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Titel
Reporter-Streifzüge. Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt 1870–1918


Autor(en)
Homberg, Michael
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 223
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
396 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Björn Klein, Pädagogische Hochschule FHNW Basel

Der Journalist Egon Erwin Kisch wandte sich zum Ende des Ersten Weltkrieges seiner eigenen Profession und dem Wesen der Reporter-Figur zu. Dass Michael Homberg den Einstieg in sein akribisch recherchiertes Buch über Kisch wählt, ist daher kein Zufall. Kischs Darstellung des Reporterwesens spiegelte schon „in nuce die ab Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends hitzigen Auseinandersetzungen um Anspruch und Geltung ästhetischer und moralischer Qualitätsstandards im Journalismus wider“ (S.13).1 Davon ausgehend untersucht Homberg in seiner komparatistisch angelegten Monographie die Geschichte des Reporterwesens, bzw. genauer, die metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt zwischen 1870 und 1918. In der auf seiner Dissertation basierenden Studie analysiert er „die Hintergründe, Triebkräfte und Folgen des von Kisch so empathisch proklamierten Siegeszuges des Reporter- und Korrespondentenwesens in den USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien“ (S.13). Das Untersuchungsfeld Hombergs ist damit das gleiche wie das der im selben Verlag 1995 erschienenen und nach wie vor grundlegenden Studie von Jörg Requate.2 Homberg rückt allerdings die Genese des literarischen Journalismus ins Zentrum seines Erkenntnisinteresses. Insbesondere arbeitet er die Spannungen und produktiven Austauschbeziehungen zwischen Fact und Fiction heraus. Im Gegensatz zu einer anderen, kürzlich veröffentlichten und thematisch ähnlich gelagerten Dissertation geht es Homberg nicht um das Feststellen einer Berufskultur, sondern eben um die Fakten und Fiktion(en) der Massenmedien und um die Nachrichtenlogiken, die diese in den sogenannten Ober- und Unterwelten der Metropolen, aber auch im globalen Kontext herausbilden konnten.3

In Kapitel zwei wird die spezifische Kompetenz des Reporters, das Erzählen, als eine kulturelle Universalie aufgefächert und spezifiziert. Diese Verfasstheit des menschlichen Weltbezugs ist, wie das Denken und Sprechen überhaupt, so Homberg mit den Worten Hayden Whites, eben kein hinreichend intrinsisches Wahrheitszeichen. Die Differenz zwischen wahr und falsch aufzuheben, erscheine so als die anthropologische Konstante. Hiervon auszugehen ist durchaus wichtig, da es auf den von Homberg konstatierten Kern der Reportage und die Auseinandersetzungen um 1900 verweist: Nachrichtenproduktion durch Augenzeugenschaft. Der Reporter ist folglich nicht nur mit den konkreten Nachrichten produzierenden Orten, wie zum Beispiel Rathäusern, Polizeirevieren und Krankenhäusern verbunden, sondern er (re-)produziert sie auch. Homberg nennt das dann den epistemologischen Status der Reportage, den er ausgehend von Herodots Bericht in den Historien extrapoliert. Die Beglaubigung durch Augenzeugenschaft war schon für die Reiseerzählung elementar.

Kapitel drei zeigt den Weg der Professionalisierung des Nachrichtenwesens zwischen 1870 und 1918 auf. Ausgehend von den Spuren einer Begriffsgeschichte, die im Schnelldurchlauf europäische – britische, französische und deutsche – und US-amerikanische Etymologien zum Reporterwesen anreißt, wird eine Sozialgeschichte des Reporter- und Korrespondentenwesens aufgefächert. Diese besticht, wie das Buch insgesamt, durch eine detaillierte und fundierte Quellengrundlage und fängt das Zeitalter des Reporters ein (Will Irwin). Dieses begann mit dem Aufbau von Journalistenschulen, neu geschaffenen Lehrstühlen um 1900 und der Standardisierung der Profession des Journalisten. Die Wege zum Journalismus waren trotzdem disparat und sie blieben es auch danach. Dies war ein verbindendes Element des Journalismus über den Atlantik hinweg. Reporter-Streifzüge weist in diesem Kapitel aber ferner auch auf die Unterschiede und Spannungsfelder innerhalb des journalistischen Berufsstandes insgesamt hin und schafft dies durch die komparatistische Herangehensweise durchaus: So erfahren wir, dass der Reporter in der Redaktion an niedrigster Stelle stand, die alltägliche Arbeit des Newsmaker eine weitgehende Arbeitsteilung notwendig machte, die Bezahlung des Reporters nicht selten durch ein nicht allzu hohes Zeilengeld abgegolten wurde und die Beschaffung von Informationen oft mit „unlautere[n] Praktiken wie [dem] Anheuern von Zeugen, Identitätsverschleierung oder de[m] Diebstahl von polizeilichen Informationen“ einher ging (S. 103). Dies sei als eine Art Gegenbewegung zu verstehen – gegen den Publikationsdruck eines sich kommerzialisierenden Zeitungswesens (S. 105). In diesem Zusammenhang hoch interessant und von aktueller Relevanz ist die Darstellung der Genese der Fake News im literarischen Journalismus sowie die Professionalisierung und Kommerzialisierung des Pressewesens, die in allen untersuchten Ländern eine Literarisierung des Journalismus beförderte. Die Unterschiede zwischen den Ländern fächert Homberg anhand von einzelnen Beispielen und Statistiken auf. So werden zum Beispiel unterschiedliche Karrierechancen, Verdienstmöglichkeiten und Ausbildungen thematisiert.

