J. Rollo-Koster (Hrsg.): Death in Medieval Europe

Cover
Titel
Death in Medieval Europe. Death Scripted and Death Coreographed


Herausgeber
Rollo-Koster, Joëlle
Erschienen
London 2017: Routledge
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
£ 34.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manuel Kamenzin, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

„In medieval studies, death is quite lively“ (S. 4). Mit diesem prägnanten Zitat bringt die Herausgeberin des zu besprechenden Sammelbands ihre Sicht auf das Forschungsfeld „Sterben und Tod im Mittelalter“ zum Ausdruck. Seit dem Erscheinen von Philippe Ariès’ Studie „L‘Homme devant la mort“1 hätten sich vielfältige neue Einsichten ergeben, sodass es an der Zeit sei, den aktuellen Forschungsstand kritisch zu bestimmen. Aus diesem Anliegen heraus ist der Sammelband „Death in Medieval Europe“ entstanden (S. xi/1).

Die Beiträge spannen Europa dabei von Island (Kanerva) über England (Clements; Davis) bis ins Mediterraneum (Sautter; Carmichael), während einige Aufsätze auch überregionale Perspektiven einnehmen (Black; Michaud; Boytsov; Collard). Zeitlich gesehen ist das gesamte Mittelalter vertreten. Was die Untersuchungsgegenstände betrifft, versammelt der Band Studien, die sich viel diskutierten Phänomenen (beispielsweise den revenants in Isländischen Sagas; Kanerva) widmen, aber auch Studien zu bislang weniger präsenten Themen (beispielsweise den spätmittelalterlichen Sterberegistern aus Milan; Carmichael). Mit Ausnahme der Untersuchung von Jill Hamilton Clements stellen schriftliche Überlieferungen die Hauptquellengrundlage dar.

Den Wechselwirkungen von Schriftlichkeit und Tod widmen sich vier der zehn hier versammelten Aufsätze und untermauern so den ersten Teil des für den Band gewählten Untertitels „Death Scripted“: Jill Hamilton Clements untersucht auf einer breiten Quellengrundlage – von Memorialschrifttum zu Steinskulpturen – den Zusammenhang von Memoria und Schriftlichkeit im angelsächsischen England (Kapitel 1). Von besonderer Bedeutung sind hier ihre Ausführungen zu bislang als Grabmarkierungen gedeuteten Steinskulpturen aus Northumbria, deren Ähnlichkeiten zu libri vitae die Autorin betont und so eine zukünftige Deutung dieser als Memorialskulpturen nahelegt (S. 20–30). Schade ist dabei, dass dem bebilderten Beitrag keine Abbildung aus dem New Minster liber vitae beigefügt wurde, wo doch eine Illustration aus diesem Codex in ihrer graphischen Ausgestaltung angesprochen wird (S. 18) – ein Hinweis auf das im Internet frei verfügbare Digitalisat wurde ebenso nicht gesetzt.2 In Kapitel 5 untersucht Francine Michaud mittelalterliche Testamente. Sie verfolgt die zeitliche Entwicklung und Ausgestaltung des letzten Willens, um letztendlich einen Zusammenhang zwischen der Verbreitung dieser Verfügungen und der Lehre vom Fegefeuer zu attestieren.

Auf Grundlage einer Reihe schriftlicher Quellen, jedoch vor allem historiographischer Texte wendet sich Franck Collard schließlich einem Phänomen zu, das er als „Deadzone in the Historiography of Death“ sieht: verdächtigen Toden („Suspicious Deaths“; Kapitel 9). Gemeint sind Todesfälle, deren Ursache unter Zeitgenossen umstritten war, wie der vermeintliche Giftmord an Kaiser Heinrich VII. Das Misstrauen gegenüber bestimmten Toden sieht Collard hierbei mit steigender Verbreitung medizinischen Wissens zunehmen. Auch Ann G. Carmichael ordnet die von ihr untersuchten Quellen – Sterberegister aus Milan – als Teil einer Entwicklung ein (Kapitel 10): In den detaillierten Registern wurden nicht nur Name, Geschlecht, Alter und Wohnort der Verstorbenen verzeichnet, sondern auch von geschulten Experten die Todesursache (S. 209). In dieser faszinierenden Quelle würde sich laut Carmichael das Interesse eines werdenden „Territorialtaats“ an Seuchenbekämpfung wie auch an Anstrengungen zur Registrierung von Individuen zeigen.

