Cover
Titel
Der Beruf. Eine Begriffsgeschichte


Autor(en)
Sailmann, Gerald
Anzahl Seiten
Preis
€ 39,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Philipp Gonon, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Eine Begriffsgeschichte zum Beruf, so fragt man sich zunächst, die darüber hinaus eine Überblicksdarstellung zur Entwicklung des Berufsgedankens beansprucht, was kann diese denn Neues aufweisen, nachdem solche Überblicke doch oft auch Gegenstand von Wirtschaftslexika, erziehungswissenschaftlichen Handbüchern, religionswissenschaftlichen Enzyklopädien und soziologischen Darstellungen sind?1 Vermag die Begriffsgeschichte denn noch etwas Grundlegenderes aufzuzeigen, was nicht schon an dieser oder jener Stelle thematisiert wurde? Begriffe als „Spiegel realer Entwicklungen“ wandeln sich und das gelte gerade „auch für die aktuelle Diskussion um den Beruf“ (S. 9). Mit diesem knappen Diktum legitimiert der Autor einleitend sein Unterfangen, welches er der historischen Semantik zuordnet. Bereits Werner Conze hatte 1972 in seinem wegweisenden Beitrag dazu im Rahmen des Historischen Lexikons zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland den Wandel des Berufsverständnisses dargelegt, sich hierbei an Max Webers Protestantismus-These anlehnend. Conze vertrat expliziter als in der vorliegenden Darstellung eine Säkularisierungsthese, weg von der göttlich bestimmten Berufung hin zur professionellen Tätigkeit, die in einen gesellschaftlichen, aber auch nationalen Rahmen eingebunden ist.2

Auch Sailmann folgt im Wesentlichen diese Linien, setzt allerdings etwas früher an, nämlich im vorchristlich-ägyptischen und antik-hellenistischen Raum und endet später, das heißt in der digitalen Gesellschaft. Dieser lange Zeitraum erlaubt das Konzept des Berufes in eine latent „vorberufliche“ Phase zu fassen, bevor der Berufsbegriff dann seit der Reformation eine explizite Rolle spielt. Hierbei folgt der Autor der gesamten Fachliteratur, welche die Inauguration des Berufes in Luthers Bibelübersetzung sieht. Ebenso wird ein von ihm thematisiertes mögliches Ende des Berufskonzepts im Zusammenhang mit der Digitalisierung heutzutage international breit diskutiert.3 Wie schon bei Conze spielt auch bei Sailmann die Frage eine Rolle, ob Berufe, verhaftet im ständischen Ursprung, im hochspezialisierten und betrieblich organisierten Industriezeitalter überhaupt noch passend sind. Bezüglich Erosion oder gar Extinktion beruflicher Tätigkeit will der Autor aber nicht soweit gehen. Er schreibt, quasi als Essenz, dass trotz einem angestiegenen Druck auf den Beruf in der digitalen Gesellschaft dieser zu Anpassungen gezwungen sei, was aber lange nicht das Ende bedeute. Die Kernidee des Berufes sei nämlich, „als Mensch eine Sache zu seiner zu machen und darüber sowohl Identität als auch gesellschaftliche Wertschätzung zu gewinnen“ (S. 235). Auf solche Weise funktional verstanden, sei der Beruf die „Seele der Arbeit“ (ebd.) und würde daher auch in der digitalen Gesellschaft bestehen bleiben. Es stellt sich hier unmittelbar die Frage, ob diese feststellende Folgerung nicht viel mehr noch für Freiwilligenarbeit, Hobby oder Zusammenarbeit in Commons-Strukturen gilt und wie hierin die Familienarbeit und das Tun im Haushalt einzuordnen wäre.

Die vorliegende Arbeit ist bezüglich Seitenumfang in zwei gleichgewichtige Teile von je gut bzw. knapp 120 Seiten gegliedert: in einem ersten wird der Berufsbegriff in der Ständegesellschaft und im zweiten Teil der Beruf in der Industriegesellschaft thematisiert, wobei diese Kategorien eher grobschlächtig sind, da sie ja im ersten Teil die Antike bis Mitte des 19. Jahrhunderts einschließen und der zweite den Zeitraum ab Industrialisierung bis heute umfasst. Diese hinterfragbare Kapitelzurüstung spiegelt sich dann auch in den wenig trennscharfen Unterkapiteln, die Reformation, Absolutismus und Aufklärung und den „Beruf zwischen den Epochen“ (S. 89) umfassen. Auch im zweiten Teil wirkt die Kapitelzuteilung fließend, indem der Beruf als Wegbereiter der Moderne und als Bestandteil der industriegeprägten Gesellschaft, dann als Bestandteil der entwickelten Industriegesellschaft dargestellt wird, ehe ein Ertrag der begriffsgeschichtlichen Analyse das gesamte Buch abrundet.

Quasi sekundär bearbeitet wird auf eine Vielzahl von Veröffentlichungen zurückgegriffen, die sich dem Thema Beruf widmen, meist, aber nicht durchwegs, mit einem historischen Fokus. Eine solche synthetisierende Sichtweise könnte ja eigentlich gerade dadurch ihre Stärke entfalten, dass sie eben multidisziplinäre Befunde diskutiert und zusammenbringt. Dies wird aber an keiner Stelle explizit gemacht. Die Auswahl und insbesondere auch die Auslassungen zu einzelnen historischen Kapiteln werden gar nicht thematisiert bzw. als solche präsentiert. Vielmehr scheint man als Leser/in darauf vertrauen zu dürfen, dass der Autor diese Zeiträume, wie auch den dazu jeweils vorhandenen Forschungsstand bezüglich Beruf kennt. Nach einer ersten und wenig entwickelten „vorberuflichen“ Phase, die Räume weit außerhalb Germaniens einschließt, wird die Begriffsgeschichte im weiteren Verlauf sehr stark national verengt auf Deutschland und zuweilen, wohl aufgrund der vorgefundenen Forschungen, auf Preußen. Hier folgt die Darstellung zur Berufshistorie dann bereits den in vielen anderen Übersichten präsentierten Autorenfiliationen und herausgearbeiteten Untersuchungen. Generell lässt die Studie wenig Systematik erkennen und geht oft in plakativer Weise vor. So werden Vorstellungen zum Beruf, festgehalten in einem entsprechenden Artikel in Zedlers Lexikon (1733), pauschal als „im Sinne der Aufklärung“ charakterisiert, aufgrund der Feststellung, dass der individuellen Berufswahl und menschlichen Entscheidung mehr Gewicht zugesprochen werde und Berufe weniger auf „passiver göttlicher Berufung“ (S. 107) beruhen würden. Darüber hinaus werden wichtige im Zusammenhang mit Beruf zu sehende Fragen wie z.B. Gender wenig thematisiert bzw. scheinen sie nur okkasionell auf. Einige Male finden die Frauen Beachtung, andere Male nicht. Es wird auf Campes Vorstellungen zum Beruf im Allgemeinen hingewiesen, nicht aber auf seine Vorstellungen im Hinblick auf den „Beruf“ der Frau.4 Störend sind dann auch gewisse unstimmige Details, wie zum Beispiel, dass Jean Calvin nicht als Genfer, sondern als Schweizer Reformator mit französischen Wurzeln eingeführt wird.

Kaum spezifisch thematisiert werden insgesamt nationale Grenzen überschreitende Diskurse. Berufe spielen ja, zumal der Autor sie funktional definiert, in allen Gesellschaften eine Rolle, sei es als „occupation“ oder als Konzept qualifizierter Facharbeit oder aber alternativ als Portfolioworker/Innen oder als Professionelle. Diese weiterführenden konzeptionellen Dimensionen fehlen ebenso wie eine generell den deutschsprachigen Raum überschreitende globale Perspektive.

Diesen Mängeln ist es geschuldet, dass man auch einige interessante Befunde und Protagonist/Innen in der Berufsdebatte leicht übersieht. Hervorzuheben ist etwa die Vorstellung, dass im Unterschied zur berufspädagogischen Kritik die Idee des Berufes als Leitidee für neue Institutionen, im Besonderen auch Bildungsinstitutionen, und damit als Wegbereiter und Geburtshelfer der modernen Industriegesellschaft und nicht als ständisches Relikt gesehen wird. Viele Behauptungen oder Setzungen werden dann aber doch etwas kursorisch behandelt. So wird die sozialwissenschaftliche Begriffsbildung des Berufes kurz eingeführt, ebenso knapp wird auch die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus behandelt. Zu letzterem wird in einem Satz – beruhend auf zwei älteren Studien – festgehalten, dass der „Berufsbegriff nicht die gleiche ideologische Instrumentalisierung wie der Arbeitsbegriff“ erfahren habe (S. 196). Im nächsten Abschnitt wird dann aber doch auf eine Renaissance des berufsständischen Gedankens hingewiesen, welcher aber nicht bedeutsam für die gesellschaftliche Praxis geworden sei. Es sind solche wenig weiter erörterten Feststellungen, welche Leser/innen mit vielen unbeantworteten Fragen zurücklassen.

Überhaupt fehlt größtenteils eine Kontextualisierung der vorgeführten Autor/innen in ideelle, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge. Insofern stellt sich die Frage des „Mehrwerts“ im Hinblick auf bisherige Überblicke zur Berufskonzeptentwicklung, die dem Anspruch einer Begriffsgeschichte gerecht werden wollen, neue Zusammenhänge sichtbar zu machen und plausible ideengeschichtliche Verknüpfungen zu verdeutlichen. Wie dies anders gemacht werden kann, zeigte gerade kürzlich Perry Anderson in seiner Studie Hegemonie – Konjunkturen eines Begriffs.5 Davon ist diese Begriffsentfaltung leider weit entfernt. Die These, dass Berufe selbst „lernfähig“ sind, mag ja stimmen und interessant sein, aber gilt das nicht für alle Konzepte, die solch lange Zeiträume überlebten? Eigentlich wird in der Darstellung selbst die Frage nicht wirklich schlüssig beantwortet, ob Berufe tatsächlich funktional sind, oder nicht vielmehr als moralisier- oder ethisierbare Konstrukte und Ausbildungsgefäße zu sehen sind, die wirtschaftliche Tradition, gesellschaftliche Macht und ideologische Hegemonie reproduzieren. Sie wären somit eher als nationenspezifische Klammerbegriffe zu fassen und als solche zu verstehen.

Anmerkungen:
1 Siehe bspw. neuere Publikationen wie Alma Demszky / G. Günter Voss, Beruf und Profession, in: Fritz Böhle / G. Günter Voss / Günther Wachtler (Hrsg.), Handbuch Arbeitssoziologie, Bd. 2, Wiesbaden 2018, S. 477–538.
2 Werner Conze, Beruf, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhard Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 490–507.
3 Auf diese Debatten geht der Autor nicht ein. Die internationale Debatte, ob Berufe und Professionen verschwinden, wird nicht thematisiert. Siehe dazu: Richard Susskind / Daniel Susskind, The Future of Professions. How Technology will Transform the Work of Human Experts, Oxford 2015.
4 Joachim Heinrich Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron, der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet, Braunschweig 1789.
5 Perry Anderson, Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs, Frankfurt am Main 2018.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/