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Titel
Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne


Autor(en)
Harrasser, Karin
Erschienen
Berlin 2016: Verlag Vorwerk 8
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Myriam Raboldt, Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZiFG), Technische Universität Berlin

Freuds „Prothesengott“ marschiert neben Ernst Tollers „Hinkemann“, die Bettler aus Brechts „Dreigroschenoper“ gehen zwischen dadaistischen Fotomontagen und automatischen Kampfmaschinen umher, vorneweg die Demonstrationszüge der um Anerkennung kämpfenden Versehrten des Ersten Weltkrieges – mit dieser „Parade der Mensch-Maschine-Zwitter der Zwischenkriegszeit“ (S. 20) gibt die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Karin Harrasser am Anfang ihres Buches Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne eine Vorschau auf ihre Studie zur Geschichte und Gegenwart prothetischer Körperkonstruktionen.

Die Autorin zieht diese und weitere Figuren heran, um ihre forschungsleitende Frage nach den epistemischen und ästhetischen Projekten, an denen die vornehmlich europäische Prothetik im 19. und 20. Jahrhundert teilhatte, zu beantworten. Sie dienen ihr als paradigmatische Beispiele für die Erläuterung der unterschiedlichen Konzepte, Metaphern, Strömungen und Logiken der Kulturtechnik der Prothese. Harrasser möchte nachvollziehbar machen, warum prothetische Figurationen in Kunst, Populärkultur und Medientheorie immer wieder als Topoi und Metaphernfelder bemüht wurden und werden, und damit auch klären, warum in postmodernen Theorien „so leichtfertig von Medien oder Kulturleistungen als Prothesen die Rede ist“ (S. 13).

Ihr Vorgehen bezeichnet Harrasser selbst als genealogisch-historisch, wobei sie sich zwischen „Überblick, mittlerer Distanz und einigen Stichprobenbohrungen“ (S. 16) bewegt und immer wieder Verbindungen zu aktuellen Problemlagen knüpft. Ihre gegenwartsbezogene Perspektive könne – dies nimmt Harrasser selbst vorweg – den historischen Blick durchaus etwas verzerren. Auch der Fluch von „Unvollständigkeit und Parteilichkeit der Darstellung“ (S. 24), der auf den Medien- und Kulturwissenschaften laste, sei ihr bewusst. Indem sie ihren Fokus auf den Grenzbereich zwischen sozialer und medizinischer Funktion der Prothese legt, grenzt sie ihren Forschungsgegenstand klar ein.

Die Monographie, die auf ihre 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin als kulturwissenschaftliche Habilitation eingereichte Schrift zurückgeht, gliedert sich in drei größere Teile – Phantasmatik, Symptomatik und Diagnostik. Darin analysiert die Autorin verschiedene Texte, Filme, Abbildungen, Kunstwerke, Ausstellungen, Theorien und Anekdoten zum „homo protheticus“ (S. 25) und setzt sie geschickt und überzeugend zueinander in Beziehung. Manches scheint in seiner Reihenfolge austauschbar, insgesamt folgt die Gliederung aber einer Chronologie durch den genannten Zeitraum. Zwischen allen Elementen des imposanten Literatur- und Materialverzeichnisses knüpft Harrasser Fäden, die am Ende ein stabiles Netz einer Kultur- und Theoriegeschichte der Prothese ergeben.

Der erste Teil behandelt unter der Kapitelüberschrift „Phantasmatik“ die Zeit von 1850 bis zum Ersten Weltkrieg. Bereits hier wird eine der Hauptthesen Harrassers deutlich: dass die Prothetik nicht nur Medizintechnik, sondern auch Sozialtechnik und Metapher sei. Sie steigt mit der Analyse des Romans „Von der Erde zum Mond“ (1865) von Jules Verne ein, in dem erstmals der Kriegsversehrte als Versuchsobjekt für innovative Technologien entworfen wird. Darin zeichne sich schon ab, was später für den Umgang mit Versehrung und Prothetik in Wissenschaft, Kunst und Kultur symptomatisch wurde: Die Versehrten dienten häufig nur als Anstoß zur Bild-, Technik- und Wissensproduktion, wobei sie jedoch selbst als leibliche Subjekte „stets irgendwo auf dem Weg dorthin verloren“ (S. 29) gingen. In einem weiteren Unterkapitel beschäftigt sich Harrasser mit den technikphilosophischen Schriften Ernst Kapps, der für sie als „erster Systematiker einer ‚prothetischen Anthropologie‘“ (S. 38) gilt. Sie analysiert die prothetischen Metaphern in Goethes „Götz von Berlichingen“ und nimmt schließlich die Vorführung künstlicher Gliedmaßen im Rahmen der aufstrebenden „Konsumkultur des Spektakels“ (S. 53) in Form von Ausstellungen und Werbekatalogen in den Fokus.

