M. Prak: Citizens without Nations

Cover
Titel
Citizens without Nations. Urban Citizenship in Europe and the World, c.1000–1789


Autor(en)
Prak, Maarten
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 423 S.
Preis
€ 32,86
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Schwerhoff, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

800 Jahre vormodernes Bürgertum in Europa und rund um den Globus – das im Titel angekündigte Programm könnte ambitionierter kaum sein. Wie soll es auf rund 300 Textseiten bewältigt werden, so die naheliegende Frage angesichts einer überwältigenden Varianzbreite bürgerlichen Lebens, die jedes einzelne Stadtbürgertum als einen spezifischen Sonderfall erscheinen lässt? Wie die komplexen Forschungsdiskurse für die verschiedensten Regionen und Aspekte verarbeiten?1 Gerade um diese Fülle zu bändigen und typisierend zu ordnen, so ließe sich dieser Skepsis entgegenhalten, bedarf es eines synthetisierenden Blicks aus der Vogelperspektive. Und es bedarf eines geschichtswissenschaftlichen Autors, dessen notwendige Zuspitzungen das vormoderne Stadtbürgertum nicht anachronistisch verzeichnen. Der Utrechter Sozialhistoriker Maarten Prak ist für diese Aufgabe bestens gerüstet; er beschäftigt sich seit langem mit dem Themenfeld und überblickt neben der niederländischen und der englischsprachigen auch die französisch- und die deutschsprachige Forschung.

Zu beachten ist allerdings, dass der Autor kein abgewogenes Einführungswerk in die Geschichte des vormodernen Bürgertums – eben der „Bürger ohne (bzw. vor dem) Nationalstaat“ – vorlegen will, auch wenn man mit ein wenig Vorkenntnis große Abschnitte seines Buches mit Gewinn als solche nutzen kann. Er verfolgt damit vielmehr eine dezidierte These, indem er eine erhebliche Relevanz der städtischen Bürgerschaft für moderne politische und soziale Leitwerte reklamiert: „I hope to demonstrate that […] premodern urban citizenship actually has quite an impressive track record when it comes to political freedom, social equality and inclusiveness; or, to phrase it in the terms of 1789, of liberté, égalité, fraternité.“ (S. 3) Er schließt damit an Tendenzen in der gegenwärtigen Historiographie an, die den Beitrag mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Strukturelemente zur Entwicklung der modernen civil society herausstreichen, etwa der Zünfte (Bert de Munck) oder vormoderner Haushaltsstrukturen (Katherine Lynch).2

Prak selbst benutzt den Begriff der Zivilgesellschaft allerdings kaum; sein vieldeutiger Schlüsselbegriff ist vielmehr citizenship, womit er ebenfalls an gegenwartsbezogene Diskurse in den Politik- und Sozialwissenschaften anknüpft.3 Damit kann zum einen das städtische Bürgerrecht gemeint sein, das Max Weber einst als einen wichtigen Faktor für die Eigen- und Einzigartigkeit der okzidentalen Entwicklung, ja der europäischen Dominanz im globalen Maßstab ausgemacht hatte. Genau davon setzt sich Prak jedoch dezidiert ab und vertritt ein weiteres Konzept von citizenship im Sinne des Bürgerseins als einer Form von Partizipation an der städtischen Lebenswelt, die zum Teil auch Menschen (bzw. meist: Männern) offenstand, die keinen formalen Bürgerstatus besaßen. Citizenship in diesem Sinne war also keineswegs eine bloße Honoratiorenveranstaltung, wie Prak kritisch mit Blick auf die Elitenfixierung eines großen Teils der Forschung anmerkt. Und es war zum anderen vielleicht auch viel weniger als Max Weber es seinerzeit meinte eine Spezialität des Okzidents – deshalb der Blick auch in andere Weltregionen. Indem er das Konzept citizenship von seinen juristischen und nationalen Fesseln lösen will (S. 298), verfolgt Prak – jedenfalls in der ersten Hälfte des Buches – einen praxeologischen Ansatz. Bürgertum wird so verstanden als „a set of practices rather than a formal institution“ (S. 300).

