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Titel
Männer von Ehre?. Die Wehrmachtgeneralität im Nürnberger Prozess 1945/46. Zur Entstehung einer Legende


Autor(en)
Brüggemann, Jens
Reihe
Krieg in der Geschichte 112
Erschienen
Paderborn 2018: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
631 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
John Zimmermann, Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag

Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde gleich in doppelter Hinsicht Geschichte geschrieben: Zum einen urteilte erstmals ein Internationaler Gerichtshof über die Verantwortlichen für einen Krieg und die mit ihm wie in ihm begangenen Verbrechen. Damit gilt dieser Prozess heute als eine Geburtsstunde des Völkerstrafrechts, das Individuen für Staatshandeln strafrechtlich haftbar macht und Regierungsimmunität ablehnt. Verhandelt wurde gegen vierundzwanzig Angeklagte, von denen über zwölf die Todesstrafe verhängt wurde, während drei lebenslange sowie vier Freiheitsstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren erhielten. Drei sprach man von den Vorwürfen frei, einer entzog sich dem Urteil durch Suizid, und gegen einen wurde das Verfahren aus gesundheitlichen Gründen eingestellt. Fatal wirkte sich jedoch aus, dass das Gericht den Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) aus formalen Gründen nicht als „verbrecherische Organisation“ verurteilen konnte. Dies wird von den Apologeten der Wehrmacht bis heute wider besseres Wissen als Freispruch interpretiert. Nicht zuletzt darauf beruhte die Legendenbildung von der „sauberen Wehrmacht“, obwohl sie bereits seit den 1960er-Jahren eindeutig widerlegt werden konnte.

Zum anderen wurde auch buchstäblich Geschichte geschrieben, weil es Verteidigern und militärischen Angeklagten gelang, die Kriegführung der Wehrmacht vom NS-Regime abzukoppeln. Die „Nazis“ waren in der Öffentlichkeit fortan für die Verbrechen verantwortlich, die Soldaten dagegen hatte man angeblich „missbraucht“ und „getäuscht“ – eine Position, die bis zur sogenannten (ersten) Wehrmachtausstellung Mitte der 1990er-Jahre durchaus mehrheitsfähig vertreten wurde. Insofern handelt es sich bei diesem Prozess um einen Markstein der westdeutschen Geschichte mit entscheidender Reichweite über die Kriegsfolgengesellschaft hinaus. Rund 18 Millionen Deutsche, die während der NS-Zeit die Wehrmachtuniform getragen hatten, konnten sich durch das Nürnberger Urteil freigesprochen fühlen und es gleichzeitig als Schlussstrich gegenüber der Vergangenheit bewerten.

Umso verdienstvoller ist die Forschungsleistung der hier vorliegenden Dissertation von Jens Brüggemann, der den Prozess „detailliert und auf einer breiten Basis zeitgenössischer Quellen untersucht“ sowie „als Schwerpunkt einen umfangreichen Blick hinter die Kulissen der Verteidigung“ vorgenommen hat (S. 23). Er hat dabei einen ganzen Katalog an Fragen bearbeitet: nach den Verteidigungsstrategien der Offiziere vor Gericht und deren Entwicklungs- und Abhängigkeitsbedingungen, nach den Einflüssen der Militärs und ihrer Verteidiger, nach deren Motiven, Zielen, Mentalitäten sowie der Ausgestaltung ihrer Kooperation. Nicht zuletzt wollte Brüggemann herausarbeiten, ob sich „Momente einer Selbstreflexion bei den Offizieren“ finden lassen (S. 24). Seine Quellenbasis präsentiert sich entsprechend umfangreich: Sie umfasst neben den Prozessunterlagen diverse Nachlässe und weitere Dokumentenbestände aus insgesamt 18 Archiven – von Washington bis Moskau, Freiburg bis Hamburg und Köln bis Berlin. Ein über 130 Seiten umfassender Dokumentenanhang rundet die Studie ab.

