Cover
Titel
Hermann Röchling 1872–1955. Ein deutscher Großindustrieller zwischen Wirtschaft und Politik. Facetten eines Lebens in bewegter Zeit


Autor(en)
von Hippel, Wolfgang
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
1.086 S., 34 Abb., 8 Tab.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Möhler, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Das Saarland kann zeithistorisch betrachtet als eine „verspätete“ deutsche Region bezeichnet werden: Erst nach dem Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag als Verwaltungseinheit „Saarbeckengebiet“ definiert und unter Völkerbundsherrschaft gestellt, vollzog sich der Aufstieg der NSDAP zu einer ernstzunehmenden Partei in dieser „katholisch-proletarischen Provinz“ (Gerhard Paul) nur mit großer Verzögerung, begann die nationalsozialistische Herrschaft erst mit dem 1. März 1935, trat das seitdem als „Saarland“ bezeichnete Gebiet erst zum Jahresbeginn 1957 der Bundesrepublik Deutschland bei und erst 1958, acht Jahre nach den vergleichbaren Richtlinien des Bundestages, wurde ein Gesetz zum „Abschluss der Maßnahmen zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus“ verkündet. Während sich der Verlauf der zeithistorischen Erforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig von der allgemeinen bundesdeutschen Landesgeschichtsschreibung unterscheidet, brach erst vor etwa zehn Jahren ein regionaler „Historikerstreit“ um die Bewertung einzelner NS-belasteter saarländischer Persönlichkeiten aus.1

Im Zentrum dieser erinnerungspolitischen, stark emotionalen Debatte steht seitdem neben den ehemaligen Ministerpräsidenten Heinrich Welsch und Franz-Josef Röder vor allem der Saarindustrielle Hermann Röchling (1872–1955), der wie kein anderer die Spezifika der saarländischen Zeitgeschichte als die einer deutsch-französischen Grenzregion im Zeitalter der Weltkriege verkörpert – allein seine zweimalige Verurteilung durch französische Militärgerichte als „Kriegsverbrecher“ nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg dürfte ein Unikum sein. Seine extrem gegensätzlichen Beurteilungen reichen von „reaktionärer Kapitalist“, „Hitler-Freund“ und „Annexionsimperialist“ bis hin zu einer heute noch vor Ort in Völklingen spürbaren Verehrung als sozial engagierter Unternehmer, innovativer Techniker und jahrzehntelang erfolgreicher Arbeitgeber und Geschäftsführer der Röchling’schen Eisen- und Stahlwerke GmbH. Der von ihm in der NS-Zeit für „seine“ Arbeiter initiierte Siedlungsbau im Stadtteil Bous hatte anlässlich seines 70. Geburtstags 1942 den Namen „Hermann-Röchling-Siedlung“ erhalten, war 1945 in „Bouser Höhe“ entnazifiziert worden, um ein Jahr nach der zweiten Saarabstimmung vom 23. Oktober 1955 erneut in „Hermann-Röchling-Höhe“ umbenannt zu werden. Nach einer heftigen Debatte einigte sich der Völklinger Stadtrat 2013 auf den leicht geänderten Namen „Röchling-Höhe“ – ein Ende des Streits ist auch heute noch nicht in Sicht.2

Mit dem monumentalen Werk von Wolfgang von Hippel liegt jetzt, über 60 Jahre nach dem Tode Hermann Röchlings am 24. August 1955, die erste ausführliche wissenschaftliche Biografie zu seiner Person vor. Bei einem Umfang von über 1.000 Seiten, 3.560 Fußnoten, 18 Seiten Literaturverzeichnis und einer fünf Seiten umfassenden Zeittafel – das Ganze fast zwei Kilogramm schwer – liegt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um eine abschließende, alles umfassende Untersuchung zu Röchlings Leben und Wirken handele. Bereits der vom Autor gewählte Untertitel „Facetten eines Lebens“ deutet jedoch an, dass von Hippel dieser Erwartung von Anfang an entgegentreten will. Der Hauptgrund für die angesichts der historischen Bedeutung der Person doch erst sehr späte Inangriffnahme einer biographischen Erforschung und die sympathisch bescheidene Selbsteinschätzung des Autors liegt in der Quellenlage: Zwar stand ihm als erstem unabhängigen Historiker überhaupt das gesamte Familien- und Unternehmensarchiv der Firma Röchling in der Mannheimer Hauptverwaltung offen, das er, nachdem er es zunächst archivalisch verzeichnen und ordnen musste, uneingeschränkt auswerten konnte; das Archiv ist jedoch lückenhaft, da Röchling in den letzten Kriegswochen eine umfangreiche Aktenvernichtung von ihn kompromittierenden Unterlagen durchführen ließ. Ebenfalls im Mannheimer Familien- und Unternehmensarchiv vorhanden sind als Depositum die Unterlagen des 2004 verstorbenen Rechtsanwalts Otto Kranzbühler, der Röchling im Rastatter Kriegsverbrecherprozess 1948/49 verteidigte und danach die Gnadenkampagne organisierte. Für den Leser unklar bleibt der genaue Umfang der weiteren Archivarbeit von Hippels; ausdrücklich erwähnt wird von ihm nur das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes. Die französischen staatlichen Archive, die für dieses Thema von zentraler Bedeutung sind, wurden von ihm nicht konsultiert; der problemlose Zugang zu allen Unterlagen zum Zweiten Weltkrieg, von Premierminister Manuel Valls am 24. Dezember 2015 verkündet, war allerdings für seine Forschungsarbeit zu spät erfolgt.3

