G. Enderle-Burcel u.a. (Hrsg.): Antisemitismus in Österreich 1933–1938

Cover
Titel
Antisemitismus in Österreich 1933–1938.


Herausgeber
Enderle-Burcel, Gertrude; Reiter-Zatloukal, Ilse
Erschienen
Anzahl Seiten
1.167 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niklas Perzi, Institut für Geschichte des Ländlichen Raums, Niederösterreichisches Landesarchiv

Antisemitismus stellte in der österreichischen Politik der Zwischenkriegszeit so etwas wie eine Grundkonstante dar und wurde in allen politischen „Lagern“ mit unterschiedlicher Intensität und Intention eingesetzt. Das umfangreiche Sammelwerk setzt sich zum Ziel, die Jahre des autoritären, christlichen „Ständestaates“ (auch als Austrofaschismus benannt) unter die Lupe zu nehmen, greift aber bis in die Anfangsjahre der 1918/19 errichteten Republik Österreich, ja bis in die Habsburger-Monarchie zurück. Er begibt sich auf ein bis heute in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte diskursiv vermintes Feld, wird doch über die Jahre 1934–1938 nicht nur innerhalb der Historikergemeinde, sondern bisweilen auch in der Politik kontrovers diskutiert. Der voluminöse Band wurde von 55 Autorinnen und Autoren verfasst, durchwegs ausgewiesene Experten auf ihrem Gebiet. Der Band gliedert sich in die Teilbereiche „Grundlagen“, „Politik und Religion“, „Kunst und Kultur“, „Wirtschaft und Berufe“, „Wissenschaft“, „Bundesländer“, „Justiz“, „Mikrogeschichtliches“ und schließt mit „jüdischen Positionen“. Festzustellen ist, dass die allermeisten Beiträge auf der Grundlage eigener Forschungen verfasst wurden und den Erkenntnisstand wesentlich erweitern.

Eine in vielen Beiträgen geäußerte These spitzen die Herausgeber zu: „Die Ausformung eines autochthonen Antisemitismus […] senkte die Hemmschwelle und war Wegbegleiter für den brutalen Vernichtungsantisemitismus des Nationalsozialismus“ (S.19). Allerdings konstatieren sie auch, „dass der Antisemitismus in Österreich in den Jahren 1918 bis 1938 in vielen Bereichen nicht offen zu Tragen kam“ (S. 19). Dieser Befund spiegelt sich in den Beiträgen wider, die herausarbeiten, dass zwar auf höchster staatlicher Ebene eine Distanzierung vom Antisemitismus stattfand, aber auf den unteren Ebenen zahlreiche, gegenläufige Maßnahmen getroffen wurden. Helmut Wohnout resümiert, dass eine „tiefgreifende Diskrepanz“ zwischen der normativ festgeschriebenen Gleichberechtigung und den Realitäten herrschte (S. 182).

Diese Ambivalenz hatte ihren Grund in der antisemitischen Tradition des auch im „Ständestaat“ tonangebenden Christlichsozialen, das in der Monarchie in den Ausformungen „konfessionell, ethnisch oder auch antikapitalistisch“ auftrat und „als Mittel zur Integration des sozial sehr heterogen geschichteten Klientel dieses Lagers“ diente (Spevak, S. 569). Dabei gehörte die Distanzierung vom „Radau- und Rassenantisemitismus“ zum fixen Repertoire, die Grenzen zu einer religiös, politisch (in der Gleichsetzung der Juden mit dem Marxismus) und wirtschaftlich (Jude=Kapitalist) motivierten antisemitischen Rhetorik waren jedoch verschwommen. Sein gleichsam theologisches Fundament erhielt diese Spielart des Antisemitismus durch die Lehren der eng mit der Partei verbundenen katholischen Kirche: Auch diese verurteilte grosso modo den Judenhass als antichristlich, erlaubte aber die Bekämpfung eines vorgeblich „schädlichen Einfluss des jüdischen Volksteils“ (Lexikon für Theologie und Kirche 1930, zit. bei Klieber, S. 240) auf wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und vor allem kulturell-intellektuellem Gebiet. Sie setzte selbst dann ihren Antijudaismus fort, als bereits der Bombenterror der Nationalsozialisten gegen Juden, aber auch prominente katholische Würdenträger und „Vaterländische“ tobte (Kerschbaumer, S. 935; Bauer, S. 353). Nicht zuletzt das Feld von Geist und Kultur stellte einen besonders beliebten „Kampfboden“ dar, vereinigten sich hierin doch zwei Gegner des politischen Katholizismus, nämlich Sozialismus und Liberalismus. Beide standen für die als negativ empfundenen Folgen der Modernisierungs- Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse (Wenninger, S. 209; Hagen, S. 972). Der Antisemitismus, so Hagen, in seiner christlichen oder rassistischen Spielart gleiche einander darin, dass er die Juden als einheitlich, verschwörerisch agierende Gruppe imaginierte.