Für den Autor ist der Prozess „die erste große öffentliche Arena der Nachkriegszeit, in der sich ausgesprochen entgegengesetzte Deutungsangebote zur Einschätzung dieses Personenkreises und der Wehrmacht in direkter Konfrontation begegneten“ (S. 16). Die dort geprägten Narrative zu beleuchten und in ihrer Reichweite zu ergründen, ist nur ein Ziel des Verfassers. Darüber hinaus versteht er sein Buch als einen „Beitrag zu den Forschungen über die Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges […], speziell zu den Biographien einiger der hochrangigsten Wehrmachtoffiziere“, und „über die Integration einstiger Eliten der NS-Zeit in die Bundesrepublik“, insbesondere zur geschichtspolitischen Bedeutung der wesentlichen Akteure während des Nürnberger Prozesses in der westdeutschen Gesellschaft (S. 25).

Dazu hat Brüggemann den Hauptteil in drei Abschnitte unterteilt. Im Zentrum steht sein drittes großes Kapitel, in dem er sich auf über 200 Seiten mit den „Risse[n] in der gemeinsamen Front“ der Angeklagten beschäftigt. Die anderen beiden Hauptkapitel umfassen zusammen rund 150 Seiten. Zunächst beleuchtet Brüggemann detailliert das „Vorfeld des Verfahrens“. Hier stellt er die Ausgangslage für die angeklagten Militärs nach dem Ende des Krieges dar, ihre „Wege nach Nürnberg“ und ihr Verhalten in den Vernehmungen bis zur Überstellung der Anklageschrift. Im zweiten Hauptkapitel stehen dann die Auswahl der Anwälte, die Zusammenarbeit mit ihnen und den Mitangeklagten im Vordergrund, sowohl als Individuen wie auch als Angehörige der drei Gruppen: Hauptangeklagte sowie Vertreter des OKW und des Generalstabs.

Von besonderem Interesse ist hierbei Brüggemanns Auseinandersetzung mit der sogenannten Generalsdenkschrift von 1945 (S. 151–161). Für ihn erschließt sie die Denkweise großer Teile des deutschen Offizierskorps: Ihr fehlte „eine ethische Basis“ (S. 157), und sie offenbarte stattdessen „eine hohe Bereitschaft“, „den Erfordernissen zum Erreichen militärischer Ziele, den ‚Kriegsnotwendigkeiten‘, alles unterzuordnen, einschließlich des Kriegsvölkerrechts“ (S. 157) – „ein Faktor, der es dem nationalsozialistischen Regime erleichterte, die Spitzenmilitärs in einen Krieg einzubinden, der besonders im Osten durch eine beispiellose Brutalisierung […] bestimmt war“ (S. 158). Vor allem aber decouvriert die Denkschrift das Bestreben der Generale, ihre Verantwortung für die Niederlage zu relativieren und sie Hitler zuzuschieben. Hier sieht der Verfasser auch den roten Faden der späteren Verteidigungsstrategie vor Gericht sowie der Memoirenliteratur in der frühen Bundesrepublik. Stringent arbeitet er in diesem Abschnitt heraus, wie rasch Verteidiger Hans Laternser ein ebenso weitverzweigtes wie leistungsfähiges Netzwerk zwischen den Angeklagten und hauptsächlich den Heeresoffizieren in etlichen Kriegsgefangenenlagern implementierte, das seine Effizienz weit über den Prozess hinaus entfaltete, etwa bei den nachfolgenden Prozessen oder der Zusammenarbeit in der Historical Division der United States Army.

Auf dieser Grundlage geht Brüggemann zu seinem dezidierten Schwerpunkt über, nämlich der Dekonstruktion des eigentlichen Prozessgeschehens, besonders der Interaktion zwischen Anklage und Verteidigung. Dabei arbeitet er heraus, wie dort Argumentationsstränge aufgebaut wurden, die jahrzehntelang die öffentliche Meinung über die Wehrmacht dominieren sollten: Die deutschen Soldaten hätten einen ihnen befohlenen Krieg geführt und sich als militärische Profis erwiesen, deren Erfolge von einem dilettantischen Hitler zuschanden gemacht worden seien; von den Verbrechen, die durchweg von der SS und anderen Schergen des NS-Regimes begangen worden seien, habe man entweder keine Kenntnis besessen oder keine Möglichkeit zum Einschreiten gehabt. Im Ergebnis sahen sich die Generale als Opfer einer noch dazu manipulativen Siegerjustiz, die auf die individuell-persönliche Entehrung ebenso abzielte wie auf diejenige der gesamten deutschen Armee: Die „einstige militärische Führungsriege [nahm] für sich in Anspruch […], Opfer von Umständen zu sein, die sie nicht verschuldet hatte und für die es auch sonst keinen berechtigten Grund gab“ (S. 432). Die Vehemenz, mit der diese Selbstzuschreibung auch intern vertreten wurde, lässt Brüggemann vermuten, „die Betroffenen hätten sich selbst von der Berechtigung dieser Interpretation überzeugt, sie zu einem festen Teil ihres Selbstverständnisses gemacht“ (ebd.). Er betont „das zentrale Anliegen, das diese Männer bewegte“, nämlich „[u]nter allen Umständen ein positives Fremdbild zu wahren“, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in ihrem privaten Umfeld (S. 434).