Von Hippels biographische Untersuchung ist eine Auftragsarbeit der Firma Röchling. Im Gegensatz zur älteren Darstellung von Gerhard Seibold, der vor allem für den familieninternen Gebrauch ein hagiographisches Bild „der Röchlings“ zeichnete, ist sich von Hippel stets seiner Verantwortung als kritischer, unabhängiger Historiker bewusst gewesen, der sich aber eine solche Gelegenheit, ein bislang und wohl auch weiterhin der Öffentlichkeit verschlossenes Archiv auswerten zu können, nicht entgehen lassen wollte.4 Dieser privilegierte Aktenzugang veranlasste ihn, in seine Darstellung umfangreiche Quellenzitate einzubauen und die zu Recht berühmt-berüchtigte Denkschrift Röchlings vom August 1936, „Gedanken über die Vorbereitung zum Kriege und seine Durchführung“ (S. 412–417), komplett abzudrucken; sein Buch soll erklärtermaßen auch den Charakter einer „quellenmäßig überprüfbare[n] Dokumentation“ (S. 15) haben.

Von Hippel gliedert seine Darstellung in 21 Kapitel, die von sehr unterschiedlichem Umfang sind: Einzelne umfassen weniger als zehn Seiten (zum Beispiel das Kapitel XVI zu den Rüstungsprojekten „Röchling-Granate“ und der Wunderwaffe V3-„Hochdruckpumpe“), mehrere zwischen 50 und 80 Seiten; das ausführlichste Kapitel IV zum Saarkampf in der Völkerbundszeit umfasst dagegen über 130 Seiten. Die Gliederung ist überwiegend biographisch-chronologisch, zum Teil aber auch thematisch (die Kapitel XII bis XVII widmen sich Themen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges); es ist zu vermuten, dass von Hippel die archivalische Ordnung auch seiner Darstellung zugrunde legte. Die Untersuchung schließt mit einer ausführlichen Betrachtung des „Lebensabends“ im Kriegsverbrechergefängnis in Wittlich, der erfolgreichen Gnadenkampagne, die zur vorzeitigen Freilassung im August 1951 führte, sowie einem resümierenden Kapitel über „Hermann Röchling im Urteil von Mit- und Nachwelt“, das auch etwas versteckt von Hippels Fazit (S. 1.022–1.027) enthält. Das Buch ist durchweg gut lesbar geschrieben, zuweilen sehr detailfreudig, vereinzelt auch mit Wiederholungen im Text. Im Großen und Ganzen gibt es jedoch nur wenig Kritisches zu vermerken: Bei einzelnen Themen ist die Literaturgrundlage etwas dünn beziehungsweise einseitig, wenn von Hippel zum Beispiel beim Röchling-Prozess nach dem Ersten Weltkrieg vor allem auf Röchling selbst und die zeitgenössische Schrift des Verteidigers seines Bruders Robert, Friedrich Grimm, einem völkisch-rechtsextremen Juristen, verweist; störend wirken auch die in wissenschaftlichen Texten unüblichen Verweise auf Wikipedia-Seiten.

Wolfgang von Hippel ist es gelungen, eine informative, distanziert-kritische, um ein ausgewogenes Urteil bemühte Biographie zu schreiben. Hermann Röchling war zeitlebens eine Unternehmerpersönlichkeit, die es verstand (oder zumindest versuchte), das wirtschaftliche Wohlergehen seines Familienunternehmens mit betont deutsch-nationalen politischen Aktivitäten zu verbinden. Zu seiner Zeit bedeutete dies, dass er sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg versuchte, mit militärischer Rückendeckung den Einflussbereich seines Unternehmens weit in den lothringischen Raum zu erweitern, und dass er in der Völkerbundszeit zum wichtigsten Vorkämpfer für die Rückkehr des Saargebietes zum Deutschen Reich wurde. Mit dem Regierungsantritt Hitlers wandelte er sich umgehend zu einem glühenden Verehrer des Führers, den er unaufgefordert mit Briefen und Denkschriften versorgte, deren antisemitische Sprache und Inhalt sich nicht von nationalsozialistischer Propaganda unterscheiden. Darüber hinaus profilierte sich Röchling gegenüber Rüstungsminister Speer mit Vorschlägen zur besseren Ausbeutung der Arbeitskräfte in den besetzten Ländern („Nutzbarmachung der Menschenreserven in den besetzten Gebieten“) und unterhielt für sein Völklinger Werk ein eigenes Arbeitserziehungslager in Etzenhofen, in dem Zwangsarbeiter unter menschenunwürdigen Bedingungen zur „deutschen Arbeit“ umerzogen und misshandelt wurden. Charakteristisch für von Hippels Urteil ist hier sein Hinweis, dass Etzenhofen zwar das einzige derartige Arbeitserziehungslager im Saarland war, andere Unternehmen ihre „delinquenten“ ausländischen Arbeitskräfte jedoch in das Saarbrücker Gestapolager „Neue Bremm“ einweisen ließen, in dem weit schlimmere Zustände herrschten (S. 779).

