T. Kroll u.a. (Hrsg.): Briefe eines Intellektuellen 1886–1937

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Titel
Werner Sombart. Briefe eines Intellektuellen 1886–1937. Herausgegeben von Thomas Kroll, Friedrich Lenger, Michael Schellenberg


Herausgeber
Kroll, Thomas; Lenger, Friedrich; Schellenberger, Michael
Reihe
Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 75
Erschienen
Anzahl Seiten
580 S.
Preis
€ 99,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gangolf Hübinger, Vergleichende Kulturgeschichte, Kulturwissenschaftliche Fakultät der Europa-Universität Frankfurt an der Oder

Nur Briefe überliefern ein persönliches Bekenntnis, wie es Werner Sombart gegenüber Ferdinand Tönnies im November 1919 ablegte. Um seine Fixierung auf Marx geht es und um seinen Wandel vom Verehrer zum Verächter. Denn „meine Stimmung ihm gegenüber ist doch immer mehr ein seltsames Gemisch von grenzenloser Bewunderung + grimmigem Haß: ich staune jedesmal wieder über die ungeheure Genialität der Einfälle + ärgere mich jedesmal mehr über die – so muß man es nennen – geistige Unsauberkeit, mit der M. gearbeitet hat“ (S. 437).

Es gibt zahlreiche Konfessionen und Reflexionen solcher Art in der gut durchdachten Auswahl von 395 Briefen und Karten, welche diese Edition für den Zeitraum von 1886 bis 1940 versammelt, nicht bis 1937, wie im Buchtitel angezeigt. Briefeditionen von Gelehrten sind ein klassisches Genre der Wissenschafts- und Bildungsgeschichte, sie erschließen die Allseitigkeit eines Gelehrtenlebens; im Fall des Nationalökonomen und Soziologen Werner Sombart eines besonders hervorstechenden Gelehrtenlebens der Moderne um 1900. Sombart gilt als der „bekannteste deutschsprachige Sozialwissenschaftler“ seiner Zeit, als führender Sozialpolitiker, als beachteter Kulturkritiker und in seinem zitatenreichen Briefstil als Meister bürgerlicher Bildungskonventionen. So stellt ihn die Einleitung des Sombart-Biographen Friedrich Lenger bündig und klar vor. Die Herausgeber charakterisieren den Mann vieler Eigenschaften titelgebend als „Intellektuellen“, aufgrund der „Verbindung von hoher wissenschaftlicher Reputation und Bereitschaft zur Intervention in öffentliche Debatten“ (S. 9). Sombart selbst hätte zwar diese Bezeichnung von sich gewiesen, denn „Intellektuelle“, das waren die anderen, die man in der „Zeit des internationalen Kaffeehausliteratentum“ bekämpfen muss (S. 435), ganz wie in Dietz Berings Schimpfwortgeschichte beschrieben.1 Aber Kroll, Lenger und Schellenberger haben Recht. Aus der Verbindung von Werk und Briefen tritt uns jetzt noch deutlicher Sombart als ein „Intellektueller“ entgegen, dessen öffentliche Zeitdiagnosen das späte Kaiserreich, die Weimarer Republik und die frühe nationalsozialistische Herrschaft durchziehen. Welchen Typus eines Intellektuellen repräsentiert nun Sombart? Ein Experte der Intellektuellengeschichte wie Thomas Kroll hätte zu diesem Punkt deutlicher einführen können.2

Ein Voltaire war Sombart nicht, auch kein Walter Lippmann. Was wir in den Briefen vorfinden, ist die Karriere eines prominenten akademischen Rechtsintellektuellen, in exakter Gegenbewegung etwa zu Heinrich Mann. Der hatte sich vom nationalistischen Anti-Dreyfusard zum linken Humanisten gewandelt. Sombart verficht im Kaiserreich eine radikale sozialistisch-bürgerliche Sozialreform, verweigert sich dann aber der Weimarer Demokratie und will mit seinem „Deutschen Sozialismus“ von 1934 helfen, „den Intellektuellen der fremden Länder eine bessere Meinung – oder überhaupt eine begründete Ansicht – vom Nat.Soz. beizubringen“ (S. 529). Sombarts Briefe an die insgesamt 39 für diesen Band berücksichtigten Adressaten legen nahe, drei intellektuelle Phasen seines akademischen, publizistischen und geselligen Lebens zu unterscheiden.

