L. Cladders: Alte Meister – Neue Ordnung

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Titel
Alte Meister – Neue Ordnung. Kunsthistorische Museen in Berlin, Brüssel, Paris und Wien und die Gründung des Office International des Musées (1918–1930)


Autor(en)
Cladders, Lukas
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
542 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sina Steglich, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Im vergangenen Jahr legten der Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr und die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy einen Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter vor, den sie im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron erarbeitet haben.1 Sie äußern darin die Maximalforderung, dass Frankreich alle Kulturgüter afrikanischer Provenienz zurückzugeben habe. In der Folge ist eine Debatte entbrannt, die die einen als Auftakt zu einer qualitativ neuen, gleichberechtigten Partnerschaft zwischen außereuropäischen und europäischen Staaten verstehen, während andere eine nachhaltig veränderte, nämlich um Tausende von Objekten dezimierte Museumslandschaft Europas fürchten.2 Die Brisanz dieser Thematik rührt aus dem Umstand, dass sich in ihr politische, kulturelle, fachwissenschaftliche mit finanziellen und institutionellen Interessen überlagern. Kunst avanciert so zu einem umkämpften Politikum. Und die Debatte ist selbstredend keine exklusiv französische Angelegenheit, sondern eine, die hierzulande gerade im Hinblick auf die Eröffnung und museale Ausgestaltung des Humboldt Forums kaum ignoriert werden kann.

Angesichts dieser gegenwärtig hitzigen Diskussion, die weit über den Bereich der Fachwissenschaft hinaus- und in den Kern des kulturellen Selbstverständnisses europäischer Staaten hineinweist, lohnt sich ein kühlender, weil distanzierter Blick in die Vergangenheit. Einen solchen ermöglicht die 2016 an der Universität Heidelberg vorgelegte Dissertation von Lukas Cladders. Die Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie sich der Erste Weltkrieg auf das Geflecht von Politik, Gemäldegalerien als Institutionen des Sammelns, Forschens und Ausstellens, individuellen Kunsthändlern und wissenschaftlichen Experten und deren vielschichtige Interaktionen auswirkte. Damit überführt Cladders das Themengebiet der kunsthistorischen Museen aus dem Bereich der Kunstgeschichte in den der allgemeinen Geschichte. Denn seine „alten Meister“ sind nicht etwa die Kunstwerke selbst, sondern deren Bewahrungsinstitutionen, die als Träger nationalstaatlichen Renommees ihren Standort und ihre Funktion in der „neuen Ordnung“ des politisierten Nachkriegseuropa und ihr Verhältnis zueinander erst wieder finden mussten. Mit dem Fokus auf vier Gemäldegalerien wird weder eine Institutionengeschichte einzelner Häuser angestrebt noch sollen nationale Museumslandschaften kartiert werden, vielmehr rückt Cladders dezidiert politische Implikationen ins Blickfeld und fragt nach der musealen Praxis und Formen der Kooperation zwischen vorher verfeindeten Staaten sowie der Bedeutung des 1926 gegründeten Office International des Musées (OIM).

Die Analyse wird in drei Schritten vorgenommen und folgt zentralen Akteuren, die sich kontinuierlich über Länder- und Tätigkeitsgrenzen bewegten und die Heterogenität von sich überlagernden Interessen an Kulturgut verdeutlichen. Entscheidend ist jedoch die Chronologie, da die Arbeit sich in zwei zentrale Phasen gliedert. Die ersten beiden Kapitel untersuchen die Phase bis zur Gründung des OIM und schließen gedanklich unmittelbar aneinander an, während das dritte die Zeit seit dessen Gründung in den Blick nimmt. Obwohl also die zu untersuchenden Themenfelder „hochgradig induktiv“ (S. 32) durch die Quellenanalyse identifiziert worden seien, orientiert sich die Konzeption der Arbeit nicht an diesen, sondern primär an chronologischen Parametern.

Das erste Hauptkapitel widmet sich der Zeit bis zur Gründung des OIM und erörtert die Möglichkeitsräume des Sammelns, Ausstellens und Schutzes von Kunstwerken sowie des Austauschs von kunsthistorischer wie restauratorischer Expertise durch Museumsangestellte, Kunsthändler und politische Akteure unter den Vorzeichen von Versailler Vertrag und Reparationsforderungen. Das zweite Kapitel untersucht, inwiefern sich bereits in dieser Zeit internationale Kooperationen ausgebildet haben. Hinsichtlich museumspraktischer wie -theoretischer Fragen wurde trotz des fortwirkenden politischen Antagonismus zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern Frankreich und Belgien einerseits und Deutschland und Österreich andererseits zunehmend mit- und nicht gegeneinander gearbeitet. Dies beinhaltete etwa Fragen der didaktischen Gestaltung von Museen, der Forschungsförderung oder des Verleihs von Kunstwerken. Gründung, Ziele und Projekte des OIM werden schließlich ausführlich im dritten Hauptkapitel dargelegt. In Erweiterung bisheriger Forschungen setzt der Autor hier den Schwerpunkt auf die Organisation des Office selbst, also auf dessen praktische Tätigkeit und personelle Zusammensetzung. Trotz einer stets prekären finanziellen Situation habe das Office eigene Projekte zu initiieren versucht, wobei es dem Anspruch gefolgt sei, die Entwicklung von Museen und die Reflexion ihrer gesellschaftlichen Funktion mit der Formierung einer Gemeinschaft von Museumsfachleuten und der Etablierung internationaler Standards zu verbinden. Die Analyse verdeutlicht dabei, wie schwer es ist, die Relevanz der Arbeit des OIM im öffentlichen wie im fachlichen Diskurs angemessen einzuschätzen. Ursprüngliche Ziele des Office ließen sich nicht realisieren, doch die 1927 gegründete Zeitschrift „Museion“ sei durchaus als „Erfolg“ (S. 371) zu werten. So plädiert Cladders für eine nuancierte Einschätzung, die den jeweiligen Handlungsspielräumen der Akteure, ihren widerläufigen Interessen und den finanziellen Mitteln Rechnung trägt.

