I. Rebitschek: Die disziplinierte Diktatur

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Titel
Die disziplinierte Diktatur. Stalinismus und Justiz in der sowjetischen Provinz 1938–1956


Autor(en)
Rebitschek, Immo
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 51
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
454 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Wagner, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Willkür und Legalität sind die Extreme, zwischen denen politische Ordnungen in ihrer Achtung des Rechts changieren. Die juristische Verfasstheit politischer Systeme ist keineswegs überzeitlich, Normen und Praktiken des Rechts in Gewaltregimen wie Rechtsstaaten unterliegen einem inneren Wandel – Diktaturen verrechtlichen, Demokratien illiberalisieren sich zuweilen. Selbst totalitäre Gewaltregime können sich von innen heraus mäßigen und die Ausübung ihrer Herrschaft an selbstgesetzte Regeln binden – Hannah Arendt stellte dies für die stalinistische Sowjetunion bereits in den 1960er-Jahren fest.1 Der Jenaer Historiker Immo Rebitschek untersucht am Beispiel der sowjetischen Staatsanwaltschaft nun, wie sich die stalinistische Herrschaft in concreto im Widerstreit von „Willkür und Regelhaftigkeit“ (S. 30), mithin von Innenministerium und Staatsanwaltschaft, neu konfigurierte. Seine Promotionsschrift argumentiert: Es waren die Staatsanwälte der Sowjetunion – als Aufsichtsorgan des staatlichen Institutionenapparats und Anklagevertreter in „nicht-politischen“ Strafsachen –, derer sich die Kommunistische Partei bedient habe, um Staat und Gesellschaft auf die Einhaltung gesetzter Normen zu verpflichten. Diese „Selbstdisziplinierung“ (S. 20) der sowjetischen Diktatur habe ihren Ausgang am Ende des Großen Terrors 1938 genommen und nach Stalins Tod 1953 in einer umfassenden Reformpolitik gemündet.

Rebitscheks Studie, die sich als Beitrag zur Strafrechts- und Stalinismusforschung versteht, liegt in erfrischender Hinsicht quer zu älteren Arbeiten, die an epochalen Zäsuren oder den geografischen Grenzen Kernrusslands innehalten: Anders als die Vorarbeiten zur sowjetischen Kriminaljustiz von Peter H. Solomon oder Yoram Gorlizki2 untersucht er sowohl die Jahre vor als auch nach Stalins Tod und macht dadurch deutlich, worin die (Dis-)Kontinuitäten staatsanwaltlichen Wirkens bestanden. Mit seiner Regionalstudie zur Regionalstaatsanwaltschaft Molotow (heute: Perm) trägt Rebitschek dazu bei, die sowjetische Herrschaft von ihrer Peripherie her zu verstehen.3 Vor allem aber erweitert er mit dem Blick auf die Staatsanwaltschaft die Perspektive auf die Herrschaftspraxis des Stalinismus um ihre „regelhafte“ Dimension, während frühere Arbeiten ihren Schwerpunkt zumeist auf Innenministerium, Geheimdienste und Willkür gelegt hatten.4 So adressiert Rebitschek Fragen, die sich auch andernorts stellen: Wie sich Diktaturen an ihrem eigenen Terrorerbe juristisch abarbeiten und das Gepräge ihrer Herrschaft transformieren können, wurde jüngst etwa auch am Beispiel Chinas untersucht.5

Der Große Terror der Jahre 1936 bis 1938 war die formative Erfahrung der sowjetischen Staatsanwaltschaft: Zwar hatten sowjetische Staatsanwälte als Teil der troiki, der Dreier-Kommissionen aus NKWD-, Staatsanwaltschafts- und Parteivertretern, nicht weniger als 680.000 außergerichtliche Todesurteile legalisiert und ihr Vorgesetzter, Generalstaatsanwalt Andrei Wyschinski, die Moskauer Schauprozesse als Chefankläger inszeniert. Doch als die Partei im Herbst 1938 – noch vor dem Ende der Massenoperationen – das Volkskommissariat für Inneres (NKWD) für die Missachtung des Prozessrechts und die Abkürzung der Ermittlungsverfahren kritisierte, setzte ein „legalistisches Intermezzo“ (S. 22) ein, dessen Träger die Staatsanwälte waren. Bis Anfang 1940 prüften sie als Gegenpol zum NKWD die laufenden Verfahren gegen „Konterrevolutionäre“ auf Einhaltung des neuen Prozessrechts, nicht jedoch auf Erfüllung des Tatbestandes. Die Staatsanwälte, so argumentiert Rebitschek, prägten hierdurch ein professionelles Amtsverständnis im Umgang mit dem Innenministerium aus, das ihre Arbeit in den Folgejahren prägen sollte.

Das Konkurrenzverhältnis der Akteure der Willkür und der Regelhaftigkeit beschreibt der Jenaer Historiker für den Zweiten Weltkrieg, den Spätstalinismus und die Entstalinisierung – jeweils anhand dauerhafter Aufgaben, etwa der Bekämpfung von Jugendkriminalität sowie der Miliz- und Haftaufsicht, und epochenspezifischer Probleme, wie der Kriminalisierung von Arbeitsvergehen, der Kampagne gegen „Diebstahl sozialistischen Eigentums“ und der Reform des Gulag. Für all diese Phasen und Felder staatsanwaltschaftlichen Wirkens gilt: Es war die Negativerfahrung des Großen Terrors, die sich in das kollektive Gedächtnis der sowjetischen Staatsanwälte eingebrannt hatte, die immer dann aktiviert wurde, wenn es darum ging, struktureller Willkür normbasiertes Justizhandeln entgegenzusetzen. Als etwa zwischen Juni 1940 und Januar 1943 unionsweit 5,1 Millionen Menschen wegen „Verlassens“ und „Fernbleibens“ von der Arbeitsstelle verurteilt wurden, kommentierte der Regionalstaatsanwalt Kuljapin dies auf einer Versammlung der Molotower Staatsanwälte: „Wir haben sehr viele unschuldige Menschen verurteilt, Hunderte wenn nicht Tausende. Wir lassen Massenwillkür zu.“ (S. 143) Die Staatsanwälte intervenierten, wie schon 1938, nicht gegen den von der Partei gesetzten Tatbestand, sondern für die Einhaltung prozessrechtlicher Standards.

Litt die sowjetische Staatsanwaltschaft in den Jahren des Zweiten Weltkriegs noch an Personal- und Bildungsdefiziten, so begründete eine Ausbildungsoffensive nach 1945 eine umfassende Professionalisierung der sowjetischen Anklagebehörden. Staatsanwälte sollten fortan über höhere juristische Abschlüsse verfügen, um dem eigenen Berufsethos und vor allem den Erwartungen der Partei gerecht zu werden: Ihr politischer Auftrag bestand darin, für den reibungslosen Ablauf von Strafverfahren zu sorgen, die ohne Ausnahme zur Verurteilung führen sollten – denn Verfahrenseinstellung oder Freispruch unterminierten aus Sicht der Parteizentrale die sowjetische Justizhoheit. In der spätstalinistischen Kampagne gegen „Diebstahl sozialistischen Eigentums“ (1947–1952) etwa erwirkten sowjetische Staatsanwälte rund 2,2 Millionen Verurteilungen – ein Freispruch zog Abmahnung oder den Vorwurf der „Milde“ nach sich. Die staatsanwaltliche Durchsetzung von Rechtsnormen kam mithin überall dort an ihre Grenzen, wo Ziele oder Mitglieder der Partei betroffen waren. Denn die Staatsanwaltschaft war das Werkzeug einer Partei, die über der Justiz und außerhalb des Rechts stand.

