C. Begass: Die Senatsaristokratie des oströmischen Reiches

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Titel
Die Senatsaristokratie des oströmischen Reiches, ca. 457–518. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen


Autor(en)
Begass, Christoph
Reihe
Vestigia 71
Erschienen
München 2018: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
X, 574 S.
Preis
€ 86,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hendrik Wagner, Institut für Altertumswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die in der Reihe „Vestigia“ erschienene leicht überarbeitete Tübinger Dissertationsschrift von Christoph Begass stellt eine wertvolle Bereicherung für die Erforschung der spätantiken Gesellschaft dar. Zweifelsohne ist es eine große Aufgabe, die Senatsaristokratie des oströmischen Reichs für die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts zu erforschen und greifbar werden zu lassen, gerade auch gegenüber seinem deutlich besser erforschten weströmischen Pendant.1 Umfangreichere Abhandlungen zur Senatsaristokratie des oströmischen Reichshälfte liegen längere Zeit zurück.2 Die neueren Forschungsbeiträge zur Geschichte des oströmischen Reiches in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts konzentrieren sich auf die Kaiser. So liegen Monografien zu den Kaisern Leon (457–474), Zenon (474–491) und Anastasios (491–518) vor3, allerdings keine aktuelle Studie zur oströmischen Senatsaristokratie. Insofern schließt Begass mit seiner Arbeit eine lange verschmerzte Forschungslücke.

Eingangs verortet der Autor seine Arbeit in diesem Forschungsfeld, erörtert die Problemlage, gerade auch bezüglich der Quellen und legt seine Methodik dar (S. 1–30). Die Zielsetzung wird hier deutlich: Begass will die Senatsaristokratie des oströmischen Reiches in erster Linie prosopographisch erforschen und diesen Zugriff für eine sozialgeschichtliche Analyse fruchtbar machen. Vor allem Einzelpersönlichkeiten und Familienverbände der Senatsaristokratie stehen im Fokus seiner Untersuchung. Der oströmische Senat als politisch agierende Körperschaft tritt eher in den Hintergrund. Insbesondere in der sich anschließenden Definitionsfrage (S. 31–57), welche Personen überhaupt als Teil der Senatsaristokratie in die neu zu erarbeitende Prosopographie aufzunehmen sind, ist die Senatsmitgliedschaft ein Kriterium, welches über die Rangstufen und die damit verbundenen Ämter und Würden noch weiter spezifiziert wird. Ausschließlich die viri illustres, die Inhaber der höchsten Rangstufe, die Stimmrecht und Sitz im Senat besaßen, finden nachfolgend Beachtung. Folglich konzentriert sich die Untersuchung auf die consules, patricii und praefecti sowie die höchsten Amtsträger am Hof und im Militär (S. 60f.).4 Eine solche Selektion könnte Kritik hervorrufen, zumal hierdurch nur die Spitze der Senatsaristokratie erfasst wird, zugleich aber machtpolitisch relevante Personengruppen wie etwa die Bischöfe und weitere einflussreiche Funktionäre am Hof keine Berücksichtigung finden. Letztlich erweist sich diese Beschränkung aber als sinnvoll, da andernfalls die prosopographische Erhebung und deren Auswertung wohl kaum zu bewältigen gewesen wäre.

Das Herzstück der Arbeit ist die Prosopographie der Senatsaristokratie. Diese nimmt fast die Hälfte der Monografie ein (S. 58–285) und verzeichnet insgesamt 248 Personen. Gegenüber dem zweiten Band der Prosopography of the Later Roman Empire (PLRE)5, der 1980 erschienen ist, bezieht Begass das neu hinzugekommene Quellenmaterial – insbesondere Inschriften und Papyri – ein. So fallen nicht nur einzelne Lemmata umfangreicher als in der PLRE aus, sie werden zum Teil auch erheblich korrigiert; Verbesserungen und Ergänzungen betreffen Nomenklatur, Lebensdaten und Ämterlaufbahn. Überdies werden von Begass 48 Einträge als „neu“ ausgewiesen. Tatsächlich waren 33 Personen bisher auch nicht in den Addenda und Corrigenda zur PLRE erfasst.6 Den Abschluss bilden die Fasti der illustren Ämter und Titel, die um zahlreiche Namen ergänzt werden konnten.

