M. Florin u.a. (Hrsg.): Diversität historisch

Cover
Titel
Diversität historisch. Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung im Wandel


Herausgeber
Florin, Moritz; Gutsche, Victoria; Krentz, Natalie
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Bähr, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Ist die Gegenwart bunter, vielfältiger und vielleicht sogar toleranter als die Vergangenheit? Diese Frage stellen sich die Herausgeber/innen dieses Buches. Um mit dem Klischee einer statischen „Vormoderne“ aufzuräumen, wenden sie einen Schlüsselbegriff der Gegenwart auf die Geschichte an: Diversity. Diversität, so die These, besitzt keinen in allen Epochen und Kulturen gültigen inhaltlichen Kern, sondern ist permanent Gegenstand sozialer Aushandlungsprozesse. Daher ist sie auch kein Alleinstellungsmerkmal moderner Gesellschaften oder gar der Gegenwart: Sie kommt genauso im heutigen New York wie im mittelalterlichen London vor.

Methodisch greifen die Herausgeber/innen auf das soziologische Forschungskonzept der Intersektionalität zurück. Soziale Unterschiede, so dessen Annahme, entstehen vor allem dort, wo sich Unterscheidungsmerkmale überlagern und gegenseitig verstärken: Das Geschlecht einer Person lässt sich beispielsweise nicht losgelöst von ihrer Bildung, ihren Vermögensverhältnissen oder ihrer Hautfarbe betrachten. Damit knüpft der Band an aktuelle Arbeiten an, die solche Wechselwirkungen (bzw. „Intersektionen“) ebenfalls zum Thema machen.1 Im Unterschied zu diesen Forschungen plädieren die Herausgeber/innen jedoch für einen „anderen Blickwinkel“: Unter Diversität sei ein „System von Differenzierungen“ zu verstehen, „das je nach historischer Konstellation in unterschiedlicher Weise gesellschaftlich wirksam wird“ (S. 26). Dieser Zuschnitt erinnert stark an Doing-Difference-Ansätze, die zumeist ebenfalls die Kultur- und Kontextabhängigkeit sozialer Differenzierungen betonen.

Wie der geforderte neue Blickwinkel auf kulturelle Vielfalt aussehen könnte, zeigen die einzelnen Beiträge auf ganz unterschiedliche Weise. Drei Ergebnisse lassen sich aus meiner Sicht besonders festhalten.

Erstens lässt sich Diversität mit den Schlüsselkategorien der modernen Soziologie (Ethnizität, Klasse, Geschlecht) nicht hinreichend erklären. Dies zeigt etwa Annette Keilhauer anhand von Autobiographien des 18. Jahrhunderts: Für das Selbstverständnis der Autor/innen war es nämlich nicht nur wichtig, welches Geschlecht sie besaßen oder welche Stellung in der ständischen Gesellschaft sie innehatten. Mindestens genauso wichtig waren zwei Schlüsselthemen der Aufklärung: Bildung und persönliche Leistung.

Genauso waren Frauen, die sich in der Frühen Neuzeit aus verschiedenen Gründen wie Männer kleideten, nicht allein an der Verschleierung ihrer körperlichen Geschlechtsmerkmale interessiert: Wer Männerkleidung anlegte, konnte sich neue berufliche Möglichkeiten erobern und aus einem vorgezeichneten Lebensweg ausbrechen. In einigen Fällen handelte es sich daher, wie Eva Lehner zeigt, um einen „alternativen Lebensentwurf“, der neben der Geschlechtszugehörigkeit auch den Stand, den Wohnort, den Beruf und das Vermögen auf eine völlig neue Grundlage stellte (S. 69).

Nur auf die geschlechtliche Kodierung von Männerkleidung zu achten greift daher zu kurz. So stellt Victoria Gutsche in ihrem Beitrag, der sich mit dem Motiv des Kleiderwechsels im Roman des 17. Jahrhunderts befasst, zwar das Geschlechterthema in den Mittelpunkt, verweist allerdings zugleich auf die grundlegende Bedeutung anderer Faktoren wie etwa Religion und Ritterlichkeit, die das Motiv überhaupt erst erzählerisch plausibel machten.

Einen anderen Weg beschreitet Fritz Dross: Am Beispiel der Lepra zeigt er, dass Krankheitsvorstellungen in der Frühen Neuzeit untrennbar mit körperlichen Merkmalen wie etwa der Hautfarbe sowie mit Vorstellungen religiöser Reinheit verknüpft waren. Deutlich stellt er dabei den kulturellen Konstruktionscharakter von Krankheitsbildern heraus: Was als ‚Lepra‘ verstanden wurde und mit welchen sozialen Merkmalen sie einherging, änderte sich im Lauf der Geschichte.

Zweitens war Diversität anfällig für wirtschaftliche Instrumentalisierungsversuche. Besonders anschaulich zeigt das Moritz Florin in seinem hervorragenden Beitrag über Zirkusunternehmen im 19. Jahrhundert. Dort wurde Diversität aus kommerziellen Gründen dringend gebraucht: Wer einen Zirkus betrat, wollte Artisten aus aller Welt sehen und neben männlichen auch weibliche Stars bewundern. Künstler/innen aus Asien galten daher als hochbezahlte Spezialisten, und Frauen waren nicht selten Publikumslieblinge mit Höchstgagen. Gegenüber älteren Vorstellungen, die diesen Prozess als „Demokratisierung“ der Manege interpretieren, zeigt Florin dessen kapitalistische Logik auf: Diversifizierung war hier letztlich nichts anderes als ein Geschäftsmodell. Und auch wenn sich in der bunten Zirkuswelt neue Chancen für Minderheiten ergaben, waren sie doch auf Rollenklischees festgelegt. Es handelte sich, so Florin, um „Vielfalt in stereotypisierte[r] Form“ (S. 128) (man denke nur an die „Indianer“ der damals beliebten Wild-West-Shows). Zugleich bestanden hinter den Kulissen, also im Alltag der Artist/innen, rassistische Strukturen oft fort: Gerade in den USA führten beispielsweise schwarze Künstler/innen ein Außenseiterdasein.

