Cover
Titel
Wellenkrieg. Agentenfunk und Funkaufklärung des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968


Autor(en)
Müller, Armin
Reihe
Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 5
Erschienen
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Stöver, Historisches Institut, Bereich Globalgeschichte, Universität Potsdam

Der Kalte Krieg war umfassend: eine globale politisch-ideologische, ökonomische, technologisch-wissenschaftliche und kulturell-soziale Auseinandersetzung, die bis in den Alltag spürbar wurde. Heiße „kleine“ Kriege fanden nur in der sogenannten Dritten Welt statt. Vor allem aber wurde der große Atomkrieg verhindert, weil sich die meisten Beteiligten darüber im Klaren waren, dass nach seinem Ende nicht viel von den Lebensgrundlagen übrigbleiben würde. Dass der Kalte Krieg auch zu einem Krieg der Geheimdienste wurde, hatte seine wichtigste Begründung wohl darin, dass vor allem die beiden Hauptbeteiligten, die USA und ihre Verbündeten sowie die Sowjetunion und ihre Verbündeten, sich einerseits kontinuierlich in einer Verteidigungsposition wähnten, die nur durch die möglichst vollständige Ausspähung der anderen Seite gesichert werden konnte; Misstrauen und Furcht erwiesen sich als die zentralen Pfeiler für die Dynamik des Konflikts: Das bekannteste Beispiel ist wohl die amerikanische Vorstellung von einer „Raketenlücke“, die es allerdings niemals gab. Andererseits waren Geheimdienstoperationen häufig auch offensiv darauf ausgelegt, den Gegner, wo immer es möglich war, zu schwächen. Die Operationen der amerikanischen Central Intelligence Agency (CIA), die die eigentlich geheime Abrechnung Chruschtschows mit Stalin auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) 1956 publik machten, wurden legendär. Es ist vor diesem Hintergrund keine Überraschung, dass der Geheimdienstkrieg bis zum Ende des Kalten Krieges intensiv weiterlief und mit neuen Feindbildern bis heute anhält.

Die Alltagsarbeit der Geheimdienste, unter anderem Agentenfunk und Funkaufklärung, war allerdings weitaus weniger spektakulär. Für die Westzonen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und die Bundesrepublik rekrutierte der im Jahr zuvor gegründete US-Geheimdienst CIA 1948 die sogenannte „Organisation Gehlen“ (benannt nach ihrem Leiter Reinhard Gehlen) und finanzierte den dann zum Bundesnachrichtendienst (BND) umbenannten Dienst noch bis zum März 1953. Die „Org.“ (CIA-Jargon: ZIPPER) und den BND hielten die Amerikaner insbesondere für die Nachrichtensammlung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) für wichtig, nutzten ihn aber auch für den Aufbau von „Stay Behind“-Gruppen für den Kriegsfall als Teil des Projekts GLADIO. Alles dies ging auf die 1948 in Kraft gesetzten „Covert Mission Protocols“ des amerikanischen National Security Council (NSC 10/2) zurück. Der BND war damals und ist bis heute ohne die CIA und andere US-Geheimdienste kaum handlungsfähig.

Ironischerweise weiß man heute wesentlich mehr über die CIA als den BND. Während der US-Geheimdienst seit Jahrzehnten gezwungen ist, Interna über Operationen in Untersuchungsausschüssen preiszugeben und Präsident Clintons 1995 erlassene Executive Order 12958 zumindest die Herausgabe von Akten von „bleibendem historischen Wert“ erzwang, die heute die Basis der im Jahr 2000 eröffneten CREST-Datenbank ist, in der jeder Interessierte freigegebene CIA-Akten einsehen kann, ist die Erforschung des BND erst in ihren Anfängen. Seit 2011 arbeitet eine vom BND selbst zusammengestellte „Unabhängige Historikerkommission“ (UHK) daran, die Geschichte des BND und seiner Vorläuferorganisationen von 1945 bis 1968 aufzuarbeiten. Seitdem sind mehrere Studien vorgelegt worden. Im Jahr 2017 erschien die Promotionsschrift von Armin Müller, heute freier Mitarbeiter des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), unter dem Titel „Wellenkrieg“. Er beschäftigt sich mit „Agentenfunk und Funkaufklärung des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968“, also der wenig spektakulären Alltagsarbeit der Schlapphüte unter dem „Org.“-Gründer, Namensgeber und ersten BND-Präsidenten Gehlen bis 1968.