Seit Beginn des Zweiten Weltkrieges häufte Hermann Röchling neben seinen Führungspositionen im Röchling’schen Firmengeflecht sowie 16 Mitgliedschaften in Aufsichtsräten eine Fülle von Ämtern im wirtschaftspolitischen Bereich an. Die wichtigsten waren der Vorsitz in der Reichsvereinigung Eisen und das Amt des Reichsbeauftragten für Eisen und Stahl in den besetzten Gebieten. Reichsminister Speer würdigte seine Verdienste für die nationalsozialistische Rüstungswirtschaft noch im Dezember 1944 mit der persönlichen Verleihung des „Ritterkreuzes des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern“. Von Hippel zählt außerdem noch weitere 33 Ehrenämter, Orden und Ehrenzeichen auf, die Röchling bis Kriegsende ansammelte. Und trotzdem musste auch Röchling erfahren, dass er im NS-Staat mit anderen Mächtigen um Einfluss und Führernähe konkurrierte: Anfangs war dies der „rote Gauleiter“ Josef Bürckel, der ihm im Streit um die Saarbrücker Casino-Gesellschaft, eine traditionelle Begegnungsstätte des gehobenen Bürgertums, die neuen Machtverhältnisse darlegte; nach Kriegsausbruch waren dies vor allem der Reichsminister Hermann Göring und die Vertreter der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie, die ebenfalls versuchten, in den Besitz der lothringischen Gruben und Werke zu gelangen.

Von Hippels Buch bietet eine immense Fülle von Informationen zu Hermann Röchlings Leben und Wirken, die weit über „Facetten eines Lebens in bewegter Zeit“ hinausgehen, und wird auf Jahrzehnte ein Standardwerk nicht nur zu dessen Person, sondern auch zur saarländischen Zeitgeschichte sein. Es zeichnet das Bild einer politisch äußerst stark engagierten Unternehmerpersönlichkeit, die zugunsten des Familienunternehmens und der Nation bereit war, „Kriegsverbrechen“ zu begehen, sich seit 1933 zu einem glühenden Hitler-Verehrer und radikalen Antisemiten entwickelte und sich bis zuletzt mit aller Energie dafür einsetzte, den nationalsozialistischen „Endsieg“ zu ermöglichen. Ohne solche mächtigen und einflussreichen Persönlichkeiten wie Hermann Röchling wäre es dem NS-Staat nicht möglich gewesen, seinem zentralen Ziel der Vernichtung des europäischen Judentums so nahe zu kommen. Eine angemessene historische „Würdigung“ seiner Person im öffentlichen Leben des Saarlandes steht noch aus.

Anmerkungen:
1 Gerhard Paul, Die NSDAP des Saargebietes. Der verspätete Aufstieg der NSDAP in der katholisch-proletarischen Provinz, Saarbrücken 1987. Einen Einstieg in den neueren Forschungsstand bietet: Hans-Christian Herrmann / Ruth Bauer (Hrsg.), Widerstand, Repression und Verfolgung. Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus an der Saar, St. Ingbert 2014. Typisch für Form und Inhalt des „saarländischen Historikerstreits“ ist die Ausgabe 117/118 der Saarbrücker Hefte 2018.
2 Knappe biografische Informationen zu Röchling bieten u. a.: Ralf Banken, Art. „Röchling, Hermann“, in: NDB 21 (2003), S. 705f.; Hans-Christian Herrmann, Hitlers willige Helfer – ein saarländischer „Held“. Der Völklinger Stahlindustrielle Hermann Röchling als Nazi-Größe und Wortführer seiner Landsleute, in: saargeschichten 3 (2012), S. 4–11. Neueren Forschungsstand bieten die beiden von Meinrad Maria Grewenig herausgegebenen Sammelwerke: Die Röchlings und die Völklinger Hütte [Katalog zur Ausstellung], Völklingen 2014 und: Internationale Wissenschaftliche Konferenz. Die Röchlings und die Völklinger Hütte, Völklingen 2016.
3 „Arrêté ministériel portant ouverture d'archives relatives à la Seconde Guerre mondiale“ vom 24.12.2015, abgedruckt in: Journal officiel, 27.12.2015, https://francearchives.fr/fr/actualite/440,55# (24.05.2019).
4 Gerhard Seibold, Röchling. Kontinuität und Wandel, Stuttgart 2001. Auf der Website der Röchling-Gruppe finden sich keinerlei Hinweise auf das Archiv: https://www.roechling.com/de/roechling-gruppe/historie (24.05.2019).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch