E. von Contzen u.a. (Hrsg.): Risikogesellschaften

Cover
Titel
Risikogesellschaften. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven


Herausgeber
von Contzen, Eva; Huff, Tobias; Itzen, Peter
Reihe
Histoire 134
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicolai Hannig, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Risiken setzen Planungen voraus, heißt es in der Einleitung des fächerübergreifenden Sammelbandes zu „Risikogesellschaften“. „Immer dort, wo Ansätze von Planungen bestehen, spielen auch Wahrnehmungen von Risiken eine Rolle.“ (S. 9) Daraus leiten die Anglistin Eva von Contzen sowie die beiden Historiker Tobias Huff und Peter Itzen ab, dass das Risiko im Grunde ein Begleiter der gesamten Menschheitsgeschichte ist. Über alle Epochen hinweg haben Menschen ihr Handeln und dessen mögliche Resultate abgeschätzt, haben Strategien zur Risikovermeidung entwickelt, um die Wahrscheinlichkeit gering zu halten, dass ein Schaden eintritt – oder um die Folgen erwartbarer Schäden zu begrenzen. Das Risiko verstehen die Herausgeber dabei als eine verwandelte Gefahr, die nicht mehr unbestimmt bleibt. Menschen ließen sich bewusst auf Risiken ein und erschüfen sie dadurch erst als solche. Darüber hinaus sei die so verwandelte Gefahr stets von materiellen Bedingungen, menschlichem Verhalten und Debatten über das Risiko abhängig, die die jeweilige Gefahrensituation prägten.

Dies ist das definitorische Rüstzeug, mit dem sich Literatur- und Geschichtswissenschaftler/innen in elf Forschungsbeiträgen in die Analyse vormoderner und moderner Risikogesellschaften vorwagen. Im Zentrum scheinen dabei Deutschland und England zu stehen, obschon regionale oder Landesspezifika nicht weiter thematisiert werden. Ohnehin tritt die Analyse von Räumen des Risikomanagements eher in den Hintergrund. Betont wird stattdessen die Frage, was Gesellschaften zu bestimmten Zeitpunkten und aus bestimmten Gründen als riskant oder eben zu riskant einstuften. Wer hielt welche Risiken wann für tolerierbar und welchen Risiken ging man eher aus dem Weg? Andererseits wollen die Autorinnen und Autoren nachweisen, dass Risikokommunikation und -reflexion kein Alleinstellungsmerkmal der Moderne sind. Zugleich spüren sie der Frage nach, inwieweit Risiken die „Herausbildung staatlicher Institutionen“ befördert, „rechtliche Verfahren“ angestoßen, „wissenschaftliche Techniken“ geprägt und „zeittypische Alltagspraxen“ angeregt haben. Im Zentrum stehen dabei „Praktiken“, „technische Artefakte“ und „natürliche Prozesse“ (S. 10). Das ist kein unbedingt kleinteiliges Vorhaben. Doch stehen die Autorinnen und Autoren dieses Bandes nicht allein auf weiter Flur. Das Interesse am Risiko und seinen Komplementärbegriffen wie „Sicherheit“, „Prävention“, „Ordnung“, „Freiheit“ und „Zukunft“ ist in den letzten Jahren schnell gewachsen. Das erkennen wir nicht nur, aber insbesondere am Beispiel großer Verbundprojekte sowohl auf Seiten der Geschichts- als auch in den Sozial- und den Literaturwissenschaften.1

Das Themenspektrum der Beiträge ist dementsprechend breit. Es reicht von Untersuchungen zu Risikominimierungsstrategien in der Landwirtschaft zwischen Vormoderne und Moderne (Tobias Huff) über die Analyse von Korrelationen zwischen literarischen und wissenschaftlichen Risikodebatten am Beispiel von Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ aus dem Jahr 1818 (Martin Sablotny) bis hin zu einer Auseinandersetzung mit hochmittelalterlichen Risikowahrnehmungen im Rahmen von Königsherrschaften (Max Lieberman). Letzterer arbeitet heraus, wie risikoavers sich König Æthelred II. von England während der dänischen Invasion im Jahr 1013 verhielt. Interessant und anregend ist, auf welche Weise Lieberman dies untersucht: Mithilfe von Ansätzen der kognitiven Verhaltenspsychologie spürt er den Eigenheiten menschlicher Risiko- und Verlustaversion nach und plädiert für eine neue Sicht auf das Risikohandeln. Man sollte sich von der Vorstellung verabschieden, so Lieberman, dass „historische Akteure nur dann Risiken eingingen, wenn sie sich einen entsprechenden Gewinn erhofften, oder dass sie im Durchschnitt gleich gern gewonnen haben, wie sie ungern verloren haben“ (S. 47).

Die von den Herausgebern annoncierte Suche nach den grundlegenden Transformationsprozessen im Kontext von Risikodebatten gerät durch die Vielfalt der Beiträge etwas aus dem Blick. Auch der Dialog zwischen den Disziplinen kommt zu kurz, da literatur-, kultur- und geschichtswissenschaftliche Beiträge lediglich nebeneinanderstehen. Das schmälert allerdings nicht die Qualität der einzelnen Abhandlungen. So gelingt es Stefan Geißler, am Beispiel der Marineversicherung die Bedeutung einer systematischen (historischen) Risikoforschung für die Wirtschaftsgeschichte herauszuarbeiten und aufzuzeigen, wie abhängig große kaufmännische Unternehmungen in der Frühen Neuzeit von versicherungstechnischen Risikoabschätzungen waren. Michaela Holdenried skizziert eine Literaturgeschichte des Risikos und stellt dabei die Repräsentation von Risikoszenarien in fiktionalen Texten in den Vordergrund. Während in der Vormoderne Schriftsteller vor allem Kriege, Abenteuer und Reisen in ihren Risikokontexten thematisierten, rücken sie in der Moderne eher die Risiken des technischen Fortschritts sowie der Umwelt- und Klimaveränderungen in den Vordergrund. Auffällig sind hier die engen Verbindungen zwischen den jeweils genretypischen, literarischen Risikothemen auf der einen sowie den politischen und wissenschaftlichen Debatten auf der anderen Seite. Zudem wird deutlich, dass häufig diejenigen Risiken eine literarische Fiktionalisierung erfahren, die für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr überschaubar oder einschätzbar sind.

Gerade bei solchen Befunden wünscht man sich mitunter ein konsequentes interdisziplinäres Gegenlesen, um etwa aus rezeptionshistorischer Perspektive zu überprüfen, inwieweit die zunehmende Unüberschaubarkeit von Großrisiken ein Produkt der Wissensgesellschaft ist. Insgesamt aber haben die Herausgeber, Autorinnen und Autoren dieses Bandes einen wichtigen Beitrag zur Neuperspektivierung einer kultur- und geschichtswissenschaftlichen Risikoforschung geleistet, in der vor allem die warnenden, reflektierenden und utopischen Funktionen der Literatur stärker zur Geltung kommen. Die epochenübergreifende Perspektive schützt zudem vor pauschalen Gegenüberstellungen einer vermeintlich durch und durch religiösen, planungs- oder vorsorgefreien Vormoderne und einer säkularisierten, planungseuphorischen Moderne. Dass sich der Risikobegriff an der Schnittstelle von analytischer Kategorie und Untersuchungsgegenstand befindet, wird in den Beiträgen deutlich. Die Regeln, denen die Sichtbarmachung und Umarbeitung von Gefahren in Risiken folgt, gilt es gleichwohl weiter zu ergründen. Über Risikodebatten wissen wir bereits einiges, über die Praxis der Risikobearbeitung noch immer zu wenig. Die Einzelstudien dieses Tagungsbandes über „Risikogesellschaften“ liefern hierzu einige wichtige Anregungen.

Anmerkung:
1 Zu denken ist an den Tübinger Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ (https://bedrohte-ordnungen.de, 10.04.2019), den Marburgerbzw./ Gießener Sonderforschungsbereich „Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheitlichung in historischer Perspektive“ (https://www.sfb138.de, 10.04.2019), das Essener Graduiertenkolleg „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ (https://www.uni-due.de/graduiertenkolleg_1919/grako1919-start.php, 10.04.2019) oder die Münchener DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“ (https://www.abenteuer.fak13.uni-muenchen.de/index.html, 10.04.2019).