Dafür waren die Vertreter des Generalstabes jederzeit bereit, Allianzen untereinander einzugehen und Verantwortlichkeiten auf Alfred Jodl abzuschieben, den Chef des Wehrmachtführungsstabes, vor allen Dingen aber auf Wilhelm Keitel, den Chef des OKW. Die „eigennützige Hoffnung, sich selbst aus der Schusslinie zu halten“, markierte im Zweifel die Grenzen des ansonsten so gern hochgehaltenen Korpsgeistes (S. 439). Gerade am Beispiel des Umgangs ehemaliger Kameraden mit Keitel, dessen sich Brüggemann intensiv annimmt, erweist sich das Fragezeichen als berechtigt, das der Autor im Buchtitel hinter „Männer von Ehre“ gesetzt hat. Denn was Keitel einerseits noch weiter ins Abseits seiner Generalskameraden manövrierte und zynischer Weise deren Argumentation scheinbar stützte, war seine Entscheidung, „zumindest in begrenztem Umfang moralische Schuld und Fehler einzuräumen“ (S. 442). Dass er anschließend gehenkt wurde, für die Nachfolgeprozesse also nicht zur Verfügung stand, ermöglichte es außerdem, weiterhin Verantwortlichkeiten auf ihn abzuschieben – wie ohnehin „Tote des Öfteren zur Zielscheibe von Selbstentlastungsversuchen wurden“ (S. 444). Die „bis heute gängige Darstellung Keitels als besonders hervorzuhebendes Negativbeispiel eines willfährigen und regimetreuen Offiziers basiert hauptsächlich auf Nachkriegserzählungen anderer Offiziere“, resümiert Brüggemann treffend (S. 445); die Möglichkeit dafür ergab sich allerdings aus den Zuschreibungen Keitels während des Prozesses.

Die Deutungsangebote, die von den angeklagten Generalen entworfen und von deren Verteidigern formalisiert wurden, entfalteten in der Summe eine Wirkung, die ein halbes Jahrhundert anhielt. Sie widerstand nicht nur diversen klaren Korrekturen durch die Geschichtswissenschaft, sie fand dort sogar Anhänger. Daher ist es das Verdienst der hier vorliegenden Studie, en détail herausgearbeitet zu haben, wie konstruiert die in Nürnberg entworfenen Deutungen waren, wie skrupellos sie im Zweifel durchdekliniert wurden, wie schäbig man sich dabei gegenüber ehemaligen Kameraden verhielt und wie verlogen, im Zweifel hilflos, man sie sich selbst aneignete. Am Ende von Brüggemanns Dissertation ist jedenfalls kein Körnchen der Ehre übrig, welcher die Protagonisten von Nürnberg so gern das Wort redeten. Nun ist diese Erkenntnis hinsichtlich der Wehrmachtgeneralität wahrlich nicht mehr überraschend. Dennoch liegt hier eine wichtige Arbeit vor, weil sie akribisch dokumentiert, wie bewusst die vormalige Führungsriege die eigene, allzu oft verbrecherische Kriegführung reinzuwaschen versuchte, wie feige sie sich der eigenen Verantwortung entzog und wie nachhaltig all das auf die Geschichte der Bundesrepublik und deren Streitkräfte ausstrahlte. Nicht die Sieger haben in Nürnberg Geschichte gemacht, darauf weist Jens Brüggemann völlig zu Recht hin, sondern die Verlierer.