Thema des zweiten Teils mit der Überschrift „Symptomatik“ ist der Erste Weltkrieg als der eigentliche „Herkunftskomplex der modernen Prothetik“ (S. 100). Hier zeigt Harrasser auf, wie sich in der Kriegsversehrtenfürsorge Medizintechnik, Psychologie, Ingenieurs- und Arbeitswissenschaften verschränkten. Für die Prothetisierung der Körper der Kriegsversehrten formuliert sie zwei Fluchtpunkte: Unauffälligkeit und Produktivität. Harrasser untersucht hier aber nicht nur medizinisch-wissenschaftliche Diskurse, sondern unternimmt auch eine Revision der Zwischenkriegskunst und -literatur: Ernst Tollers „Hinkemann“, Brechts „Dreigroschenoper“ sowie die dadaistische Kunst. Sie zeigt auf, wie in diesen künstlerischen Verarbeitungsstrategien die Prothese als „ästhetische Figuration“ immer da zum Einsatz kommt, „wo der Ausdruck verstummt“, wo die traumatischen Ereignisse des frühen 20. Jahrhunderts nicht mehr beschreibbar sind, wo „überlieferte Darstellungsmodi nicht mehr greifen“ (S. 101).

Das dritte, mit „Diagnostik“ überschriebene Teilkapitel versteht Harrasser als eine Art Misstrauensantrag an die eigene Fachkultur, nämlich „hinsichtlich der Verwendung spektakulärer und spekulativer Bilder von ‚sehenswürdigen Menschen’“ (S. 23). Hier betrachtet sie den Umgang der Medien- und Kulturwissenschaften mit Bildern und Wissensformen der Prothetik und steigt mit Freuds „Prothesengott“ ein. Ihr geht es darum, wie „Operationen des Ersetzens und Anpassens“ (S. 209) einen so folgenreichen Begriff wie den des Prothesengottes formieren konnten. Sehr eindrücklich und lesenswert ist das abschließende, von Harrasser inszenierte Streitgespräch zwischen einem Medienprofessor, der starke Ähnlichkeiten mit Marshall McLuhan aufweist, und einer von Donna Haraway inspirierten Doktorandin. Mit dieser besonderen Textform gelingen ihr einige Seitenhiebe auf grundlegende Denker ihres eigenen Faches, zum Beispiel wenn sie den Versuch unternimmt, durch die beiden Sprecher/innen zwischen Friedrich Kittler, Marshall McLuhan und feministischen Positionen zu vermitteln.

Wer eine historisch genaue Auswertung der von Harrasser verwendeten Primärquellen erwartet, wird von dieser Arbeit wohl enttäuscht sein.1 Harrassers Stärke ist es hingegen, die Breite in den Blick zu nehmen, hinter das Offensichtliche zu schauen und Zusammenhänge aufzudecken sowie Bögen zu schlagen, die bisher in dieser Deutlichkeit nicht zu sehen waren. So bringt sie beispielweise das orthopädische Schuhhandwerk des 19. Jahrhunderts mit benutzerorientierter Computersoftware aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Verbindung. Die An-/Passung, so Harrasser, sei das Herstellungsprinzip körpermodifizierender Artefakte gewesen, ein Prozess, in dem die zukünftigen Bedürfnisse eines Körpers einkalkuliert wurden. Sie sieht darin das Rückkopplungsprinzip, das später in den 1940er-Jahren mit dem Konzept der Kybernetik gefasst und grundlegend für das Verstehen technischer Systeme wurde.