Deutlicher dem zweiten Teil des Untertitels „Death Choreographed“ zuzuschreiben sind die Beiträge von Cia Sautter, James Davis, Mikhail A. Boytsov und der Herausgeberin Joëlle Rollo-Koster selbst: Sautter untersucht die Rolle jüdischer Frauen in Trauerritualen auf der iberischen Halbinsel. Während der christlichen und möglicherweise auch während der muslimische Herrschaft waren diese sogenannten Endechas mit ihren choreographierten Trauertänzen ein akzeptierter Teil der Trauerkultur (Kapitel 4). Davis hingegen widmet sich den symbolischen Botschaften, die öffentliche Hinrichtungen in englischen Städten vermittelten. Er stellt hierbei die Frage, ob in erster Linie herrschaftliche Macht oder eine moralische Lektion in Sühne zur Schau gestellt werden sollte (Kapitel 6). Mit einem spezifischen Bestandteil spätmittelalterlicher Fürstenbestattungen befasst sich Boytsov: dem Brauch, den Verstorbenen in seiner besten Rüstung auf seinem besten Pferd zu arrangieren und der Trauerprozession voranzustellen (Kapitel 7). Boytsov sieht hierin einen neuen internationalen Beisetzungsstil, der vom Hochadel ausging, aber schnell von Herrschern kopiert wurde. Den Ursprung dieser Sitte möchte er in zukünftigen Studien weiterverfolgen (S. 163). Ebenfalls mit Beisetzungsritualen setzt sich Rollo-Koster am Beispiel von spätmittelalterlichen Kardinälen und Päpsten auseinander (Kapitel 8). Sie arbeitet dabei heraus, wie die Rituale durch detailversessene Reglementierung einerseits auf Vorbildlichkeit und Nachahmung ausgelegt waren, sich andererseits auch weltliche Belange niederschlugen, wie die Verteilung materieller Güter.

Zwei weitere Beiträge befassen sich mit teilweise eben nicht leblosen Leichnamen: Kirsi Kanerva arbeitet in ihrer Studie heraus, dass die Einbettung von Wiedergängern in den isländischen Sagas sich im Verlauf des Spätmittelalters durch den Einfluss des Christentums veränderte. Während die Toten in früheren Zeiten als eigenständige Akteure geschildert wurden, entwickelten sie sich hin zu Objekten ohne eigene Macht, die wiedererweckt werden mussten (Kapitel 2). Winston Black setzt hingegen das Aufkommen von Wiedergängern in hochmittelalterlichen Quellen (ungefähr zwischen 1130 und 1230) mit dem Zeitalter der Scholastik in Verbindung: Seiner Interpretation nach hätten die Entwicklungen in Theologie und Philosophie gleichermaßen im 12. Jahrhundert für das Aufkommen wie im 13. Jahrhundert für das Verschwinden der Wiedergänger gesorgt (Kapitel 3).

Der vorliegende Band versammelt somit Aufsätze mit insgesamt großer Bandbreite – die anvisierte Bilanzierung des Forschungsstands kann damit aber nicht vollständig erreicht werden. Zum einen bleibt die Auswahl exemplarisch – mit Totentänzen und Gebeinsuntersuchungen wurden sowohl bekannte als auch aktuell intensiv diskutierte Themen nicht aufgenommen. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass sich die Beiträge im Band oftmals sehr stark auf englischsprachige Forschung stützen – und dadurch in anderen Sprachen publizierte Ergebnisse übersehen werden. So mag es noch lediglich befremdlich anmuten, dass Jill Hamilton Clements über Schriftlichkeit, Gedenkbücher und Memoria im angelsächsischen England schreibt und dabei keinen einzigen Verweis auf die zahlreichen grundlegenden und spezialisierten Erträge deutschsprachiger Memorialforschung setzt.3

Als schwerwiegender ist hingegen einzustufen, dass bei einer Reihe von Beiträgen die gewichtige und einschlägige Habilitationsschrift von Romedio Schmitz-Esser zum Leichnam im Mittelalter nicht genutzt wurde.4 Die den Forschungsstand skizzierende Einleitung der Herausgeberin bietet zwar einen verdienstvollen Überblick zu größtenteils englischen Studien (S. 1–8), lässt aber leider zentrale französische und deutsche Beiträge vermissen.5 Diese Monita schmälern den Wert des Bandes nur punktuell, zeigen jedoch die Schattenseiten der produktiven Forschung zum Themenfeld auf: Die schiere Unüberblickbarkeit der zahlreichen Studien und die sprachlichen Barrieren einer internationalen Forschung. Umso verdienstvoller wird hierdurch die vorliegende Zusammenstellung meist englischsprachiger Forschungsergebnisse und -diskurse – mit den genannten Einschränkungen.

Anmerkungen:
1 Phillipe Ariés, L’homme devant la mort, Paris 1977.
2 Online unter: http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Stowe_MS_944 (15.05.19).
3 Stellvertretend soll auf den bereits älteren, aber grundlegenden und online frei verfügbaren Sammelband: Karl Schmid / Joachim Wollasch (Hrsg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (Bestandteil des Quellenwerkes Societas et fraternitas), Münstersche Mittelalter-Schriften 48, München 1984 verwiesen werden. Online unter: https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00042869_00001.html (15.05.19).
4 Romedio Schmitz-Esser, Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers, Mittelalter-Forschungen 48, Ostfildern 2014.
5 Exemplarisch sei verwiesen auf Alberto Tenenti, La vie et la mort à travers l‘art du XVe siècle, Cahiers des Annales 8, Paris 1952; Gaby Vovelle / Michel Vovelle, Vision de la mort et de l’au-delà en Provence d’après les autels des âmes du purgatoire, XVe–XXe siécles, Paris 1970; sowie die zeitgenössische prominente Kritik an Ariès’ Thesen von Arno Borst, Zwei mittelalterliche Sterbefälle, in: Merkur 34 (1980), S. 1081–1098.

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