Die Arbeit ist entlang zweier methodischer Grundlinien konzipiert. Sie ist einerseits transnational angelegt, vergleicht die vier untersuchten nationalen Räume entsprechend nicht symmetrisch. Andererseits sucht sie ihren Themenkomplex verflechtungsgeschichtlich aufzuschlüsseln, indem ein Beobachtungsstandpunkt eingenommen wird, der stets „pragmatisch und flexibel“ (S. 29) bleiben solle und sich aus der Analyse der Quellen ergebe. Darin liegt sowohl eine Chance als auch eine Herausforderung. Eine Chance deshalb, weil bisherige Forschungen zur Museumsgeschichte sich nach wie vor allzu oft noch auf die Geschichte einzelner Einrichtungen und deren Bestände sowie auf ästhetische Gesichtspunkte konzentrieren. Die Fluidität grenzüberschreitenden Austauschs zwischen Museen, Kunsthistorikern und Händlern wie auch die sich überlagernden Funktionen und Einflusssphären einzelner Akteure werden allerdings erst aus übernationaler Perspektive in ihrer vollen Tiefe sichtbar. Und eine Herausforderung deshalb, weil der gewählte verflechtungsgeschichtliche Ansatz und die dadurch notwendige kontinuierliche Justierung des eigenen Standpunktes zuweilen auf Kosten darstellerischer Klarheit geht. Wenn der Verfasser konstatiert, dass seine Ausführungen „auf den ersten Blick chaotisch“ scheinen mögen (S. 237), so antizipiert er, dass die Lektüre zeitweise aufmerksam Lesende fordert. Hier wären konkrete Resümees wünschenswert und ein Mehr an argumentativer Stringenz hilfreich, damit die zentralen Thesen durch die Fülle an gesichtetem Quellenmaterial aus sechs Ländern nicht verdeckt werden.

Das Spektrum der untersuchten Aspekte reicht nämlich von juristischen Eigentumsfragen über politische Aneignungen von Gemälden und deren Klassifizierung nach ästhetischen Gesichtspunkten oder gemäß ihrer Provenienz, den Kulturgüterschutz, die technische Reproduzierbarkeit und Sammlung von Kunstwerken in Form von Katalogen bis hin zu Fragen ihrer adäquaten Präsentation für Museumsbesucher wie Wissenschaftler. Diese Vielfalt und Genauigkeit verdient Respekt. Dies gilt umso mehr, als zahlreiche Bezüge nicht nur zur Zeit vor Gründung des Office, sondern auch zur Vorkriegszeit hergestellt werden. Cladders verdeutlicht auf diese Weise, dass Fragen kunsthistorischer Praxis trotz aller Politisierung sich nicht primär an nationalen Grenzen orientierten und politische Zäsuren transzendierten.

Insgesamt gibt die Arbeit nicht nur über die Geschichte europäischer Gemäldegalerien als Knotenpunkte vielfältiger Akteursgruppen in der Zwischenkriegszeit Aufschluss. Sie führt darüber hinaus die Geschichte internationaler Organisationen fort, indem das Agieren des OIM nuanciert, aber nicht moralisierend oder als bloße Vorgeschichte späterer Internationalisierungsbemühungen erörtert wird. Eben durch diese detaillierte, abwägende und teleologische Narrative umschiffende Darstellung musealer Praxis bietet sie schließlich Anlass, die gegenwärtige Frage nach dem adäquaten Umgang mit Kulturgütern weder reflexartig abzulehnen noch geschichtsglättende Antworten zu finden. Vielmehr lädt „Alte Meister – Neue Ordnung“ dazu ein, die Vieldeutigkeit des Museums als eines von verschiedenen Seiten konturierten Politikums ernst zu nehmen und als solches zu diskutieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. Felwine Sarr / Bénédicte Savoy, Rapport sur la Restitution du Patrimoine Culturel Africaine. Vers une Nouvelle Étique Relationelle, November 2018, <http://restitutionreport2018.com> (29.03.2019), deutsche Übersetzung: Dies., Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019.
2 Vgl. aus der Vielzahl der kontroversen Reaktionen: Patrick Bahners, Sie glauben an ihre Sendung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.01.2019, <https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/restitution-benedicte-savoy-und-felwine-sarr-in-deutschland-16000940.html> (29.03.2019) sowie als differenzierte Replik: Bernhard Gißibl, Was wir jetzt brauchen, in: Die Zeit, 13.12.2018, <https://www.zeit.de/2018/52/kolonialgeschichte-umgang-kunstwerke-restitution> (17.04.2019).

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