Emotionale Politik und Politik der Emotionen

: The Emotional Politics of the Alternative Left. West Germany 1968–1984. Cambridge 2018 : Cambridge University Press, ISBN 978-1-108-47174-9 VIII, 309 S. £ 75.00

Häberlen, Joachim C.; Keck-Szajbel, Mark; Mahoney, Kate (Hrsg.): The Politics of Authenticity. Countercultures and Radical Movements across the Iron Curtain, 1968–1989. New York 2019 : Berghahn Books, ISBN 978-1-78533-999-8 VII, 297 S. $ 130.00; £ 92.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Gehrig, Department of Humanities, University of Roehampton

Der von Joachim Häberlen, Mark Keck-Szajbel und Kate Mahoney herausgegebene Sammelband „The Politics of Authenticity“ und die Monographie „The Emotional Politics of the Alternative Left“ entstanden beide im Kontext des von Joachim Häberlen geleiteten Marie-Curie-Projekts „The Politics of Emotions“ an der University of Warwick. Nachdem die historische Forschung zu Protestkulturen um „1968“ lange auf das Forschungsparadigma der sozialen Bewegungen gesetzt hat, folgen diese beiden Bände der jüngeren Forschung, die vor allem die Suche nach alternativen Lebensstilen in den Vordergrund gerückt hat, die in Subkulturen und gegenkulturellen Milieus zwischen 1968 und 1989 entstanden.1

Der Sammelband „The Politics of Authenticity“ möchte die oft getrennt betrachteten Subkulturen West- und Osteuropas zusammen untersuchen. Die Herausgeber folgen damit neueren Arbeiten zur Sozial- und Kulturgeschichte des Kalten Krieges, die sich für Forschungsperspektiven über Blockgrenzen hinweg eingesetzt haben.2 In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber Ähnlichkeiten in den Argumentationen, die von alternativen Gruppen im Osten gegen sozialistische Regime und im Westen gegen staatlichen Konformitätsdruck artikuliert wurden. Damit verfolgt der Band das explizite Ziel, durch einen Fokus auf Gemeinsamkeiten frühere Forschungen zu kontrastieren, die die ideologische Teilung und die gegensätzlichen politischen Bedingungen unter Sozialismus und liberaler Demokratie in Europa hervorgehoben haben (S. 3). Trotz aller Unterschiede der Regierungs-, Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme in Ost und West, so die Herausgeber, seien die in ihrem Band untersuchten Phänomene mehr als zeitgleiche, bloß zufällige Ähnlichkeiten. Was Alternative sowohl im Sozialismus wie im Kapitalismus angetrieben habe, sei deren Suche nach einem „authentischen Selbst“ gewesen. Diese Suche in Gegenkulturen habe Menschen über Staats- und Ideologiegrenzen hinweg verbunden (S. 4).

Die Autorinnen und Autoren des Bandes fragen gestützt auf etablierte Konzepte der Authentizität in zwölf Kapiteln danach, wie mit ihnen Politik gemacht wurde.3 Dabei folgen die Beiträge drei Leitfragen. Jenseits der Konzentration der Forschung auf das Problem, inwiefern die Proteste und Gegenkulturen seit 1968 zur Demokratisierung und Liberalisierung von Gesellschaften geführt haben, möchten die Aufsätze erstens eine Verschiebung des Politischen hin zur Konzentration auf das Selbst des Individuums zeigen. Dies hatte sowohl Einfluss auf Protestformen als auch auf neue subkulturelle Praktiken wie Selbsterfahrungs- und Therapiegruppen. Zweitens heben die Beiträge hervor, dass Konzepte von Authentizität und authentischem Leben innerhalb von Subkulturen und sogar innerhalb einzelner Gruppen immer umstritten blieben. Diese Gegenkulturen entstanden drittens nicht nur neben, sondern zumindest im Westen auch als Teil vom populären Mainstream. Damit wirft der Band die Frage auf, inwieweit Gegenkulturen am Niedergang von sozialistischen Staaten beteiligt waren, deren politische Eliten solche Gruppen nicht zu integrieren vermochten, sowie an der Entwicklung eines „neoliberalen Selbst“ (inspiriert von Ulrich Bröcklings „unternehmerischem Selbst“) im Westen.

Der Sammelband organisiert die Beiträge in einer groben chronologischen Reihenfolge, wobei sich die diskutierten Zeiträume natürlich auch überschneiden. Die Kapitel bringen Fallstudien aus Italien, Frankreich, der Bundesrepublik und Großbritannien sowie der DDR, der Tschechoslowakei und Rumänien zusammen. Die Beiträge von Angelo Ventrone, Baris Yörümez, Kate Mahoney, Antoine Idier, Zsófia Lóránd, Jane Freeland, Maria Bühner, Danilo Mariscalco, Manuela Marin, Jeff Hayton, Benjamin Möckel und Jake P. Smith sowie das Nachwort von Sara Blaylock sollen das zentrale Argument des Bandes hervorheben: dass die Suche nach authentischen Formen des Seins jenseits staatlicher Grenzen und politischer Bewegungen ein Charakteristikum der Zeit ab 1968 war. Hierbei begreifen die Herausgeber 1968 eher als Chiffre für die sich formierenden Proteste in den 1960er-Jahren denn als historische Zäsur.