Konkret entfaltet das Buch sein Programm in drei großen, hinsichtlich Umfang und Zuschnitt sehr unterschiedlichen Sektionen. Der erste Teil ist gleich der längste Abschnitt des Buches. Er schreitet in fünf Kapiteln die wichtigsten „Dimensionen des Bürgerseins“ in europäischen Städten ab. Hier werden nacheinander behandelt: (a) der Rechtsstatus des Bürgers und die jeweiligen Zugangsmöglichkeiten sowie seine Rechte und Pflichten; (b) „urban governance“ und „urban republicanism“, mithin das politische System der vormodernen Stadt; (c) die ökonomische Dimension des Bürgerseins, insbesondere die Bedeutung der Zünfte und Gilden; (d) die städtischen Wohlfahrtsinstitutionen und die Armenfürsorge; schließlich (e) „civic militas“, also der Beitrag der Bürger zur Verteidigung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und ihr Recht, Waffen zu tragen. Geschickt verwebt Prak hier kurze Geschichten über Städte aus allen Teilen Europas mit verallgemeinernden Generalisierungen und, bisweilen, vorsichtigen Relativierungen. So entsteht ein lesbares, nicht allzu verkürzendes, aber doch pointiertes Gesamtbild über den Kern dessen, was vormodernes Bürgersein bei aller lokalen Unterschiedlichkeit im Kern ausmachte.

Im zweiten Hauptteil seines Buches justiert Prak seinen Fokus in mehrfacher Hinsicht neu. Erstens nimmt er in den vier folgenden Kapiteln eine räumlich begrenzte Perspektive ein, indem er regionale Konstellationen des Bürgertums in Italien, den Niederlanden und in England sowie in verschiedenen Gegenden Kontinentaleuropas betrachtet. Zweitens konzentriert er sich dabei besonders auf die Interaktion von städtischem Bürgertum und frühmoderner Staatlichkeit. Methodisch gibt er damit drittens die bisher eingenommene praxeologische Sichtweise zugunsten einer stärker strukturgeschichtlichen, auf die „harten“ sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fakten fokussierende Perspektive auf. Dass die italienischen Stadtstaaten, die hoch urbanisierten Niederlande und das früh von parlamentarischer Repräsentation geprägte England vergleichsweise ausführlich abgehandelt werden, hat seinen Grund: Sie stehen nach der Ansicht von Prak für eine erfolgreiche Synthese von Bürgertum und Staatlichkeit. „In Italian city-states, the city and the state overlapped to a large extent. In the Low Countries, cities dominated the federal institutions that determined national policies. In post-Reformation England, later Great Britain, a national Parliament included an increasing number of urban representatives.“ (S. 246) In den nur sehr kurz abgehandelten anderen Fällen europäischen Bürgertums sei die Koordination zwischen Bürgerschaft und Staat weniger gut gelungen, in Deutschland wegen der eigentümlich geteilten Staatlichkeit in Gestalt von Reich und Territorien, in Frankreich dagegen wegen des absolutistischen Durchgriffs auf die Städte.

Der dritte Teil des Buches, mit knapp 50 Seiten der kürzeste, weitet den Horizont ins Globale. Er thematisiert „Citizenship outside Europe“, konkret einmal als autochthone Erscheinung in Asien (in China und im Osmanischen Reich), zum anderen als Export europäischer Bürgerschaft in die spanischen und englischen Kolonien der Neuen Welt mit ihren jeweiligen Adaptionen. Für die asiatischen Fallbeispiele konstatiert Prak eine nachhaltige Revision der alten Bilder vom übermächtig-repressiven Staat und den schwachen lokalen Gewalten in der neueren Forschung. Die Zentralmächte seien schwächer, aber auch flexibler gewesen als früher angenommen; und sie seien stark auf die Kooperation lokaler städtisch-bürgerlicher Eliten angewiesen gewesen. So habe es dort durchaus starke bürgerlich-lokale Elemente im Sinne einer citizenship gegeben, auch starke Korporationen und eine dezentrale Armenfürsorge. Nur eine Ideologie des städtischen Republikanismus habe sich in Asien nicht herausgebildet.

In einem zweistufigen Resümee versucht Prak die Revision jenes alten historiographischen Klischees, demzufolge das vormoderne städtische Bürgertum am Ende des Ancien Régime insbesondere eine Innovationsbremse dargestellt und erst die Revolutionszeit um 1800 die Voraussetzung für eine entschiedene Modernisierung geschaffen habe. Zum einen akzentuiert er die zukunftsweisenden Aspekte der „Bürger ohne Nationen“ im Ganzen, versucht dabei aber auf engstem Raum die Modernisierungspfade der jeweiligen regionalen Varianten zu unterscheiden – ein allzu komprimierter und deswegen unbefriedigender Versuch. Zum anderen skizziert er kurz die Entwicklung „beyond the French Revolution“ und betont, dass die Beseitigung des urbanen Bürgertums des Ancien Régime in vielen Ländern keineswegs direkt zur Etablierung eines „modernen“ (Staats-) Bürgertums geführt habe, mithin vielfach vorübergehend ein gewisser Rückschritt zu konstatieren gewesen sei, etwa im Hinblick auf die Breite der politischen Partizipation. Umgekehrt betont er zuletzt die Implikationen seiner Überlegungen für die Zukunft – angesichts der gegenwärtigen Krise der national citizenship böte vielleicht eine zusätzliche urban citizenship auf lokaler Ebene einen attraktiven Handlungs- und Identifikationsrahmen für Europa.

