Entwicklung des Yishuvs maßgeblich prägend (Preface, S. XVII–XVIII).

Die besondere Themensetzung handelt das Buch in acht Kapiteln sowie einem Vor- und Nachwort ab. Es enthält darüber hinaus einen ausführlichen Anmerkungsapparat sowie einen nach Namen, Orten und Themen organisierten Index. Die Kapitel sind chronologisch angeordnet und widmen sich den für die Autoren zentralen Ereignissen und Themen, wobei die innere Struktur der Kapitel selbst nicht immer dem zeitlichen Ablauf der Ereignisse folgt. Von der Bedeutung des Todes Józef Piłsudskis 1935 für die polnisch-jüdischen Beziehungen und dessen Auswirkungen im Yishuv über die Verhandlungen mit dem britischen Empire über die Gründung eines jüdischen Staates bis hin zu den Erwartungen und Hoffnungen, die mit der Konferenz von Évian verbunden waren, bieten Reinharz und Shavit einen gelungenen Überblick zur dichten Abfolge von Ereignissen in den 1930er-Jahren. Dabei zeigen sie, dass die Ereignisse zwar alle für sich genommen singuläre historische Wendepunkte markierten, auf der Ebene der internationalen Weltpolitik jedoch eng miteinander verbunden waren. Anhand von Egodokumenten werden besonders den Emotionen der Protagonist/innen auf Ereignisse wie die Novemberpogrome oder die Veröffentlichung der White Papers von 1939, die für Palästina eine Zweistaatenlösung vorsahen und die jüdische Emigration für die kommenden fünf Jahre stark regulierten, nachgegangen. Damit stellen die Autoren der Forschung über zionistische Politik im Yishuv, die häufig als rational, egoistisch und „palästinazentriert“ interpretiert wurde und wird, eine deutlich andere Perspektive entgegen: Diese Perspektive versucht aufzuzeigen, was die realpolitischen Handlungs- und Wirkungsräume der historischen Akteur/innen waren und wie und warum sie politische Entscheidungen trafen, ohne diese dabei moralisch zu verurteilen (S. 282, S. 337).

Ein anderer Aspekt, der positiv heraussticht, ist die Darstellung der polnisch-jüdischen Community. Reinharz und Shavit gelingt es die jüdische Community Polens nicht nur in ihrer Diversität abzubilden, sondern auch deren, wenn auch stark eingeschränkte, aktiven Wahl- und Handlungsmöglichkeiten in Anbetracht von Antisemitismus und der sich zuspitzenden politischen Lage darzustellen. Sie zeigen beispielsweise, dass viele polnische Jüdinnen und Juden zwar einen starken Wunsch verspürten, nach Palästina zu migrieren, viele diesem aber aufgrund des Prinzips der doigkeyt1, nicht nachgingen, selbst wenn sie die Chance dazu hatten (S. 14, 21ff.). Für sie war der Nahe Osten häufig rückständig, arm und anti-modern. Ferner zeigen sie, wie die polnisch-jüdische Community aktiv am Weltgeschehen Anteil nahm und bestens informiert war. Beispielhaft dafür sind die verschiedenen jüdischen Initiativen mit dem Ziel, Polen bei einem militärischen Angriff seitens Deutschlands aktiv zu verteidigen (S. 296–297).

Das ambitionierte Vorhaben, gleich drei Perspektiven – eine zionistische aus dem Yishuv, eine jüdische aus Polen und die verschiedenen Blicke anderer politischer, meist zionistischer, Akteur/innen – miteinander zu verbinden, hat dennoch seinen Preis. So kommt es insbesondere in jenem Teil, der sich Polen widmet, immer wieder zu kleineren historischen Ungenauigkeiten, etwa wenn behauptet wird, dass ab 1934 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland nach Polen kamen (S. 59). Diese kamen jedoch bereits seit Februar 1933 zu Tausenden ins Land und wurden nach ihrer Ankunft von jüdischen Hilfskomitees in Polen tatkräftig unterstützt.2 Der Umstand, dass die Autoren fast gänzlich auf polnischsprachige Fachliteratur und Quellen verzichtet haben, mag dazu beigetragen haben, dass sich solche kleinen Fehler eingeschlichen haben. Dabei wurde insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten eine Fülle an Arbeiten in Polen veröffentlicht, deren Ergebnisse für das Buch sicherlich von großem Wert gewesen wären.3 Ebenfalls fehlen an einigen Stellen wichtige Fußnoten, die auf die Quellen verweisen hätten können, die im Text verwendet wurden (z.B. S. 291–290, S. 295). Dies ist nicht nur ärgerlich, sondern wirkt in der Masse auch leider etwas unwissenschaftlich.

Die Kritikpunkte schmälern in der Summe jedoch nicht den Wert und das Lesevergnügen. Durch den Entschluss, die historischen Entwicklungen fast gänzlich aus der Perspektive der jüdischen Akteur/innen zu schildern, werden komplexe Zusammenhänge nicht nur nachvollziehbar, sondern auch erfahrbar. Für ein interessiertes Publikum wird Geschichte hier auf angenehme Art und Weise lebendig, ohne zu moralisieren. Für nicht Hebräisch sprechende und lesende Historiker/innen stellt die Übersetzung ins Englische sogar einen Glücksfall dar, dürften doch in erster Linie sie von dem riesigen Quellenfundus von bisher wenig bekannten Tagebüchern und Memoiren, die oft nur auf Hebräisch vorliegen, profitieren.

Anmerkungen:
1 Das Prinzip der doigkeyt, Jiddisch für „hiersein“, beschreibt die Verbundenheit mit Polen als Heimatland und den Kampf um jüdische Rechte im „Hier und Jetzt“, also in der Zweiten Polnischen Republik.
2 Vgl. Anna Novikov-Almagor, Zbąszyń, 1933, in: Scripta Judaica Cracoviensia 7 (2009), S. 103–109; Anna Kargol, Zakon Synów Przymierza. Krakowska Loża „Solidarność” 1892–1938, Kraków 2013, S. 242–245.
3 Siehe u.a. Magdalena Kozłowska, Świetlana Przyszłość? Żydowski Związek Młodzieżowy Cukunft wobec Wyzwań Międzywojennej Polski, Kraków 2016; Kamil Kijek, Dzieci Modernizmu. Świadomość, Kultura i Socjalizacja Polityczna Młodzieży Żydowskiej w II Rzeczypospolitej, Wrocław 2017.

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