Da die Suche nach Authentizität in Lebensstilen und politischen Aktionen die Beiträge verbindet, bietet der Band disparate Themenfelder: von der radikalen Linken Italiens zu kleinen Überschreitungen der sozialistischen Ordnung, die im Laufe der Zeit die Legitimität des Regimes der ČSSR unterminierten; von der englischen Frauenbewegung zur französischen Homosexuellenbewegung; von feministischen Gruppen in Jugoslawien zur westdeutschen Frauenbewegung und lesbischem Aktivismus in der DDR; von italienischen Jugendgruppen im Revoltenjahr 1977 zu musikalischen Gegenkulturen in Rumänien; von Punkgruppen in Ost- und Westdeutschland zu Live-Aid-Konzerten und der Hamburger Hausbesetzerszene. Die meisten Beiträge haben einen lokalen oder nationalen Zuschnitt. Um vor allem die grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westeuropa und deren Verbindungen genauer zu erschließen, bleibt zu hoffen, dass künftige Studien die von den Herausgebern hervorgehobenen blockübergreifenden Kontakte und Wechselwirkungen noch stärker ins Zentrum rücken.

In seiner Monographie „The Emotional Politics of the Alternative Left“ verfolgt Joachim Häberlen nicht überraschend einen ähnlichen Ansatz, um die Entwicklung neuer Politikformen sowie die Konzentration auf das Selbst und ein authentisches Leben innerhalb westdeutscher Gegenkulturen nachzuzeichnen. Doch möchte er weniger die Auswirkungen dieser Trends auf die Gegenwart untersuchen, sondern argumentiert, dass man solche neuen Formen von Lebensstilexperimenten „aus der Zeit selbst“ heraus begreifen sollte. Nicht Wandel über Zeit, sondern ein besseres Verständnis der „Intensität des [historischen] Moments“ soll im Vordergrund stehen (S. 273).

Häberlen möchte das „radikal Andere“ untersuchen, durch das alternative Aktivistinnen und Aktivisten die rationale, männlich konnotierte Welt des Kapitalismus herausfordern wollten (S. 4). In diesem Projekt spielten Emotionen und die Entdeckung des Selbst eine zentrale Rolle für vielfältige Gruppierungen während der 1970er- und frühen 1980er-Jahre. Damit legt Häberlen einen weiteren Beitrag zur Subjektivierungsgeschichte vor.4 Zentral für dieses Projekt ist die Untersuchung des „Kampfes um Gefühle“ innerhalb der alternativen Linken nach 1968 (S. 5). Als Teil eines „Psychobooms“, der nicht nur die westdeutsche Linke zu dieser Zeit erfasste, interessiert Häberlen die interne Dynamik von „sich entwickelnden Regimen der Subjektivität“, die in Subkulturen engagierten Linken oft nicht nur befreiend neue Lebensstile ermöglichten, sondern auch vorschrieben, wie sie sich zu sich selbst zu verhalten hatten.5 Das Buch baut auf lokalen Zeitschriften auf, mit denen sich eine Gegenöffentlichkeit der westdeutschen Linken organisierte, und zielt daher nicht so sehr auf einzelne Biographien und die Nachzeichnung von individuellen Lebensstilexperimenten als auf die Verhandlung von Emotionserfahrungen und Authentizität in Publikationen mit begrenzter Reichweite.6 Daneben benutzt Häberlen theoretische Texte linker Intellektueller, Romane und Kinderbücher, um Konzepten des Selbst und von Authentizität nachzuspüren. Die weite lokale Bandbreite von linken Publikationen, die der Autor einbezieht, sollte künftige Forschungen dazu anregen, die regionalen und lokalen Besonderheiten alternativer Milieus weiter herauszuarbeiten. Entgegen Sven Reichardts Ansatz, der die informellen Verhaltensregeln innerhalb linker Subkulturen hervorhob, möchte Häberlen zeigen, wie „die alternative Linke Emotionen produzierte“ und was „Linke taten, um diese Emotionen zu erfahren“ (S. 23f.).