Ein wenig erschöpft, aber sehr bereichert legt der Leser das dichte Werk aus der Hand. Es vermittelt eine große Fülle von Informationen und Betrachtungsweisen, regt ebenso zum Weiterdenken an wie zum Widerspruch. Zweifellos verdient der Autor hohen Respekt und vorbehaltlose Anerkennung. Trotzdem bleibt ein zwiespältiger Leseeindruck. Das liegt weniger an der Detailkritik, die angesichts des weitgespannten Zuschnitts des Buches fast unvermeidlich auf verschiedenen Ebenen geübt werden kann. Ob zum Beispiel die seit längerem bestehende Diagnose eines tendenziellen Ausschlusses des weiblichen Geschlechts aus den Zünften im Verlauf der Frühen Neuzeit zutrifft, scheint mir durchaus offener als von Prak konstatiert.4 Und seine Zusammenfassung des ohnehin knappen Abschnittes zum Stadtbürgertum im Reich, die der Unterscheidung zwischen Reichs- und Landstädten kaum gerecht wird (S. 238), kann den deutschen Stadthistoriker kaum zufriedenstellen. Aber das sind Quisquilien, die das imponierende Gesamtbild kaum trüben.

Gravierender ins Gewicht fallen meines Erachtens konzeptuelle Probleme. Prak will erkennbar zu viel auf einmal. Der praxeologisch angelegte Querschnitt durch die europäische Stadtgeschichte hätte es verdient, ausgebaut zu werden und für sich zu stehen. Die Kombination mit der Strukturgeschichte in den letzten beiden Teilen fällt weniger überzeugend aus, weil die Argumentation hier doch arg holzschnittartig gerät. Ist es wirklich überall entscheidend für das zukunftsweisende Potential des urbanen Bürgertums, inwiefern es sich auf staatlich-nationaler Ebene artikulieren und organisieren konnte? Und müsste, um dieses Argument wirklich systematisch stark zu machen, nicht der historische Entwicklungspfad über die Sattelzeit um 1800 hinweg verfolgt werden? Genau das hat ja die deutsche Bürgertumsforschung vor allem Frankfurter, aber auch Bielefelder Prägung intensiv diskutiert, deren Erträge Prak weitgehend ausgeblendet hat.5 Das gegenwartsbezogene Potential einer „citizenship beyond nations“ schließlich bleibt ein bloßes Postulat und wird nicht weiter ausgeführt – vielleicht ein lohnender Gegenstand für einen auf Breitenwirkung zielenden, längeren Essay?

So birgt das vorliegende Werk Material und Narrative für mindestens drei Bücher ganz unterschiedlichen Zuschnitts. Aber auch wenn die Gesamtkonzeption nicht vollständig zu überzeugen vermag, bleibt sein Anregungspotential für die Stadt- und Bürgertumsforschung erheblich.

Anmerkungen:
1 Vgl. für die deutschsprachige Forschung zuletzt Gerd Schwerhoff, Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn – eine Standortbestimmung, in: Julia A. Schmidt-Funke / Matthias Schnettger (Hrsg), Neue Stadtgeschichte(n). Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich, Bielefeld 2018, S. 11–40.
2 Maarten F. Van Dijck / Bert De Munck / Nicholas Terpstra, Relocating Civil Society. Theories and Practices of Civil Society between Late Medieval and Modern Society, in: Social Science History 41 (2017), S. 1–17.
3 Vgl. z. B. das Journal „Citizenship Studies“ (https://www.tandfonline.com/toc/ccst20/current), herausgegeben von Engin Isin, dessen Buch Citizens Without Frontiers (London 2012) erkennbar den Titel des vorliegenden Buches inspiriert hat und das vom gegenwärtigen Bürgersein jenseits der nationalstaatlichen Grenzen handelt.
4 Vgl. die Darstellung Praks auf S. 103f. mit der neueren Arbeit von Muriel González Athenas, Kölner Zunfthandwerkerinnen 1650-1750. Arbeit und Geschlecht, Kassel 2014, die er zwar zitiert, deren Schlussfolgerungen er aber offenbar nicht teilt.
5 Vgl. Lothar Gall (Hrsg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993; Peter Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997), Göttingen 2000.

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