In der Auswertung ist es selbstverständlich schwer möglich, alle 248 Personen angemessen zu gewichten. Daher nähert sich Begass in Kapitel IV (S. 286–316) über vier Fallstudien der sozialgeschichtlichen Analyse des Materials an. Die Familie des isaurischen Militärs Fl. Illus (474–488), die Anthemii (474–479), die aus Ägypten stammenden Apionen (ca. 450–550) sowie die Familie der Anicia Iuliana und des Ariobindus (ca. 472–518/527) werden so detailliert untersucht. Begass hat sich hier wahre „Schwergewichte“ herausgesucht, betrachtet er doch Familien, die in den Quellen durchaus gut dokumentiert sind und mitunter über Jahrzehnte enormen politischen und gesellschaftlichen Einfluss ausgeübt haben. Im Hinterkopf ist zu behalten, dass es sich bei diesen Fällen allerdings um Ausnahmen handelt, die keineswegs die Regel bestätigen. Sowohl hinsichtlich der komfortablen Quellenlage als auch in Hinblick auf die beachtliche politische und gesellschaftliche Bedeutung nehmen diese vier senatorischen Familien eine besonders exponierte Stellung innerhalb der Senatsaristokratie ein. Sie stehen damit eher nicht exemplarisch für den „Normalfall“.

Das abschließende Kapitel V (S. 384–477) stellt eine bemerkenswerte Synthese aus der prosopographischen Erhebung und der sozialgeschichtlichen Analyse dar. Die Herkunft, Bildung, Konfession der Senatoren, ihre Nähe zum Kaiser und die kaiserliche Vergabepraxis sowie die ökonomischen Grundlagen werden analysiert. Gestützt auf die erarbeitete Prosopographie entwickelt Begass ein Panorama der Senatsaristokratie, welches durchaus zahlreiche neue Erkenntnisse und interessante Überlegungen umfasst. Zugleich muss aber auch in diesem Kapitel bezüglich generalisierender Aussagen zur Vorsicht gemahnt werden. Hier sei exemplarisch auf die konfessionelle „Flexibilität“ (S. 413) verwiesen, die Begass für einige Vertreter der Senatsaristokratie feststellt. So attraktiv diese Annahme auch erscheinen mag, ist doch zu berücksichtigen, dass sich für die Mehrheit der Senatsaristokratie diesbezüglich kaum eine verlässliche Aussage treffen lässt. Dasselbe gilt auch für die Herkunft. So ist es nahezu unmöglich, genau zu ermitteln, wie hoch der Anteil von Provinzialen im Senat tatsächlich war. Ob ein „Großteil der Senatoren aus der Provinz kam“ (S. 479) und hierbei Kleinasien und Illyrien bevorzugte Rekrutierungsgebiete darstellten, bleibt schwer zu beurteilen. Zu oft ist die Kenntnis über die Herkunft einzelner Vertreter der Senatsaristokratie vom Zufall der Überlieferung abhängig, die sehr lückenhaft ist. Interessant wäre gewiss auch eine systematische Betrachtung der Übersiedlung weströmischer Senatoren in den Osten und deren Verbindungen in den Westen gewesen. Hierauf geht Begass aber nur kurz im Zusammenhang mit Anicia Iuliana ein (S. 353f.), ohne dabei zu fragen, ob diese senatorische Gruppe von weströmischen Exilanten – sofern sich eine solche fassen lässt – die Politik der Kaiser gegenüber dem Westen, Rom und dem Papst beeinflusste.