Das Buch beginnt mit einem Kapitel, das den langen Bogen zu den Lebensstilexperimenten des frühen 20. Jahrhunderts schlägt, die alternative Aktivisten in den 1960er- und 1970er-Jahren wieder aufgriffen. Die Kapitel 2 bis 4 verfolgen thematisch verschiedene Strategien des emotionalen Widerstandes gegen die kapitalistische Gesellschaft. Vom Angriff auf Rationalität durch eine Konzentration auf Gefühle, milieuinterne Diagnosen der psychischen Deformationen, die Menschen durch die Gesellschaftsverhältnisse aufgezwungen worden seien, zur Suche nach Intimität in Selbsterfahrungsgruppen zeichnen diese Kapitel verschiedene Wege während der 1970er-Jahre nach, durch die alternative Akteure ein neues Verhältnis zu sich selbst und eine neue Form von Politik etablieren wollten. Das letzte Kapitel diskutiert die auf den West-Berliner TUNIX-Kongress von 1978 folgende Welle von Militanz, die der Hausbesetzerszene der 1980er-Jahre den Weg bereitete.

Beide Bücher deuten darauf hin, dass dieses alternative Interesse an Taktiken der Individualisierung (Foucault) auch Teil einer schleichenden Entwicklung hin zu einer neoliberalen Subjektivität war. Obwohl Häberlen in seiner Monographie die Wichtigkeit der Erforschung alternativer emotionaler Politik aus dem historischen Moment heraus betont, konstatiert auch er, dass diese politischen Experimente einen Anteil an späteren Entwicklungen der Individualisierung hatten. Trotz dieser Tatsache, so argumentiert er, habe die alternative Linke parallel zur Produktion individualisierter Politik auch Argumente für eine Kritik eben jenes Prozesses gleich mitgeliefert (S. 270f.). Damit weisen die Bände unter anderem zurück zur Frage für die 1980er- und 1990er-Jahre, die Detlef Siegfried in seiner Studie über Jugendkultur und Konsum der 1960er-Jahre stellte, nämlich ob – und wenn ja, wie – die emotionale Politik der Authentizität zu einer Vereinnahmung alternativer Lebensentwürfe durch die Konsumgesellschaft geführt hat.7 Benjamin Möckels Beitrag zu Live-Aid-Konzerten deutet auf eine solche Inanspruchnahme alternativer Gegenkulturen für eine sich entwickelnde „globale neoliberale Identität“ hin, wie Sara Blaylock als Teil ihrer Diskussion der Visualisierung alternativer Authentizität in Kleidung und Verhalten im Nachwort des Sammelbandes zu Recht hervorhebt (S. 282). Im Licht gegenwärtiger Auseinandersetzungen um Identitätspolitik, die vor allem an britischen und amerikanischen Universitäten schon seit einigen Jahren mit zunehmender Schärfe ausgetragen werden und sich auch andernorts bemerkbar machen, bieten die besprochenen Bücher interessante Einblicke in die Vorläufer dieser aktuellen Debatten. Der Sammelband zeigt vor allem auch, dass künftige Studien die Frage nach den Transformationen hegemonialer osteuropäischer Kulturen durch alternative Kulturen sowie den Einfluss der Epochenwende 1989 weiter untersuchen sollten.8

Anmerkungen:
1 Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. Siehe auch European Review of History 22 (2015), Heft 1: „The Personal is Political“. Sexuality, Gender and the Left in Europe during the 1970s, hrsg. von Nikolaos Papadogiannis und Sebastian Gehrig.
2 Patrick Major / Rana Mitter (Hrsg.), Across the Blocs. Exploring Comparative Cold War Cultural and Social History, London 2004; Annette Vowinckel / Marcus M. Payk / Thomas Lindenberger (Hrsg.), Cold War Cultures. Perspectives on Eastern and Western European Societies, New York 2014; sowie jetzt die von Kirsten Bönker und Jane Curry herausgegebene Reihe „Rethinking the Cold War“: https://www.degruyter.com/view/serial/495549 (15.05.2019).
3 Als Überblick siehe Achim Saupe, Historische Authentizität. Individuen und Gesellschaften auf der Suche nach dem Selbst – ein Forschungsbericht, in: H-Soz-Kult, 15.08.2017, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-2444 (15.05.2019), besonders Teil 2.
4 Für einen Überblick zur Forschungslandschaft der Subjektivierungsgeschichte siehe Sven Reichardt, Zeithistorisches zur praxeologischen Geschichtswissenschaft, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 46–61.
5 Zum „Psychoboom“ siehe Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016.
6 Für die Etablierung dieser Gegenöffentlichkeit waren linke Buchläden als Vertriebsnetzwerk linker Zeitschriften von entscheidender Bedeutung. Siehe Uwe Sonnenberg, Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren, Göttingen 2016.
7 Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006; Neuauflage mit einem Nachwort des Autors, Göttingen 2017.
8 Für die Effekte populärer Musikkultur und die Versuche osteuropäischer Regierungen, neue kulturelle Strömungen aufzunehmen, siehe z.B. Zbigniew Wojnowski, The Pop Industry from Stagnation to Perestroika. How Music Professionals Embraced Economic Reform that Broke East European Cultural Networks, in: Journal of Modern History (im Erscheinen).