Eine weitere Qualität der Studie liegt in ihrer „gegenwartsbezogenen Perspektive“ (S. 17), durch die Harrasser immer wieder Bezüge zu aktuellen Diskursen und Entwicklungen herstellt. So verweist sie von den Arbeitsbewegungsstudien der Organisationsforscher Frank und Lilian Gilbreth, die von einer Anpassung der Arbeitsplätze an die Bedürfnisse der versehrten Prothesenträger/innen ausgingen, auf die darin liegende und für die politische Behindertenbewegung bis heute wegweisende Auffassung von Behinderung als ein von der Umgebung Behindert-Werden.

Durch Harrassers breite kulturwissenschaftliche Perspektive erhält die Beschäftigung mit der Prothetik auch aus historischer Sicht neue Facetten. Besonders interessant sind zum Beispiel die Bezüge zum Dadaismus, dessen „Erste Internationale Dada-Messe“ 1920 in Berlin den prothetisierten Kriegsversehrten zum Hauptthema hatte. Dabei interessiert Harrasser sich weniger für die Kunstwerke selbst als für deren Entstehungstechniken, nämlich das Auseinanderreißen und neu Zusammenfügen, das Zerschneiden, Austauschen und Überkleben. Sie vertritt hier die These, dass das „Prinzip von Montage und Collage […] dem Motiv des prothetisch reparierten Körpers abgeschaut“ (S. 177) wurde.

In diesem Sinne kann die Monographie vielleicht selbst als Anwendung der dadaistischen Technik der Montage und Collage verstanden werden: Die Autorin reißt aus verschiedenen Zeiten und Kontexten Schnipsel heraus, schneidet einzelne Sequenzen sorgfältig aus, analysiert diese und fügt sie zu einer erkenntnisreichen und keinesfalls willkürlich wirkenden Collage einer Kultur- und Theoriegeschichte der Prothese neu zusammen. Harrassers Studie ist nicht zuletzt eine Beschäftigung mit den Ursprüngen ihres eigenen Faches, wenn sie einen Bogen von den Taktilitätsstudien des Gestaltpsychologen David Katz zur Erforschung des Tastsinns über die Kybernetik bis hin zur postmodernen Medientheorie schlägt.

In der an Material und Assoziationen reichen Studie, für die man sich ein Sach- und Personenregister gewünscht hätte, werden Prothesen als „Figuren einer lädierten Moderne“ in einem doppelten Sinne verstanden: einerseits als Figuren einer historischen Epoche, die sich durch einen vermeintlichen technischen Fortschritt selbst zerstört, aber eben auch wieder zusammenflickt – andererseits als Figuren der Moderne, deren bipolares Ordnungssystem aus Natur und Technik, behindert und nicht-behindert, einem vermeintlichen Entweder-Oder durch die Prothese als Medium immer wieder in Frage gestellt, unterlaufen und selbst „lädiert“ wird. Zu empfehlen ist die Monographie allen, die sich theoretisch oder empirisch mit der Intersektion von Körper und Technik beschäftigen und sich dabei auch für die Wissens- und Metaphernproduktion in Kunst und Literatur interessieren.

Anmerkung:
1 Weitere historische Literatur hierzu: Lisa Herschbach, Prosthetic Reconstructions. Making Industry, Re-Making the Body, Modelling the Nation, in: History Workshop Journal 44 (1997), S. 122–157; Simon Bihr, Entkrüppelung der Krüppel. Der Siemens-Schuckert-Arbeitsarm und die Kriegsinvalidenfürsorge in Deutschland während des 1. Weltkrieges, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 21/2 (2013), S. 107–141; Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923, Paderborn 2008; Eva Horn, Maßnahmen und Medien zur Wiederherstellung des versehrten Leibes in der Weimarer Republik, in: Dietmar Schmidt (Hrsg.), KörperTopoi. Sagbarkeit – Sichtbarkeit – Wissen, Weimar 2002, S. 100–139; Matthew Price, Bodies and Souls. The Rehabilitation of Maimed Soldiers in France and Germany During the First World War, Stanford 1998.