Cover
Titel
Die Konsumentenstadt. Konsumenten in der Stadt des Mittelalters


Herausgeber
Selzer, Stephan
Reihe
Städteforschung. Reihe A: Darstellungen 98
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carla Meyer-Schlenkrich, Historisches Institut, Universität zu Köln

„Produktionsstadt“ versus „Konsumtionsstadt“! In seinem Hauptwerk „Der moderne Kapitalismus“ unterschied der Soziologe und Wirtschaftshistoriker Werner Sombart im frühen 20. Jahrhundert aus ökonomischer Perspektive zwischen Städten, deren Bewohner ihren Lebensunterhalt mit eigenen Produkten bezahlen, und einem zweiten Typus, der das „nicht nötig hat“. In einer solchen Stadt beziehe man die für den Unterhalt notwendigen, das heißt vorrangig die agrarischen Güter „auf Grund irgendeines Rechtstitels (Steuer, Rente oder dergleichen) ohne Gegenwerte leisten zu müssen.“ Die „Konsumtionsstadt“ Sombartscher Prägung definiert also, dass in solchen Städten die Konsumenten als die eigentlichen „Städtebildner“ fungierten, die Produzenten dagegen nur als „Städtefüller“ zu qualifizieren seien.1

„Konsumenten“ als „Städtebildner“! Im frühen 21. Jahrhundert, in denen die Konsumgeschichte von Westeuropa angestoßen auch im deutschsprachigen Bereich immer mehr Aufmerksamkeit findet (siehe S. 15f. mit Anm. 30), schlägt Stephan Selzer in seiner Einleitung zum hier zu besprechenden Tagungsband2 vor, Sombarts Idealtypen und seinen Begriffsapparat für die aktuelle mediävistische Stadtgeschichtsschreibung neu auszutesten. Diese Idee scheint dem allgemeinen Trend in den letzten Jahren und Jahrzehnten verpflichtet, Stadtgeschichte nicht mehr nur als Historie der großen Reichs- und Freien Städte zu begreifen, sondern den vielgestaltigen, weit ausgreifenden Urbanisierungsprozess durch kleinere bis kleinste Städte in den Fokus zu rücken.3 Angesichts dieser Neuausrichtung aber lohnt es sich zweifellos zu hinterfragen, inwiefern solchen Städten ein Modellcharakter zukommen kann, die weder über ein starkes Exportgewerbe noch einen nennenswerten Fernhandel verfügten, sondern – so Selzer – „wichtige Entwicklungsimpulse aus der Konsumtätigkeit einzelner Personen oder Institutionen bzw. Konsumentengruppen schöpften“ (S. 16).

Die ersten beiden Aufsätze des Sammelbandes dienen der methodisch-theoretischen Vergewisserung: Der Wissenschaftshistoriker und Sombart-Biograph Friedrich Lenger hat zur Aufgabe, Sombarts „Städtetheorie“ in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien näher zu entfalten, in einen Zusammenhang mit ähnlichen Überlegungen seiner Zeitgenossen Max Weber und Karl Bücher zu rücken und die ältere, „nicht selten beckmesserisch[e]“ fachhistorische Kritik gerade in der Mediävistik zu resümieren (S. 37). Der Althistoriker Volker Grieb zeichnet die demgegenüber breite und positive, ja geradezu unkritische Rezeption der „Konsumentenstadt“ als Idealtypus der antiken Stadt schlechthin bis hinein in die neuere altertumswissenschaftliche Forschung nach, obwohl Detailstudien zur Wirtschaft einzelner Städte und Regionen wie vor allem die umfangreichen archäologischen Feldforschungen seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts seines Erachtens längst ein anderes Bild nahelegen. Griebs Überlegungen mahnen daher zur Vorsicht, sind aber nicht als generelle Ablehnung der Sombartschen Typologie, sondern eher als Aufruf zur Differenzierung zu lesen.

Zu welchen Ergebnissen aber kommen, zu welchen Problemen führen die Fallstudien zu den mittelalterlichen „Konsumentenstädten“, die der Herausgeber Stephan Selzer mit dem Tagungsprojekt anregte? Vier Autoren des Bandes waren aufgefordert, „Großkonsumenten“ und ihren Einfluss auf die „Stadtbildung“ zu untersuchen: Frank G. Hirschmann stellt die Bischöfe Notger und Heimo, flankiert vom erfolgreichen Reformabt Richard von St. Vanny, als Protagonisten eines beeindruckenden „Baubooms“ und „Konjunkturprogramms“ in den benachbarten Städten Lüttich und Verdun um das Jahr 1000 vor. Gerrit Deutschländer nimmt Abteien als „städtebildende“ Akteure vor- bzw. frühstädtischer Siedlungen im Landesinnern Irlands in den Blick, noch bevor die Wikinger und Anglo-Normannen ab dem 11. Jahrhundert die irischen Küsten nachhaltig urbanisierten. Sven Rabeler analysiert am Beispiel des norddeutschen Raums im 12. und 13. Jahrhundert sowohl klösterliche Marktsiedlungen wie Höxter, Gandersheim oder Oldenstadt als auch fürstliche „Gründungsstädte“ wie Frankfurt an der Oder auf die Frage hin, welche Bedeutung der „konsumorientierte“ Nahmarkt in den Quellen zu ihrer Frühgeschichte spielt. Arnold Esch schöpft aus der immensen Informationsfülle der für 1445 bis 1485 fast vollständig erhaltenen römischen Zollregister eine faszinierende Darstellung der päpstlichen Kapitale als Konsumentenstadt, die Gebrauchs- wie Luxusgüter eben nicht nur aus einem umliegenden Territorium, sondern aus der ganzen Christenheit bezog.