Eine erste Phase umfasst die Zeit von den intellektuellen Prägungen durch das Studium der Nationalökonomie und des akademischen Starts an der Universität Breslau bis zu seinem frühen Hauptwerk über den „modernen Kapitalismus“ (1902) und seiner Wandlung vom marxaffinen Sozialreformer zum bildungselitären Kulturkritiker in den Jahren 1903/04. Die 58 Briefe an den engen Studienfreund Otto Lang, den Schweizer Richter und sozialdemokratischen Politiker, stellen die aufschlussreichste Quelle dar. Sie zeigen erstaunliche Kontinuitäten seines Weltbildes: „Hebung des Loses der unteren Klassen – ist o [lies „nicht“, die Sombart-Kürzel sind jeweils exakt wiedergegeben] darum anzustreben, damit es 1nigen Millionen Individ. besser gehe, sondern damit das Ganze dadurch neue Kräftigung erhalte“ (S. 62). Das war schon 1887 mehr nationale Gemeinschaft als Marx. Und sie zeigen den üblichen Neid im akademischen Feld. Rivale Max Weber, jünger, aber schon als Ordinarius nach Freiburg berufen, ist „1 Modegelehrter“ (S. 135). Aus den USA, vom „Monster-Kongreß in St. Louis“, kommt Sombart dann 1904 mit ganz anderen Eindrücken zurück als der eher staunende Kollege Weber, „es war noch schrecklicher, entsetzlicher, fürchterlicher als ich es mir vorgestellt hatte […] – die Götterdämmerung der Kultur!“ (S. 315). 66 Briefe an Heinrich Braun sind ediert, rund um die Zeitschriftenpolitik zu Brauns „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, das Sombart mit Max Weber und Edgar Jaffé als Herausgeber ab 1904 unter dem neuen Titel „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ fortführte, bis er sich 1920 mit Schriftleiter Emil Lederer und dessen „Sammelstätte jüdisch-pazifistischer Sozialdemokraten“ (S. 443) endgültig überwarf. Erstaunlich, dass kein einziger Brief an den ungeliebten Lederer („dieser Herr“, S. 444) erhalten oder enthalten ist.

Seit 1903 dominieren kulturskeptische Sentenzen. „Sie wissen, ich bin was die soziale Entwicklung anlangt Pessimist“, schreibt Sombart an Wilhelm Bölsche (S. 296). Im vertrauten Umgang mit Künstlern paart sich großbürgerlicher Lebensstil mit elitärer Geselligkeit: „Denn in unserem Alter vermeidet man doch gern, auch nur eine Stunde für den Umgang mit minderwertigen Menschen zu opfern“, läßt der Vierzigjährige den Dramatiker Carl Hauptmann wissen (S. 306), mit 71 Briefen der in dieser Edition häufigste Adressat. Immer gehe es ihm um das „Geistige“. Im Ersten Weltkrieg habe ihn das „Bekenntnis zu einem entschiedenen Geistig-Deutschen“ zu seiner Kampfschrift „Händler + Helden“ motiviert, erklärt er Alfred Weber, und er sei zu Unrecht „von allen Juden und Judengenossen in so gemeiner Weise beschimpft worden“ (S. 419).

In den Briefen der dritten Phase zwischen 1919/20 und 1940 zeigt sich ein spätes Paradox von Sombarts gelehrter Lebensführung. Gegenüber Ferdinand Tönnies gibt er die antiintellektuelle „Abkehr von dem Graus des öffentlichen Lebens“ kund, will „Verflachung + Popularisierung der Bildung“ nicht mittragen (S. 434). Gleichzeitig reüssiert er, wie Lenger einleitend betont, als zielstrebiger Vermarkter seiner vielen Publikationen. 1933 fühlt er sich isoliert und missachtet. Mit seinen sozialismuskritischen Schriften habe auch er „Anspruch auf die Vaterschaft des Nationalsozialismus“, klagt er gegenüber Johann Plenge. Aber „ich bin ‚versunken und vergessen‘. Man will keine geistigen Väter haben“ (S. 521), zitiert er Ludwig Uhland, „Des Sängers Fluch“.

Im Mai 1940 – der Westfeldzug hat begonnen, seine geisteswissenschaftliche Anthropologie „Vom Menschen“ (1938) unterliegt der Zensur – beschäftigt ihn die „Theorie der Kultur“, wie er Gerhart Hauptmann schreibt. Sie müsse die „Affenkomödie“ erweisen, „die das Menschengeschlecht auf diesem Stern aufführt“ (S. 537). Mit diesem weisen Blick auf den Erdplaneten endet die Briefauswahl. Zu den aufgenommenen Briefpartnern zählen unter anderen August Bebel, Lily Braun, Lujo Brentano, Kurt Breysig, Gerhart Hauptmann, Robert Michels, Edgar Salin, Paul Siebeck (vollständiges Verzeichnis, S. 46–54). Die Edition enthält nützliche Kurzbiographien aller Adressaten. Die Briefe selbst sind in der Regel vorzüglich kommentiert, nach den hohen Standards der „Deutschen Geschichtsquellen“.

Anmerkungen:
1 Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978.
2 Thomas Kroll / Tilman Reitz (Hrsg.), Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland. Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2013; zu „Intellektuelle“ als Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts auch Gangolf Hübinger, Intellektuelle, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 8 (2019), 1, S. 34–40.

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