H. Fischer: Überlebende als Akteurinnen

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Titel
Überlebende als Akteurinnen. Die Frauen der Lagergemeinschaften Ravensbrück. Biografische Erfahrung und politisches Handeln, 1945 bis 1989


Autor(en)
Fischer, Henning
Erschienen
Konstanz 2018: UVK Verlag
Anzahl Seiten
541 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

Bereits das Grimmsche Wörterbuch von 1862 kennt mehrere Bedeutungen des Wortes Eigensinn, unverkennbar ist dabei der ambivalente Charakter des Eigensinnigen: Mal drückt sich darin eine Anerkennung seines mutigen, unerschrockenen Verhaltens aus, mal werden damit Handlungen bezeichnet, die als anstößig oder widerborstig gelten. Im Kräftefeld von Herrschaft und Freiheit zielt Eigen-Sinn auf Distanz gegenüber obrigkeitsstaatliche Zumutungen, ohne die konkreten Herrschaftsordnungen an sich in Frage zu stellen. Eigen-Sinn rekurriert auf die Grundannahme, „dass Herrschaft nie genau so funktioniert, wie sich das die Herrschenden im optimalen Fall wünschen“.1 Dabei ist entscheidend, dass Eigen-Sinn als Konzept über keine moralisch eindeutige Grundausstattung verfügt, vielmehr wird das Handeln von Akteurinnen und Akteuren in gelebten Herrschaftsverhältnissen in den Mittelpunkt gerückt.

Seit Alf Lüdtke Eigen-Sinn in die Debatte über Industriearbeit, Kapitalismus und Arbeiterkultur eingebracht und damit die oftmals widersprüchlichen Verhaltensweisen von Fabrikarbeitern im Kaiserreich konzeptionell zu fassen versucht hat, wird Eigen-Sinn als Untersuchungsperspektive auch in anderen Forschungsfeldern angewandt, um „Herrschaft als soziale Praxis“ vor allem in autoritären Systemen besser beschreiben zu können. Die Verklammerung von individuellen Aneignungsprozessen, sozialen Gruppendynamiken und gelebten Herrschaftsverhältnissen kennzeichnet einen Ansatz, den auch Henning Fischer für seine Studie über die Geschichte der Lagergemeinschaften Ravensbrück zwischen 1945 und 1989 gewählt hat. Im Zentrum seiner mehr als 500 Seiten umfassenden Dissertation stehen Überlebende des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, die während des Nationalsozialismus überwiegend als kommunistische Widerstandskämpferinnen verhaftet, misshandelt und in die Gestapo-Gefängnisse, Haftanstalten und Konzentrationslager verschleppt worden waren. Nach 1945 gründeten sie in der BRD wie auch in der DDR eigene Interessensverbände, in denen sie zum einen für die Anerkennung ihrer erlittenen Verfolgung und für die Bestrafung der Verantwortlichen eintraten, zum anderen engagierten sie sich in beiden deutschen Staaten für die politische wie auch für die gesellschaftliche Aufarbeitung des NS-Unrechts. Fischer zeichnet hierfür die oftmals erstaunlich ähnlichen Lebenswege seiner mehr als 20 Protagonistinnen collagenhaft nach, gleichzeitig gelingt ihm eine sachkundige, ebenso materialreich wie seriös gearbeitete Organisationsgeschichte der Überlebendenverbände, die durchaus auch Ambivalenzen, Widersprüche und kritische Gesichtspunkte einbindet.

Das Buch umfasst fünf Hauptkapitel und ist von einer ausführlichen Einleitung sowie von einer kompakten Zusammenfassung mit Ausblick auf die Zeit nach 1989 gerahmt. Während im ersten Kapitel die politische Sozialisation der Frauen sowie ihre Widerstandsarbeit und Konzentrationslagerhaft während des Nationalsozialismus dargestellt werden, konzentrieren sich die nachfolgenden Teile auf den konsequent durchgearbeiteten Vergleich der deutsch-deutschen Verbandsgeschichte. Dabei unterscheidet Fischer vier verschiedene Phasen: Zunächst nimmt er die unmittelbaren Nachkriegsjahre bis zur Gründung beider deutschen Staaten in den Blick, die vor allem durch die Rückkehr in eine sich nun selbst zum Opfer stilisierende Tätergesellschaft geprägt waren sowie durch die Mitwirkung der Überlebenden in Strafverfahren gegen NS-Verbrecher und durch erste Deutungskämpfe im Ravensbrück-Komitee. Dabei thematisiert Fischer u.a. das Spruchkammerverfahren gegen Gertrud Müller, die 1947 als ehemaliger Funktionshäftling wegen Misshandlung jüdischer Zwangsarbeiterinnen angeklagt und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, später in einem zweiten Verfahren jedoch freigesprochen wurde. Die Stärken des Buches liegen zweifellos dort, wo der Autor intensiver die Lebenswege der Überlebenden beleuchtet und Einblicke in die engen und teilweise extrem konflikthaften Beziehungen untereinander eröffnet.