Vier weitere Beiträge des Bandes nehmen statt „des einen mächtigen […] die geballte Kaufkraft vieler Konsumenten“ (S. 19) in den Blick: Joachim Schneider fragt nach der Käufergruppe des Niederadels auf den spätmittelalterlichen städtischen Märkten, im Alltag ebenso wie bei Ausnahmeereignissen, etwa dem Turnier in Würzburg 1474, als die Stadt mit geschätzt 7000 Einwohnern rund 5200 Gäste und deren Pferde beherbergte. Karsten Igel richtet den Fokus auf die Vielzahl geistlicher Institutionen, die – sowohl innerhalb wie außerhalb der Stadtmauern gelegen – als Marktakteure die städtische Wirtschaft beeinflussten. Besonders anschaulich ist sein Versuch, die bislang nur aus dem Blickwinkel einzelner Klöster und Stifte beschriebene ökonomische Potenz am Beispiel Osnabrücks zu einem Panorama ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für die westfälische Kathedralstadt zusammen zu führen. Enno Bünz und Alexander Sembdner fragen am Beispiel Leipzig nach dem Wirtschaftsfaktor, den mittelalterliche Universitätsgründungen für die sie nutrierenden Städte bedeuteten: Anders als heute gingen Konjunkturimpulse dabei kaum von der Gesamtuniversität oder dem Rektorat aus, sondern jeder einzelne Bursenmagister wirtschaftete autonom; dazu kam die Kaufkraft der Studenten, deren Zahl für Leipzig seit der Gründung 1409 bis 1539 auf immerhin über 39.000 Immatrikulationen beziffert werden kann (S. 189). Uwe Schirmer schließlich fragt nicht nach einer „Konsumentenstadt“, sondern mit dem obersächsischen Erzgebirge nach einer „Konsumentenregion“. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der durch Erzfunde ausgelöste massive Zuzug dorthin, der das landschaftlich karge Bergbaurevier am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert abhängig von äußeren Lieferungen sowohl von Werkstoffen als auch von Nahrungsmitteln für die wachsende Bevölkerung machte.

Am Schluss des Bandes sind zwei Aufsätze platziert, die keine Fallstudien im engeren Sinn bieten, sondern zwei für die aufgeworfenen Themen zentrale Quellengruppen vorstellen: Edgar Ring präsentiert am Beispiel Lüneburger Latrinenfunde das archäologische Fundgut, Gudrun Gleba (die einzige Autorin!) führt in die mittelalterliche Rechnungsüberlieferung und ihre inzwischen vielfältige, interdisziplinäre Erforschung ein. Beide scheinen ihre Ausführungen freilich lediglich als im Wortsinn „hilfswissenschaftliche“ Beiträge zu verstehen, zur Antwort auf die in der Einleitung gestellten Leitfragen suchen sie nichts beizutragen. Und auch in den ihnen vorangehenden Aufsätzen ist der Bezug auf das eingangs skizzierte Forschungsprogramm sehr unterschiedlich stark ausgeprägt.

Symptomatisch scheint das Ergebnis, dass Erkenntnisse über die städtebildnerische Kraft der Konsumtion angesichts der dünnen Überlieferung nicht nur für die Frühzeit stark beschränkt bleiben, wie Deutschländer für die irischen Abteistädte konstatiert (S. 83 und 85). Auch für das späte Mittelalter ist sie höchstens qualitativ an Einzelbelegen zu beschreiben, kaum aber quantitativ zu fassen, so resümieren übereinstimmend Schneider über die niederadligen (S. 153), Bünz und Sembdner über die studentischen (S. 223) und Igel über die kirchlichen Käufergruppen (S. 178).

Schwer zu bestimmen oder schlicht unthematisiert bleibt am Ende daher in der Mehrzahl der hier vorgestellten Fallbeispiele, ob sie in Abgrenzung zu von Fernhandel und Gewerbe dominierten Städten richtig als „Konsumentenstädte“ einzuschätzen wären. Folgt man Sven Rabeler, der sich dieser Frage in seinem Beitrag stellt, so kommt es aber vielleicht gar nicht darauf an, Produktion oder Konsumption bzw. – wie in seinen Überlegungen – Fernhandel oder konsumorientierten Nahmarkt als ausschlaggebenden Faktor mittelalterlicher Stadtgenese zu erweisen. Für die norddeutschen Städte des 12. und 13. Jahrhunderts ist es seines Erachtens ein Fortschritt, die Marktmacht der großen wie kleinen Konsumenten aus dem Umland und damit die wirtschaftliche Potenz des Nahmarkts nicht länger zu übersehen – und das nicht nur in „Konsumentenstädten“, sondern sogar in ausgewiesenen Fernhandelsmetropolen wie Lübeck (S. 114f.).

Anmerkungen:
1 Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 1: Einleitung – Die vorkapitalistische Wirtschaft – Die historischen Grundlagen des modernen Kapitalismus, Halbband 1, München u.a., 3. Aufl. 1919, S. 142f. Siehe dazu im zu rezensierenden Sammelband die Einleitung von Selzer, S. 13, mit Anm. 12.
2 Die Aufsätze des Bandes basieren auf den Vorträgen, die auf der gleichnamigen Tagung am 16. und 17. März 2015 in Münster gehalten wurden, vgl. Sebastian Schröder, Tagungsbericht: Die Konsumentenstadt – Konsumenten in der Stadt des Mittelalters, 16.03.2015 – 17.03.2015 Münster, in: H-Soz-Kult, 24.06.2015, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6040 (13.06.2019).
3 Siehe dazu pointiert etwa Gabriel Zeilinger, Verhandelte Stadt: Herrschaft und Gemeinde in der frühen Urbanisierung des Oberelsass vom 12. bis 14. Jahrhundert, Mittelalter-Forschungen, 60, Ostfildern 2018.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch