V. Albrecht-Birkner: Protestantismus in der DDR

Cover
Titel
Freiheit in Grenzen. Protestantismus in der DDR


Autor(en)
Albrecht-Birkner, Veronika
Reihe
Christentum und Zeitgeschichte (CuZ) 2
Erschienen
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rahel Frank, Berlin

Die Kirchen waren die einzigen Institutionen in der ehemaligen DDR, die sich bis zum Herbst 1989 eine gewisse Eigenständigkeit im System von SED und MfS bewahren konnten. Sie wirkten für DDR-Bürger wie für außenstehende Betrachter bis 1989 wie Inseln im sozialistischen Meer. Entsprechend groß war das Forschungsinteresse an den Bedingungen und Möglichkeiten kirchlichen Lebens in der DDR nach der Wende; inzwischen ist die Anzahl der zum Staat-Kirche-Verhältnis erschienenen Arbeiten nicht mehr überschaubar.

Dabei ist die historische Rolle der evangelischen Kirchen in der DDR seit Öffnung der Archive höchst kontrovers diskutiert worden, ein allgemein akzeptiertes Narrativ sei bis heute nicht gefunden, so Veronika Albrecht-Birkner in der Einleitung zu ihrer hier zu besprechenden Gesamtdarstellung (S. 7). Zum einen, weil, wie Albrecht-Birkner darlegt, die eigene biografische Verankerung der jeweiligen Autoren eine entscheidende Rolle für die jeweilige Sicht auf die evangelische Kirche in der DDR spielte. Zum anderen wegen der sehr schnell an Dominanz gewinnenden Diskussion über die Kontakte zu staatlichen Stellen, insbesondere zum Ministerium für Staatssicherheit, einzelner leitender Kirchenfunktionäre in den Landeskirchen und auf der Ebene des 1969 gegründeten Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR (S. 17). Unter diesen Umständen vermochte es bisher noch keine zusammenfassende Darstellung des Themas „Kirche in der DDR“, den ostdeutschen Protestantismus von seinen verschiedenen Existenzformen her griffig zu beschreiben.

An dieser Stelle setzt Veronika Albrecht-Birkner an: Auf knapp 290 Seiten fasst sie klar formulierend und pointiert die 45-jährige Geschichte der evangelischen Kirchen in der SBZ und der DDR zusammen. Sie geht dabei auf die acht auf dem Gebiet der DDR bestehenden evangelischen Landeskirchen ein, ebenso auf die Freikirchen und den Kirchenbund. Weitere Themen sind theologische Konzepte und Leitlinien, die Öffnung der Kirche in die sozialistische Gesellschaft hinein sowie die internationale Ökumene und die seit den 1980er-Jahren zunehmend relevante Basisgruppenbewegung.

Albrecht-Birkner ist Professorin für Kirchengeschichte am Seminar für Evangelische Theologie der Philosophischen Fakultät in Siegen mit einem Forschungsschwerpunkt auf dem deutschen Pietismus. Sie hat 2014 bereits eine Kirchengeschichte „Vom Apostelkonzil bis zum Montagsgebet“1 vorgelegt und damit bewiesen, dass es möglich ist, kompakt und gleichzeitig leserfreundlich zu schreiben. Ein ähnliches Konzept verfolgt sie in ihrer Arbeit zum vergleichsweise kurzen Zeitraum von 1945 bis 1989. Die Arbeit basiert auf der inzwischen kaum noch überschaubaren Fülle von Forschungsliteratur zum Thema „Kirche in der DDR“, erschienen zwischen 1990 und 2017, und schließt auch jüngste Studien zum Erinnerungsdiskurs mit ein.

Der Titel „Freiheit in Grenzen“ spielt gekonnt mit den beiden bekannten Topoi der DDR-Historiografie, „Grenze“ und „Freiheit”, und stellt dennoch einen neuen Gedanken in das Zentrum der Arbeit: den Begriff der protestantischen Freiheit, von ihr „genuin protestantische Signatur“ (S. 8) genannt. Sie bezeichnet damit das Selbstverständnis der evangelischen Christen in der DDR: Diese sahen sich als Bürger, die sich durch das Evangelium nicht nur befreit von der äußeren Indoktrination durch den Staat sahen, sondern sich sogar dazu berufen fühlten, der sie umgebenden Gesellschaft kritisch gegenüber zu stehen. Ausführlich beschreibt sie dabei die relevanten theologischen Denkfiguren des „Wächteramtes“ der Kirchen und der „Zwei-Reiche-Lehre“ (S. 144): Erstere stand für ein kritisches Engagement der Kirche in der Gesellschaft und dem Staat gegenüber, Letztere wurde vielfach als Argument gegen eine „Einmischung“ der evangelischen Kirche in staatliche und gesellschaftliche Angelegenheiten herangezogen.

Albrecht-Birkner wendet in ihrer Darstellung den Kunstgriff des Perspektivenwechsels an: Die sieben Kapitel, jeweils zwischen 20 und 50 Seiten lang, sind geschrieben mit Blick auf die unterschiedlichen Akteure, Ebenen und Narrative des DDR-Protestantismus wie auch der Kirchenpolitik des SED-Staates. Auf diese Weise vermeidet die Autorin eine ermüdende Chronologisierung des Geschehens. Zugleich bietet sie in der Gesamtschau einen multiperspektivischen Zugang zum Thema „Protestantismus in der DDR“.

Das erste Kapitel umreißt auf 15 Seiten zusammengefasst Grundzüge ostdeutscher Kirchengeschichtsschreibung, deren Schlussfolgerung eben die ist, dass es noch kein allgemeingültiges Geschichtsnarrativ gebe. Sie erklärt damit plausibel ihren multiperspektivischen Zugriff auf die Materie. Das zweite Kapitel beschreibt die zentralen kirchenpolitischen Entwicklungen zwischen 1945 und 1989. Welche Phasen lassen sich unterscheiden und durch welche Persönlichkeiten und Gruppen wurden diese getragen? Durch gezielte Reduktion auf zentrale Leitlinien, -fragen und Akteure geht der Blick auf die langen Linien der Kirchenpolitik nicht verloren. Ein Beispiel für die Kunst der Reduktion ist das dritte Unterkapitel, das sich dem „Erziehungsziel Atheismus“ widmet und anhand dieser zentralen Konfliktstelle die wesentlichen Strategien der SED-Kirchenpolitik exemplarisch verdeutlicht: die Imitation des vermeintlich christlichen Moralkodexes („10 Gebote für den sozialistischen Menschen“), die ersatzweise Einführung gesellschaftlicher Riten wie Namensgebung, Jugendweihe und Bestattung und die bürokratische Ausgrenzung christlicher Bürger vom Zugang zu Bildung und Ausbildung.

Das dritte Kapitel bietet analog zu der im zweiten Kapitel dargestellten staatlichen Kirchenpolitik einen Abriss der Entwicklung des landeskirchlichen Protestantismus von 1945 bis 1989. Diese war per se stark von den kirchenpolitischen Weichenstellungen geprägt. Dabei vermerkt die Autorin, dass die sich daraus ergebende Periodisierung nicht notwendigerweise auch die historiographisch einzig angemessene sei, da jenseits der staatlichen Vorgaben eigene kirchliche Schwerpunktsetzungen erkennbar sind. So führt Albrecht-Birkner in schnellem Schritt durch viereinhalb Jahrzehnte und legt Schwerpunkte auf die Repressionen der kirchlichen Jugendarbeit in den 1950er-Jahren, auf die Gründung des Kirchenbundes 1969 und das Staat-Kirche-Gespräch vom März 1978.

Das vierte Kapitel ist mit 50 Seiten das umfangreichste, widmet sich aber zugleich auch dem größten Thema: der Vorstellung des je eigenen Weges der acht evangelischen Landeskirchen. Hier folgt die Darstellung ebenfalls dem Prinzip, Akteure und Leitlinien vorzustellen und dabei auf die je unterschiedlichen Positionen der einzelnen Kirchen und Bischöfe angemessen einzugehen. Dieses Kapitel ist besonders lesenswert für eine schnelle Information über die regionalen und vielfach bereits von der NS-Zeit her sehr verschiedenen Prägungen und vor diesem Hintergrund ganz unterschiedlichen Entwicklungen in der DDR-Zeit.

Das fünfte Kapitel nimmt noch einmal einen Perspektivwechsel vor, indem es wieder wegführt vom Blick auf die einzelnen Landeskirchen und hin zum Kirchenbund, der zunächst sichtbarer Ausdruck dafür war, dass man kirchlicherseits die DDR als Lebens- und Wirkungsraum akzeptierte. Zugleich war damit ein Selbstfindungsprozess verbunden, denn nun ging es um das eigene Profil als Kirche in einem sozialistischen Staat. Die dem Bund eigene Studienabteilung erarbeitete im Auftrag der acht Gliedkirchen Positionen unter anderem zu den Themen Diaspora und Mission, Wächteramt und Rolle der Laien und trug wesentlich zu einem modernisierten, an der breiten Basis orientierten Selbstverständnis der evangelischen Kirche in der DDR nach 1969 bei. Die Studienabteilung förderte durch ihre Veröffentlichungen nicht nur aktiv das protestantische Laienelement (S. 151), sondern trug auch zu einer intensiven und gezielten innerkirchlichen Erwachsenenbildung bei (S. 154). Dies waren Elemente, so Albrecht-Birkner, die das „Priestertum aller Gläubigen“ aktiv untermauerten und bis 1989 zu einem besonderen Selbstbewusstsein an der protestantischen Gemeindebasis führten.

Gegenstand des sechsten Kapitels sind die Freikirchen, wobei die Verfasserin einen weiten Freikirchenbegriff wählt, der nicht nur die klassischen Freikirchen einbezieht. Die Baptisten, Methodisten, Adventisten, Quäker und religiösen Sondergemeinschaften fielen mit zwei Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahr 1989, so Albrecht-Birkner, zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Gleichwohl bestanden enge Beziehungen zwischen den evangelischen Landeskirchen und diesen Kirchen und Gemeinschaften und deren Gegenüber hatte nicht zuletzt Relevanz für die staatlicherseits angestrebte Differenzierungspolitik.

Das abschließende siebte Kapitel widmet sich auf knappen 16 Seiten den deutsch-deutschen und den ökumenischen sowie internationalen Beziehungen der evangelischen Kirchen in der DDR und des Kirchenbundes. Hier wird überdeutlich, wie viel Unerforschtes in diesen grenzüberschreitenden und damit hochpolitischen Beziehungen noch liegt. Über die ökumenischen Beziehungen fanden politische, gesellschaftliche, soziale und ökologische Fragestellungen ihren Weg aus den und in die Kirchen der DDR. Letztlich haben diese wesentlich zu deren Profilschärfung und Attraktivität für die umgebende säkulare Gesellschaft und damit zur Wende im Herbst 1989 beigetragen.

Veronika Albrecht-Birkner hat ihre sehr kompakte, eine Fülle von Literatur berücksichtigende und dadurch ebenso auf interessierte Laien wie auf das Fachpublikum ausgerichtete Darstellung unter das Leitbild der „Freiheit“ gestellt. Dass es sich dabei nur um eine relative Freiheit handelte, macht sie in ihrem Titel „Freiheit in Grenzen“ von Anfang an deutlich.

Albrecht-Birkners Übersichtsdarstellung kombiniert die durchdachte Analyse mit einem Sinn für inhaltliche Schwerpunkte und einer gekonnten Reduktion der Faktenvielfalt. Dass die Arbeit ein Leservergnügen ist, heißt aber nicht, dass sich die Texte ohne Aufwand lesen ließen. Mitunter erreichen ihre Sätze beachtliche Längen und zwingen zur Konzentration.

Anmerkung:
1 Veronika Albrecht-Birkner, Vom Apostelkonzil bis zum Montagsgebet. Kirchengeschichte im Überblick, Leipzig 2014.

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