Die Bedeutung ökonomischer Motive im Umgang mit Diversität betont auch Stephan Kokew: Er setzt sich in seinem Beitrag mit dem Status von Nichtmuslim/innen im islamischen Recht des Mittelalters auseinander. Wie Kokew zeigt, profitierten Nichtmuslim/innen als so genannte ‚Schutzbefohlene‘ (dhimmīs) von vertraglichen Sicherheitsgarantien, die sie sich mit einer Sondersteuer, der jizya, erkauften. Da kein Staat gerne auf Steuereinnahmen verzichtet, waren solche finanziellen Regelungen ein wichtiger Anreiz, religiöse Vielfalt anzuerkennen. Ein ökonomischer Umgang mit Diversität war, wie Kokew überzeugend argumentiert, systemstabilisierend. Dass der gesellschaftliche Umgang mit Vielfalt „selten konfliktfrei“ funktioniert und „die Vergangenheit [dafür] der beste Beleg“ sei, wie die Herausgeber/innen einleitend argumentieren (S. 31), ist deshalb auch nur eine Seite der Medaille: Gesellschaftliche Konflikte im Umgang mit Vielfalt waren vielerorts nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Dies zeigen neuere Forschungen deutlich.2

Wenn heutige Unternehmen Diversity Management betreiben, stehen sie damit in einer langen Tradition. Vielfalt wurde immer wieder aus der Perspektive ihrer ökonomischen Verwertbarkeit betrachtet. Wie Margit E. Kaufmann in ihrem ethnologischen Beitrag zur aktuellen Unternehmenskultur argumentiert, ist Diversität daher auch in der Geschäftswelt ein zweischneidiges Schwert. Wer sich auf Diversität beruft, leitet zwar meistens tatsächlich Fördermaßnahmen ein, um Diskriminierung zu bekämpfen, gleichzeitig handelt es sich aber eben auch um ein trendiges Marketing- und Werbeinstrument: Vielfalt verspricht unternehmerischen Erfolg.

Drittens entstanden in Zeiten grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen fast immer auch neue Formen von Diversität. Das war zum Beispiel in der Aufklärung der Fall, als ständische Schranken vom Leistungsprinzip zunehmend infrage gestellt wurden. Wie Dirk Niefanger zeigt, wurden naturrechtliche Vorstellungen in den Berufs- und Ständebüchern des 18. Jahrhunderts zwar unterschiedlich stark rezipiert, allerdings wurden Beruf, körperliches Erscheinungsbild und emotionaler Zustand darin in neuer Weise miteinander verknüpft, etwa in der Vorstellung vom hageren, mürrischen Gelehrten.

Welche Unterscheidungsmerkmale im Spannungsfeld von Nationalbewusstsein und imperialer Expansion entstanden, arbeitet schließlich Julia Obertreis am Beispiel Russlands um 1900 heraus: Zwar bemühte sich die russische Verwaltung, ihr riesiges Herrschaftsgebiet anhand ethnischer Kriterien zu ordnen und „homogene Kollektive“ zu entwerfen (S. 165). Aber damit wurden ältere Kategorien nicht einfach bedeutungslos: Wie Obertreis schlüssig nachweist, verbanden sich etwa konfessionelle zunehmend mit ethnisch-nationalen Vorstellungen. In der Folge war es nicht zuletzt die Zugehörigkeit einer Person zur orthodoxen Konfession, die in den Augen der Zeitgenossen über deren Russischsein entschied.

Dem Band ist etwas Ungewöhnliches gelungen: Wie üblich versammelt er natürlich Spezialforschungen zu ganz unterschiedlichen historischen Themen. Beim Lesen ertappt man sich aber immer wieder dabei, dass man Probleme der Gegenwart neu bewertet, etwa in Bezug auf die kommerzielle Logik von Diversität, die bislang noch zu wenig beachtet wurde. Was Historiker/innen meinen, wenn sie von Diversität sprechen, kann und will das Buch zwar nicht abschließend klären. Falls es aber künftig einmal darum gehen sollte, das Arbeitsprogramm einer historischen Diversitätsforschung zu entwickeln, finden sich hier die Grundlagen dazu.

Anmerkungen:
1 Birgit Emich, Normen an der Kreuzung. Intersektionalität statt Konkurrenz oder: Die unaufhebbare Gleichzeitigkeit von Amt, Stand und Patronage, in: Arne Karsten / Hillard von Thiessen (Hrsg.), Normenkonkurrenz in historischer Perspektive, Berlin 2015, S. 83–100; Susanne Schul / Mareike Böth / Michael Mecklenburg (Hrsg.), Abenteuerliche „Überkreuzungen“. Vormoderne intersektional (Aventiuren, 12), Göttingen 2017; Matthias Bähr / Florian Kühnel (Hrsg.), Verschränkte Ungleichheit, Praktiken der Intersektionalität in der Frühen Neuzeit (ZHF, Beiheft 56), Berlin 2018.
2 So z.B. Stuart B. Schwartz, All Can Be Saved. Religious Tolerance and Salvation in the Iberian Atlantic World, New York 2008; Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011; Karsten / Thiessen, Normenkonkurrenz.

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