In den beiden Hauptkapiteln vier und fünf werden die „Nachrichtenlogiken“ der metropolitanen und globalen Nachrichtenkulturen betrachtet. Die vorgestellten Reporterfiguren, die vom urban color-Reporter über den Newshunter bis hin zu den Girl Stunt-Reporterinnen reichen, werden hier auf ihre räumliche Verortung in der Metropole und in Reisereportagen, also im globalen Kontext, untersucht. Die Analyse der Reportagen kann so ein vielfältiges Bild europäisch-amerikanischer Metropolen entwerfen. Darüber hinaus zeigt Homberg, wie der Raum der Großstadt durch das Newsmaking zergliedert wurde, insbesondere eben durch investigative Expeditionen von Reporter/innen in den sogenannten Ober- und Unterwelten der Metropolen. Diese Untersuchung vollzieht Homberg entlang von mehreren Fallstudien. So leiten die titelgebenden „Reporter-Streifzüge“ Hugo von Kupffers, dann auch das Kapitel zum „Reporter und der Konstruktion der Metropole“ folgerichtig ein. Kupffer brachte den sogenannten „New Journalism“ aus den USA nach Berlin. Homberg sieht in Kupffers Reportagen die Schlüsselwerke deutschsprachiger Reportageliteratur (S. 115). Die Reporter-Fallstudien werden dann weiter von Homberg in Reporter-Figuren wie unter anderem dem Flâneur und dem City Beat-Reporter extrapoliert und voneinander unterschieden.

Die beiden Hauptkapitel werden von der sogenannten Girl Stunt-Reporterin Elizabeth Jane Cochran, besser bekannt als Nellie Bly, verbunden. Dies ist eine folgerichtige Wahl, da sie wie kaum ein/e andere/r Reporter/in um die vorletzte Jahrhundertwende durch ihren subjektiven Schreibstil und Selbsttechniken einen investigativen Journalismus mitgeprägt hat. Homberg kann mit den lokalen und globalen sogenannten „Stunts“ Blys daher gekonnt aufzeigen, wie diese den „epistemologische[n] Prozess wissenschaftlicher Theoriebildung sowie praktischer (Labor-)Studien hinterfragt[e], während sich der Blick des Reporters als Paradigma moderner Wirklichkeitserfassung profilieren“ konnte (S. 164). Dass es hier „der Reporter“ heißt, also im generischen Maskulinum argumentiert wird, ist nicht falsch. Es war ja tatsächlich ein männlicher Blick, durch welchen zum Beispiel Pathologien wie die Hysterie erfunden und so immer wieder binär-geschlechtliche Hierarchien temporär zementiert wurden. Auf diese wichtige Unterscheidung zwischen Reportern und Reporterinnen geht Homberg in den anderen Kapiteln allerdings kaum ein, obwohl doch hier ein zentraler Topos für die Herstellung von Factual Fictions um 1900 auszumachen ist. Es stellt sich daher die Frage, warum das Thema Geschlecht im Kapitel zu den Girl Stunt-Reporterinnen ins Feld geführt wird, in allen anderen Kapiteln aber nicht – insbesondere etwa in den späteren Ausführungen zu den Kriegsberichterstattern, mit doch so offensichtlich männlich konnotierten Blick- und Aufmerksamkeitsregimen, die die mediale Augenzeugenschaft um 1900 maßgeblich beeinflussten hätte es sich angeboten.

Ähnlich wie die Massenpresse die Nachrichtenwelt ab 1870 fundamental veränderte, scheinen die Social Media-Plattformen seit den 2000er-Jahren, die Nachrichtenwelt metropolitaner und globaler Öffentlichkeiten erneut in ihren ästhetischen und moralischen Grundlagen einschneidend zu verändern. Hombergs Studie kann daher durchaus auch eine Geschichte der Gegenwart bereichern. Gerade weil sie auf die damals neuen (Bild-)Medien und die prägenden medienkommunikativen Praktiken (wie z. B. der Foto-Reportage) en détail einzugehen weiß. Homberg zeigt wie in der massenmedialen Sattelzeit (Habbo Knoch und Daniel Morat) der literarische Journalismus dazu beitrug, die Welt zum Gegenstand der Alltagskommunikation werden zu lassen, wie selbstreferentielle Mediengesellschaften entstanden und die Presse in den Fokus der Wissenschaft geriet. Ferner zeigt er, wie umstritten der Aufstieg des Reporters im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war und wie sich verschiedene Reporterfiguren von den „Faktographen“ bis zu den „Vielschreibern“ um 1920 verfestigten. Diese Genealogien mit Begriffen wie „Authentizität“, „Beglaubigung“ und „Augenschein“ und den damit verbundenen „Wirklichkeitseffekten“ gegenzuschneiden, macht dieses Buch zu einer relevanten Studie, der ein intersektionaler Blick allerdings mehr als gut zu Gesicht gestanden hätte.

Anmerkungen:
1 Tatsächlich geht es in Hombergs Studie vornehmlich um das Reporterwesen, weniger um das Reporterinnenwesen. Überall wo das generische Maskulinum in dieser Rezension steht, sind also Frauen explizit nicht mitgemeint.
2 Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995.
3 Sonja Hillerich, Deutsche Auslandskorrespondenten im 19. Jahrhundert. Die Entstehung einer transnationalen journalistischen Berufskultur, Berlin 2018.