Müller setzt beim BND, den er mit seinem Vorgänger in erster Linie als militärischen Aufklärungsdienst sieht, sehr grundsätzlich und in großen Teilen der Studie sehr kleinteilig und technisch an. Es geht um Einsatzprinzipien, Leitstellen, Ausbildung, Geräte, Verschlüsselungen und Abwehr. Er versucht aber auch, das Selbstverständnis der Mitarbeiter und das Verhältnis zu den Streitkräften zu ermitteln. Als Quellengrundlage dienen ihm fast nur deutsche Quellen: Neben den jetzt zugänglich gemachten Materialien des BND-Archivs in Pullach hat er die Bestände des Bundeskanzleramts im Bundesarchiv Koblenz sowie des Bundesverteidigungsministeriums im Freiburger Militärarchiv genutzt. Aus dem zugänglichen und sehr umfangreichen CIA-Fundus der US-Archive nutzt die Studie dagegen nur das im Internet vorhandene Material zur sowjetischen Invasion in der Tschechoslowakei 1968. Warum der in den National Archives in College Park in erstaunlichem Umfang vorhandene und (allerdings nicht im Internet) frei zugängliche Bestand nicht einmal als Vergleichsquelle zu Rate gezogen wurde, bleibt unklar. Dies mag außer geografischen Gründen wohl auch daran gelegen haben, dass der Sinn der UHK eben in erster Linie darin liegt, endlich die BND-Archivmaterialien auswerten zu dürfen.

Der Nachteil einer solchen Vorgehensweise liegt auf der Hand. Müllers Studie referiert so vor allem das BND-Bild über den BND und seinen Vorgänger, die Organisation Gehlen. Dies wird an unterschiedlichen Stellen der Arbeit erkennbar. Schon vorher war in der Forschung bekannt, dass die Organisation Gehlen und der BND viele Entwicklungen in der SBZ/DDR, für die sie primär zuständig war, einfach nicht mitbekam. Unter anderem wurde der BND, der ja nicht zuletzt Eruptionen in der SBZ/DDR im Vorfeld erkennen sollte, vom Aufstand des 17. Juni 1953 völlig überrascht – und mit ihm dann natürlich auch die CIA. Der Autor erklärt das so: „Gesellschaftliche Entwicklungen bis hin zum Volksaufstand interessierten nur am Rande, da ihnen kaum Chancen eingeräumt wurden. Sollte Widerstand eine wirkmächtige Größenordnung erreichen, würde er sowieso niedergeschlagen, was letztendlich vor dem Hintergrund der Ereignisse von 1953, aber auch 1956 oder 1968 eine nicht unzutreffende Sichtweise war [...].“ (S. 45). So kann man die Unkenntnis eines zentralen Geheimdienstes im Rückblick natürlich auch rechtfertigen, verkennt dabei aber, dass seine Aufgabe eigentlich eben darin lag, ein jeweils aktuelles Lagebild zu erstellen. Immerhin sah die CIA die Entwicklung 1956 und 1968 ganz anders, was wohl auch daran lag, dass der BND nicht mehr ganz so wichtig war.

An manchen Stellen der Studie hätte man sich auch ein wenig mehr politische Hintergrundinformation gewünscht. So hat man als Leser den Eindruck, dass den unterschiedlichen Bedingungen des durch Offensiv- und Entspannungsphasen gehenden Kalten Krieges bis 1968 mehr Raum hätte geschenkt werden müssen, allein um die vorhandenen unterschiedlichen politischen Vorgaben einarbeiten zu können. Richtig ist zweifellos, wie der Autor unterstreicht, dass in ihrem Selbstverständnis die Agentenfunker sich in einem „realen, heißen Krieg“ wähnten (S. 151). Aber auch dies gehört eben zur Geschichte des Kalten Krieges. An anderen Stellen hätte man sich mehr bundesrepublikanische Geheimdienstinterna gewünscht, so etwa zu der in der Studie nur kurz angedeuteten Konkurrenz zwischen Gehlen und dem Bundesamt für Verfassungsschutz unter seinem ersten Präsidenten Otto John. Immerhin hatte sie nicht unerheblichen Einfluss auf die Geheimdienstarbeit.

Alles in allem ist die Studie ein weiteres Puzzleteil auf dem Weg, den frühen BND jenseits der Legenden, die nicht zuletzt Gehlen in seiner Autobiografie selbst gestreut hat1, kennen zu lernen. Auch Müller zeigt sich letztendlich durchaus kritisch gegenüber dem Dienst, auch wenn er sich in der abschließenden Bilanz eher vage und vorsichtig positioniert. Versteckt in den Einzelkapiteln hatte er sich dagegen schon weitaus mehr vorgewagt, etwa wenn er sich von der „Kaltschnäuzigkeit des BND“ (S. 150) irritiert zeigt.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu nun auch die ebenfalls aus der UHK hervorgegangene Gehlen-Biografie: Rolf-Dieter Müller, Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik. Die Biografie (Band 1: 1902–1950, Band 2: 1950–1979), Berlin 2017; sowie die Rezension dazu von Matthias Uhl, in: H-Soz-Kult, 11.12.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-28646 (13.05.2019).

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