Dieser Befund wird nicht in allen Texten des Bandes bestätigt. So wurde sowohl von Seiten der Amtskirche wie auch der mit ihr verbundenen Politik den traditionell lebenden, religiöse Juden durchaus Respekt entgegen gebracht, ja, es gab eine partielle Interessenskoalition mit religiösen und zionistischen Organisationen – und somit ein Aufbrechen des Bildes vom monolithischen jüdischen „Volkskörper“. Verbindend war hier eine nationale wie religiöse Kongruenz, die von deutschnationaler und sozialdemokratischer Seite als Ausfluss einer vermeintlich „schwarzen Internationale“ bekämpft wurde. 1930 traten gar hochrangige Vertreter aller Konfessionen, darunter der jüdischen Rabbiners Israel Taglicht gegen die antikirchlichen Maßnahmen in der Sowjetunion öffentlich auf (Klieber, S. 242). Die ganze Ambivalenz des katholisch grundierten Antisemitismus zeigte sich auch darin, dass der spätere Wiener Erzbischof Theodor Innitzer, in dessen Pfarren antijüdische Texte in diversen Pfarrblättern kursierten, als damaliger Rektor der Universität Wien 1930 damit drohte, die Uni für ein Jahr zu sperren, sollte bei den Aufmärschen der NS-Studenten nur ein jüdischer Studenten zu Schaden kommen.

Die stärkste Welle des christlichsozialen Antisemitismus war indes nach dem verlorenen Weltkrieg zu verzeichnen gewesen, getragen vor allem vom Arbeiterführer Leopold Kunschak, der 1919 parteiintern einen Gesetzesentwurf monierte, der u.a die „Erfassung der jüdischen Bevölkerung in einem „Nationalkataster“ vorsah (Wenninger, S. 214). Dabei sollte die Abstammung, nicht die konfessionelle Zugehörigkeit das entscheidende Kriterium bilden. Die Teilhabe am öffentlichen und wirtschaftlichen Leben sollte für die so Eingeordneten nur eingeschränkt möglich sein, Tätigkeiten im öffentlichen Dienst grundsätzlich verwehrt bleiben. Kunschak musste den Entwurf nach parteiinternen Widerständen zwar zurückziehen, brachte diesen aber 1936 in überarbeiteter Natur erneut erfolglos ein. Stellte der Entwurf so etwas wie eine Extremposition des christlichsozialen Antisemitismus dar, so zeigen zahlreiche Teilstudien, wie sehr man sich in den Jahren der beinahe uneingeschränkten Machtausübung 1934–1938 an Kunschaks Vorstellungen anlehnte.

Dies alles geschah vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen antisemitischen Sozialisation und Indoktrination der Eliten des Systems aus den Reihen der Christlichsozialen wie der mit ihnen verbündeten austrofaschistischen Heimwehr. Hinzu kam eine permanente ökonomische und politische Krise, die Ohnmachtsgefühle bestärkte (Melichar, S. 124), die dann an vermeintlich verantwortlichen Juden abgearbeitet wurden. Doch auch bei den von ihren Gegnern stets als „Judenschutztruppe“ diffamierten Sozialdemokraten, deren Eliten vielfach dem säkularen Judentum entstammten, agierte man mit Stereotypen. In einer Art von „defensivem Antisemitismus“ (Reiter, S. 366) bezeichneten sie ihre Gegner als „verlogene“ Antisemiten, da diese mit dem „jüdischen Kapital“ (auf Plakaten stets als Bankier mit „jüdischen Gesichtszügen“ dargestellt) paktieren würden. Kennzeichnend für die antisemitischen Praxen der Jahre 1934–1938 war auch die Verbindung der verschiedensten antisemitischen Motivationsstränge, wobei der ideologisch verbrämte Konkurrenzneid in Gewerbe, Ärzteschaft und ganz allgemein an den Universitäten wohl die Hauptrolle spielte. Am drastischsten waren die Maßnahmen von Segregation und Ausschluss im Gewerbe (Eminger, S. 537–555), wo sich der Gewerbeschutz der Regierung gegen Allein- und Großgewerbebetriebe und damit auch gegen die meisten jüdischen Gewerbetreibenden richtete.