Auch für die 1950er-Jahre gelingt es Fischer, einzelne Biographien, wie die von Rita Sprengel und Charlotte Müller, mit ihrer (partei)politischen Arbeit zu verflechten. Dabei werden nicht nur die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der sich allmählich formierenden Verbandsarbeit in Ost- und Westdeutschland deutlich, sondern auch die enorme Bedeutung des Selbstverständnisses als Kommunistinnen für die individuelle Verarbeitung der Verfolgungserfahrungen. In der DDR sah das freilich anders aus als in der BRD. Während sich die Frauen in Westdeutschland mit einem Parteiverbot, mit drohender Strafverfolgung und dezidierten Anerkennungsverweigerungen konfrontiert sahen, fügten sich manche Überlebende in der DDR uneingeschränkt in das, was Partei und Staat von ihnen erwarteten (bis hin zur Arbeit für das Ministerium für Staatssicherheit). Aufschlussreich sind darüber hinaus Lebenswege von Frauen, die – ob in Ost oder West – aus unterschiedlichen Gründen als verdächtig galten, nicht ins vorgefasste Bild passten oder sich einer politischen Vereinnahmung aktiv widersetzten. Diese biographische Vielfalt tritt im Laufe der Untersuchung zugunsten der organisationsgeschichtlichen Entwicklung der Lagerverbände etwas in den Hintergrund. Für die 1960er- bis 1980er-Jahre fokussiert Fischer seine Studie auf die Gründung, Institutionalisierung und Konsolidierung der Lagergemeinschaften Ravensbrück sowie auf die nun herrschenden Deutungskämpfe in- und außerhalb der eigenen Zusammenschlüsse. Auch werden geschichts-, friedens- und gesellschaftspolitische Betätigungen der Protagonistinnen, sei es ihre Mitwirkung bei der Einrichtung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück oder das aktive Engagement in der Friedensbewegung der 1980er-Jahre, beleuchtet.

Für die letzten Jahre vor dem Ende der DDR und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten konstatiert Fischer einen Wandel in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der „Ravensbrückerinnen“. Wurden sie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in erster Linie als Widerstandskämpferinnen, Kommunistinnen und KZ-Überlebende gesehen und identifizierten sich auch selbst mit diesen Zuschreibungen, traten sie nun verstärkt als Zeitzeuginnen und Friedensaktivistinnen in Erscheinung. Die damit einhergehenden Veränderungen des individuellen wie auch des gruppenspezifischen Selbstbildes waren zum einen der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz ihrer Verfolgungserfahrungen und den zeitgenössischen geschichtspolitischen Diskursen geschuldet. Zum anderen spiegelte sich darin aber auch die Wahrnehmung wider, im fortgeschrittenen Alter über nicht mehr allzu viel Zeit für die Vermittlung und Weitergabe des kollektiven Vermächtnisses zu verfügen. Die weitaus meisten der im 1947 gegründeten ersten „Komité ehemaliger Ravensbrücker“ organisierten Frauen sind mittlerweile verstorben, 1993 vereinigten sich beide Verbände zur „Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis“, die heute von Mitgliedern getragen wird, die selbst keine KZ-Überlebenden mehr sind.

Henning Fischer hat eine materialgesättigte, flüssig geschriebene und klar strukturierte Studie über ein Thema vorgelegt, das bisher noch nicht hinreichend erforscht wurde. Während die Überlebenden der KZ-Lager und Gestapo-Haftstätten ansonsten eher als Opfer von Verfolgung und Massenmord historiographisch untersucht werden, zeigt Fischer sie als politische Akteurinnen der Nachkriegsjahrzehnte und erzählt zugleich eine deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte. Dass er dabei den Schwerpunkt auf die Verbandsentwicklungen legt, ist legitim, führt aber leider dazu, dass die Biographien der Frauen durch die gewählte Montagetechnik ihren lebensgeschichtlichen Zusammenhang verlieren. Auch der zunächst vielversprechend angekündigte Leitbegriff Eigen-Sinn bleibt im Laufe der Untersuchung relativ blass, als entscheidender erweist sich indes, dass dem Kommunismus „eine zentrale Funktion als Möglichkeitsraum des psychischen Weiterlebens“ zukam. Er war nicht nur Ideologie, Sinngerüst und Organisationsstruktur, sondern auch „ein Beglaubigungssystem für das eigene Verhalten im Lager“ (S. 499), was im Gegenzug bedeutete, politisch nicht opportune Erinnerungen wie zum Beispiel die praktizierten Ausschlusshandlungen im KZ oder die erlittene sexualisierte Gewalt durch Rotarmisten abzuspalten. Um eine Kollektivbiographie handelt es sich bei Fischers Studie nicht, wohl aber um eine sachkundige und mit erfahrungsgeschichtlichem Gespür geschriebene Organisationsgeschichte der in der Forschung bisher noch zu wenig berücksichtigten Lagergemeinschaften ehemaliger KZ-Häftlinge.

Anmerkung:
1 Thomas Lindenberger, Eigen-Sinn. Herrschaft und kein Widerstand, Version: 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 2.9.2014, URL: http://docupedia.de/zg/Eigensinn (Zugriff: 20.2.2019).

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