Am Ende legt der Autor nicht nur eine neu überarbeitete Prosopographie der Senatsaristokratie des oströmischen Reiches in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts vor, was für sich schon ein wissenschaftlicher Zugewinn ist. Entstanden ist überdies eine spannende und facettenreiche Sozialgeschichte der oströmischen Senatsaristokratie, die sowohl in ihrer Methodik als auch in ihren Ergebnissen – gerade auch weil sie mitunter stark zur Diskussion anregen – inspiriert. Die Verbindung von prosopographischer Erhebung und sozialgeschichtlicher Studie erweist sich hier als äußerst fruchtbar.

Anmerkungen:
1 Z.B. Henrik Löhken, Ordines dignitatum. Untersuchungen zur formalen Konstituierung der spätantiken Führungsschicht, Köln 1982; Christoph Schäfer, Der weströmische Senat als Träger antiker Kontinuität unter den Ostgotenkönigen (490–540 n. Chr.), St. Katharinen 1991; Beat Näf, Senatorisches Standesbewusstsein in spätrömischer Zeit, Freiburg i.S. 1995; Dirk Schlinkert, Ordo senatorius und nobilitas. Die Konstitution des Senatsadels in der Spätantike. Mit einem Appendix über den praepositus sacri cubiculi, den „allmächtigen“ Eunuchen am kaiserlichen Hof, Stuttgart 1996; Dirk Henning, Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5–493 n. Chr., Stuttgart 1999.
2 Otto Adolf Ellissen, Der Senat im oströmischen Reich, Göttingen 1888; Hans-Georg Beck, Senat und Volk von Konstantinopel, München 1966; Gilbert Dagron, Naissance d’une capitale. Constantinople et ses institutions da 330 à 451, Paris 1974.
3 Gereon Siebigs, Kaiser Leo. Das oströmische Reich in den ersten drei Jahren seiner Regierung (457–460 n. Chr.), Berlin 2010; Peter Crawford, The Roman Emperor Zeno. The Perils of Power Politics in Fifth-Century Constantinople, Barnsley 2019; Rafał Kosiński, The Emperor Zeno. Religion and Politics, Cracovie 2010; Fiona Kathryn Haarer, Anastasius. Politics and Empire in the Late Roman World, Cambridge 2006; Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches, Stuttgart 2010. Allgemein: Rene Pfeilschifter, Der Kaiser und Konstantinopel. Kommunikation und Konfliktaustrag in einer spätantiken Metropole, Berlin 2013, bes. S. 452–510 zur „Elite“.
4 An dieser juristischen Definition (Rangklassen) orientieren sich jüngst auch wieder Adolfo La Rocca / Fabrizio Oppedisano, Il senato romano nell’Italia ostrogota, Rom 2016, S. 11–54; eine offenere Definition vertritt etwa Stefan Rebenich, ‚Pars melior humani generis‘ – Aristokratie(n) in der Spätantike, in: Hans Beck / Peter Scholz / Uwe Walter (Hrsg.), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und „edler“ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, München 2008, S. 153–176.
5 John Robert Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire, Bd. 2: A.D. 395–527, Cambridge 1980.
6 Barry Baldwin, Some Addenda to the Prosopography of the Later Roman Empire, in: Historia 25 (1976), S. 118–121; fortgesetzt ders., in: Historia 31 (1982), S. 97–111; Ralph Mathisen, PLRE II. Suggested Addenda and Corrigenda, in: Historia 31 (1982), S. 364–386; ders., Ten Office-Holders. A Few Addenda and Corrigenda to PLRE, in: Historia 35 (1986), S. 125–127; ders., Some Hagiographical Addenda to P.L.R.E., in: Historia 36 (1987), S. 448–461; ders., Forty-three Missing Patricians, in: Byzantinische Forschungen 15 (1990), S. 87–99; Avshalom Laniado, Some Addenda to the „Prosopography of the Later Roman Empire“ (vol. 2: 395–527), in: Historia 44 (1995), S. 121–128.

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