Juristisch standen all diese antijüdischen Maßnahmen auf wackeligem Boden, sicherte doch die im Mai 1934 verkündete Verfassung die staatsbürgerlichen Rechte jedes Staatsbürgers ungeachtet jeder konfessionellen Zugehörigkeit zu. Dementsprechend bedienten sich die führenden Vertreter des Regimes zumindest in der Öffentlichkeit keiner antisemitischen Äußerungen. Im Gegenteil: Ihre bewusst nicht-antisemitische Haltung konnte dazu beitragen, dass auf den „unteren Ebenen“ diskriminierte Juden mit dem Verweis auf die Staatsspitze gegen Benachteiligungen angehen konnten (Haas, S. 1047). Allerdings tolerierte dieselbe Staatspitze etwa die antisemitischen Texte des ehemaligen Unterrichtsministers und Spitzen-CVers Rudolf Czermak und andere Maßnahmen, solange sie nicht Grenzen überschritten und keine Proteste zu vernehmen waren.

Bundeskanzler Dollfuß war wie sein Nachfolger Kurt Schuschnigg in den 1920 Jahren Mitglied des „Antisemitenbundes “ geworden. Dieser war eine Gruppe der zahlreichen „schwarz (christlichsozialen)-braunen (deutschnationalen/nationalsozialistischen) Netzwerke“ in Politik und Gesellschaft (Taschwer, S. 769–784). Mithilfe dieser sollte nach dem Ersten Weltkrieg die Gräben zwischen katholischen und deutschnationalen Eliten gegen die als existentielle Bedrohung wahrgenommen „austromarxistischen“ Bewegung mit ihren Parolen von der „Diktatur des Proletariats“ überwunden werden. „Als junge Männer […] applaudierten [sie] zu Forderungen, die weiterreichten als die Nürnberger Gesetze Jahre später“ (Hofinger, S. 959). Waren es nur Gründe der Ratio, außenpolitische und wirtschaftliche Überlegungen oder die Einsicht, den Judenhass der Nationalsozialisten nicht übertreffen zu können, die die teilweise Abkehr von dieser Politik bewirkten? Gerade in der Armee spielte der Antisemitismus gar keine, in der austrofaschistischen Heimwehr nach 1933/34 als integratives Element eine nur geringe Rolle und war von der Rücksichtnahme auf jüdische Mitglieder und Geldgeber bestimmt (Königseder, S. 277–284). Antidemokratische und antisemitische Ausrichtung mussten also nicht unbedingt Hand in Hand gehen. Bundeskanzler Dollfuß wurde nach einem im Oktober 1933 auf ihn verübten NS-Attentat von großen Teilen der Kultusgemeinde als Schutzherr gepriesen. Vielen Juden war klar, dass der Sturz des Regimes durch die Nationalsozialisten von Innen und Außen den Ausbruch organisierter staatlicher Gewalt gegen sie bedeutet hätte. Auch dieser Aspekt des österreichischen „Staatswiderstands“ gegen NS-Deutschland und die Unterstützung der Staatsführung durch einen Gutteil der österreichischen Juden hätte eine Betrachtung verdient, zumal die NS-Propaganda mit der Gleichsetzung „Österreich=Judenstaat“ arbeitete.

Bereichernd wäre ein Vergleich der antisemitisch motivierten Maßnahmen mit denen der dem Regime typologisch nahestehenden autoritären-faschistischen Regimes benachbarter Staaten gewesen. Dies schmälert allerdings nicht den Wert des Buchs, das zum ersten Mal ein bisher fragmentiertes Forschungsfeld zusammenfasst und dadurch zu einem Standardwerk zur österreichischen Zwischenkriegszeit werden wird.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension