Zürcher Reformationsgeschichten

Niederhäuser, Peter; Schmid, Regula (Hrsg.): Querblicke. Zürcher Reformationsgeschichten. Zürich 2019 : Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1498–4 203 S. CHF 48.00; € 48,00

Leu, Urs B.; Scheidegger, Christian (Hrsg.): Buchdruck und Reformation in der Schweiz. . Zürich 2019 : Theologischer Verlag Zürich, ISBN 978-3-290-18218-2 456 S. € 30,00

Niederhäuser, Peter (Hrsg.): Verfolgt, verdrängt, vergessen?. Schatten der Reformation. Zürich 2018 : Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1445-8 237 S. € 38,00

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jan-Friedrich Missfelder, Departement Geschichte, Universität Basel

Seit Anfang des Jahres läuft in den Schweizer Kinos der Spielfilm „Zwingli“ mit großem Erfolg. Mehr als 200.000 Zuschauerinnen und Zuschauer (Stand April 2019) sahen bisher die Verfilmung der Zürcher Reformationsgeschichte, die als populärkulturell-didaktischer Beitrag zum Reformationsjubiläum in der Schweiz gedeutet werden kann.1 Der Film stellt Huldrych Zwingli und sein Wirken als Leutpriester am Zürcher Grossmünster konsequent in den Mittelpunkt und reproduziert damit ein sehr traditionelles Bild der Reformationsgeschichte als Geschichte großer Reformatoren. Während dieses Bild auch weite Teile der gegenwärtigen Memorialpolitik und das Reformationsmerchandising – von Zwingli-Ausstechformen („Re-förmchen“) bis hin zur Eroberung des Zürcher Stadtraums durch überlebensgroße bunte Zwinglistatuen2 – prägt, hält die akademische Geschichtswissenschaft und Kirchengeschichte eine gewisse Distanz zum Helden der Zürcher Reformation. Die letzten, teils populärwissenschaftlichen Biographien Zwinglis sind schon einige Jahre alt und bieten (etwa im Gegensatz zu einigen aktuellen Lutherbiographien) kaum grundlegend neue Deutungsangebote.3 Neue Handbuchdarstellungen bilden zwar den gegenwärtigen Stand der Forschung zuverlässig ab und vermeiden systematisch jede personengeschichtliche Fixierung oder gar Heroisierung, verbleiben aber zugleich im traditionellen Rahmen der Ereignis- und vor allem Theologiegeschichte.4 Insgesamt stellt sich auch in der neueren Literatur die Zwinglisch/Zürcherische Reformationsgeschichte weiterhin als Erfolgsgeschichte und Symbiose von Stadt und Mann dar.5

Im Gegensatz dazu setzen die anzuzeigenden Sammelbände einen anderen Akzent. Auch sie sind Teil der Reformationsjubiläumskultur: „Schatten der Reformation“ stellt die Begleitpublikation einer gleichnamigen Ausstellung im Zürcher Stadthaus dar und der gewichtige Sonderband der „Zwingliana“ erscheint anlässlich einer Ausstellung zur Rolle des Buchdrucks in der Zürcher Reformation in der Zürcher Zentralbibliothek. „Querblicke“ schließlich ist das diesjährige Neujahrsblatt der „Antiquarischen Gesellschaft in Zürich“ und situiert sich damit an der Schnittstelle von Akademie und öffentlicher Geschichtskultur. Gemeinsam ist allen drei Bänden die Absicht einer gewissen Dezentrierung der Zürcher Reformationsgeschichte. Der Zwingliana-Band zum Buchdruck leistet wirkliche Grundlagenforschung, ohne dabei gleichwohl neuere medienhistorische und -theoretische Ansätze aufzugreifen oder den Buchdruck in eine weitere Medienkonstellation zu integrieren, in der auch visuelle, akustische oder performative Medien zu berücksichtigen wären.6 Das muss, bezogen auf die Schweiz, zunächst kein Nachteil sein, denn eine Bestandsaufnahme des reformatorischen Buchdrucks war bis anhin ein Forschungsdesiderat.

Der Zwingliana-Band bietet in diesem Kontext eine beeindruckende Synthese. Dies betrifft zunächst die umfangreiche Studie Urs Leus zur Zürcher Offizin Christoph Froschauers, der die reformatorische Publizistik in der Stadt fast monopolartig prägte. Leu stellt die Forschung zu Froschauer, die bisher weitestgehend auf den Arbeiten des Gentleman-Historikers Paul Leemann-van Elck aus den 1930er-Jahren beruhte, auf eine völlig neue Grundlage. Neben weiteren Artikeln zum reformatorischen Druck in Basel (Christine Christ-von Wedel) und Genf (Andreas Würgler) sei hier noch die umsichtige Studie von Jan-Andrea Bernhard zum Bündner Buchdruck und Buchhandel hervorgehoben, die vor allem die internationale Vernetzung der reformatorischen Medienlandschaft sehr augenscheinlich werden lässt.