Nach Stalins Tod im Jahr 1953 optierte die Parteiführung für einen umfassenden Reformkurs, wertete die sowjetische Justiz auf und gab dem Widerstreit aus „Willkür und Regelhaftigkeit“ neue Spielregeln: Fortan konnte das Innenministerium die Staatsanwaltschaft nicht mehr außer Acht lassen – es war die Staatsanwaltschaft, die im Auftrag der Partei nunmehr das Innenministerium „disziplinieren“ (S. 350) sollte. Die Rhetorik einer „sozialistischen Gesetzlichkeit“, die Reform des Gulag-Systems und die Erweiterung ihrer Kompetenzen unterstrichen die neue Stärke der Staatsanwälte. Das Ergebnis dieser Entwicklung war mitnichten ein freiheitlicher Rechtsstaat, sondern, so die These Rebitscheks, „eine regelhafte und planbar operierende, eine disziplinierte Diktatur“ (S. 426), die Erwartungssicherheit unter den Beherrschten schuf, indem sie ihren Gegnern offenbarte, nach welchen Regeln der Staat kriminalisiert.

Durch umsichtige Verzahnung von Regional- und Unionsperspektive macht Immo Rebitschek deutlich, wie lokale Staatsanwälte dem Erwartungsdruck des Zentrums begegneten: Mit dem „Trend zur statistischen Perfektion“ (S. 415) hätten sie fast ausnahmslos Urteile erwirkt – 98 % der Strafverfahren gegen Minderjährige etwa hätten in der Russischen Teilrepublik 1954 zu einer Verurteilung geführt. Vielfach hätten Staatsanwälte die Eröffnung wenig aussichtsreicher Verfahren unterbunden oder Urteile auf Basis unzureichender Beweislage erwirkt, um ihre statistischen Triumphe nicht zu trüben. Doch forderten sowjetisches Quantifizierungsfaible und Rechtfertigungsdruck nach Freisprüchen nicht geradezu Erfolgsmeldungen, die die staatsanwaltliche Arbeit in geschöntem Licht erscheinen ließen und daher cum grano salis zu verstehen sind?

Der Bochumer Historiker Stefan Plaggenborg begriff die veränderte Herrschaftspraxis nach Stalins Tod als „Selbstbeschränkung“ eines Regimes, das dem Recht mehr Bedeutung geschenkt habe.6 Mit seiner empirisch gesättigten Studie weist Immo Rebitschek hingegen bestechend nach, dass die gemeinhin als „Entstalinisierung“ beschriebene Transformation von Herrschaft in der post-stalinistischen Sowjetunion einer anderen, komplexeren Logik folgte: Die Kommunistische Partei habe ihre Herrschaftsausübung nicht schlicht eingeschränkt, sondern verrechtlicht, sie habe dem Recht nicht etwa mehr Beachtung eingeräumt, sondern das „Kräfteverhältnis“ (S. 32) von Staatsanwaltschaft und Innenministerium neu ausgerichtet – die sowjetische Diktatur habe ihre „Selbstdisziplinierung“ betrieben. Immo Rebitschek legt einen grundlegenden Beitrag zur Debatte der Transformation diktatorischer Ordnungen vor, der breite Rezeption nicht nur unter Osteuropahistorikern verdient – eine englischsprachige Übersetzung sei dem Verlag dringend empfohlen.

Anmerkungen:
1 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 12. Aufl., München 2008, S. 651.
2 Peter H. Solomon, Soviet Criminal Justice Under Stalin, Cambridge 1996; Yoram Gorlizki, De-Stalinization and the Politics of Russian Criminal Justice, 1953–1964, Diss. University of Oxford 1992.
3 vgl. zuletzt Christian Teichmann, Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920–1950, Hamburg 2016.
4 Rolf Binner / Bernd Bonwetsch / Marc Junge, Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin 2009; Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012.
5 Daniel Leese / Puck Engman (Hrsg.), Victims, Perpetrators and the Role of Law in Maoist China. A Case-Study Approach, Berlin 2018.
6 Stefan Plaggenborg, Sowjetische Geschichte nach Stalin, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1–2 (2005), S. 26–32; ders., Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt am Main 2006, S. 212.

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