Während der Zwingliana-Band damit vielfältiges Material für eine systematischere Analyse der Bedeutung von Druckmedien auch für die Schweizerische Reformation bereitstellt, die etwa für das Reich schon seit Langem gut erforscht ist, problematisiert der Band „Schatten der Reformation“ explizit die immer noch vorherrschende modernisierungstheoretische Meistererzählung der Befreiung vom Joch der römischen Kirche. Er widmet sich den Verfolgten der Reformation, aber auch all dem, was im reformatorischen Erfolgsnarrativ verdrängt oder vergessen wurde: Nonnen, für deren spirituelle Lebensentwürfe es nach der Aufhebung ihrer Klöster keinen Platz mehr gab (Sybille Knecht), Juden, für die sich die Reformatoren allenfalls wegen der hebräischen Sprache interessierten (Peter Niederhäuser), aber auch die Persistenz und Transformation des Hexen- und Geisterglaubens (Otto Sigg, Eveline Szarka). Nicht alle Beiträge des Bandes sind gleichermaßen ergiebig: Heraus ragen vor allem Michael Baumanns sehr konzise Analyse der theologischen und sozialen Differenzierung von Reformation und Täufertum und Thomas Maissens ebenso eloquente wie pointierte Polemik gegen allzu wohlfeile modernisierende Aneignungen der Reformation in Politik und Kirche aus Anlass des Reformationsjubiläums.

„Querblicke“ bietet hingegen eine andere Form der Dezentrierung. Hier wird der Ereigniszusammenhang „Zürcher Reformation“ in insgesamt 29 Miniaturen granuliert. Episodenhaft und quellennah fokussieren die Autorinnen und Autoren Momente der Aneignung und Abgrenzung von der reformatorischen Dynamik und widmen sich dabei in besonderer Weise den Auswirkungen der Reformation auf der Zürcher Landschaft. Nicht immer bringt dieses Verfahren spektakuläre Ergebnisse hervor. Manchmal werden einfach nur gute Geschichten erzählt wie jene vom Streit um die Johanniterkommende Bubikon (Boris Bauer), die deutlich macht, wie ambivalent und lückenhaft die reformierte „Herrschaft“ Zürichs über die Landschaft blieb. Andere Beiträge gehen von einzelnen Objekten aus. So kann etwa Erika Hebeisen zeigen, dass der vermeintliche Helm und das Schwert des auf dem Kappeler Schlachtfeld gefallenen Zwingli erst als spätere Trophäen gegenreformatorischer Propaganda des katholischen Stands Luzerns nachweisbar sind und ihre Authentizität damit aus guten Gründen bezweifelt werden darf.7 Der Band besticht vor allem aber auch durch umfangreiche und phantastisch reproduzierte Illustrationen, die das ikonographische Erbe der Zürcher Reformation vor Augen führen.

Insgesamt bieten alle drei Bände eine Fülle von teilweise beinahe positivistisch dokumentierten Reformationsmikrogeschichten, die nur noch auf ihre Integration in eine ebenso synthetisierende wie multiperspektivische Zürcher Reformationsgeschichte jenseits des Zwinglizentrismus warten.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu demnächst ausführlicher Jan-Friedrich Missfelder, Ueli der Reformator. Wenig mehr als eine Filmkritik, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte/Revue d’histoire 26/2 (2019), i.E.
2 Urs Bühler, Die wundersame Vermehrung des Huldrych Zwingli. Nach den Kühen und Bären werden bald Statuen des Reformators die Zürcher Stadtkreise bevölkern, in: NZZ, 22.03.2019, https://www.nzz.ch/zuerich/zwingli-erobert-die-stadt-aktion-mit-statuen-im-august-ld.1468949 (16.05.2019)
3 Vgl. Peter Opitz, Huldrych Zwingli. Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus, Zürich 2015; Franz Rueb, Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt, Baden 2016; zu Luther dagegen Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012; Lyndal Roper, Der Mensch Martin Luther. Die Biographie, Frankfurt am Main 2016 [engl. Orig.: Martin Luther. Renegade and Prophet, London 2016].
4 Vgl. Emidio Campi, Die Reformation in Zürich, in: ders. / Amy Nelson Burnett (Hrsg.), Die schweizerische Reformation. Ein Handbuch, Zürich 2017, S. 71–133.
5 Vgl. dagegen in seiner Differenzierung und analytischen Schärfe bis heute kaum erreicht, aber erstaunlich wenig rezipiert: Hans-Christoph Rublack, Zwingli und Zürich, in: Zwingliana 16 (1985), S. 393–426.
6 Vgl. etwa Andrew Pettegree, Reformation and the Culture of Persuasion, Cambridge 2005 sowie jetzt Thomas Kaufmann, Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen, Tübingen 2019.
7 Adi Kälin, Zwinglis Helm ist ab nächstem Jahr nicht mehr im Landesmuseum zu sehen, in: NZZ, 29.12.2018, https://www.nzz.ch/zuerich/zwinglis-helm-ist-ab-naechstem-jahr-nicht-mehr-im-landesmuseum-zu-sehen-ld.1448008 (16.05.2019).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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