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Titel
Irre Typen?. Männlichkeit und Krankheitserfahrung von Psychiatriepatienten in der Bundesrepublik, 1948-1993


Autor(en)
Schwamm, Christoph
Reihe
Medizin, Gesellschaft und Geschichte 68
Erschienen
Stuttgart 2018: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Viola Balz, Evangelische Hochschule Dresden

„Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
‚nicht sein kann, was nicht sein darf.‘"
(Christian Morgenstern, Die Unmögliche Tatsache, 1909)

Diese Reflexionen Palmströms, eines älteren Mannes, der an einer Straßenkreuzung von einem LKW überfahren wurde, stehen am Anfang von Christoph Schwamms Erzählungen über psychisch kranke Männer. Der Protagonist des Gedichts schließt aus der Tatsache, dass an dieser Stelle offiziell keine Autos fahren durften, dass er nicht überfahren und verletzt worden sei. Das hier veranschaulichte instrumentelle Verhältnis von Männern zu ihrem Körpern und ihrer Psyche schildert Schwamm treffend als charakteristisch für das Erleben vieler männlicher Psychiatriepatienten, die er in seiner Analyse psychiatrischer Krankenakten der Universitätskliniken Heidelberg und Gießen von 1948 bis 1993 beschreibt. Dabei stellt er bewusst Männer und ihr psychisches Leiden in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Christoph Schwamm leugnet die Machtverteilung der Geschlechter nicht, er betont jedoch, die mächtigere Position befreie die Männer nicht von ihren seelischen Leiden. Vielmehr sei Männlichkeit mit verschiedenen Risiken behaftet, deren Schwäche und Verletzlichkeit die Arbeit zum Gegenstand machen möchte. Dabei wird ein bedingungslos psychiatriekritischer Zugriff zurückgewiesen, da der psychiatrische Blick als Gegengewicht zur Verdrängung der Verletzlichkeit des Mannes wahrgenommen wird (S. 15). Waren die überwiegend männlichen Ärzte im Untersuchungszeitraum überhaupt in der Lage, ihre Geschlechtsgenossen zu pathologisieren? Welche Psychiatrisierungs- und Therapeutisierungshemnisse gab es? Es ist unter anderem dieser Ausgangspunkt, der Christoph Schwamm dazu veranlasst, einen eher neo-apologetischen Standpunkt einzunehmen. Wie er in Anlehnung an Edward Shorter1 ausführt, negieren Neo-Apologeten die Existenz psychischer Störungen nicht und stellen psychiatrische Behandlungen nicht grundsätzlich in Frage, während Revisionisten, die eher aus dem Spektrum der Sozial- und Kulturhistoriker/innen stammten, einen eher psychiatriekritischen Standpunkt einnehmen würden (S. 43).2 Zwar betont Schwamm, dass eine an der Geschichte der männlichen Formen seelischer Gesundheit orientierte Erzählung eine machtkritische Perspektive nicht aufgeben müsse, diese den Gegenstandsbereich jedoch nicht hinreichend erfasse. Ihn interessiert vielmehr die Frage, ob geschlechtsspezifische Störungen von Männern überhaupt angemessen aufgefangen werden konnten oder ob ihre Konzeption die Wahrnehmung von Männern als Hilfsbedürftige verhinderte, ob Männer zumindest versuchten, sich um ihre Gesundheit zu kümmern, Angebote anzunehmen oder sich um Selbstheilung bemühten (S. 48). Untersucht werden soll dabei die Geschichte der Psychiatriepatienten bei externalisierten psychischen Störungen wie beispielsweise substanzbezogenen Störungen (insbesondere Alkohol), Störungen der Sexualpräferenz, Störungen des Sozialverhaltens oder schizoide oder narzisstische Persönlichkeitsstörungen, die traditionell bei Männern häufiger diagnostiziert wurden und werden und einem traditionellen Männlichkeitsideal von Stärke und Aggressivität entsprachen, aber auch ihre mit „unmännlichen“ Diagnosen markierten Gegenstücke, also jene Patienten, die vorwiegend depressiv, ängstlich, essgestört oder gar hysterisch oder dependent reagierten. Diskutiert werden diese Fragen im Kontext einer sogenannten „Leitmännlichkeit“, die im Untersuchungszeitraum mindestens bis in die 1970er-Jahre hinein von Männern verlangte, dass sie erstens im Besitz von Kapital waren oder einer Erwerbsarbeit nachgingen, zweitens heterosexuelle Beziehungen pflegten und Oberhaupt der Familie wurden und sich drittens an homosozialen Beziehungen außerhalb der häuslichen Sphäre beteiligten (S. 40).

Während das erste Kapitel ausführlich die oben genannten Leitfragen erörtert, skizziert das zweite die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der „Leitmännlichkeiten“. Dabei konstatiert Schwamm, dass die Auseinandersetzung mit den klassisch männlichen psychischen Leiden einerseits durch eine somatische Engführung gekennzeichnet war. Das zeigt er am Beispiel des Alkoholismus, der erst ab 1968 als psychische Krankheit inklusive eines Anspruchs auf therapeutische Hilfen galt, während es vorher lediglich körperliche Entziehungskuren gab. Andere deviante Männer hatten andererseits Schwierigkeiten mit der Anerkennung ihrer psychischen Leiden als Krankheiten, insbesondere wenn sie straffällig geworden waren oder an sogenannten „Störungen des Sozialverhaltens“ litten. Weder bedeutete für diese Männer eine psychiatrische Diagnose eine Verbesserung der Haftbedingungen mit therapeutischen Ansätzen, noch wurden Kindern mit entsprechender Diagnose unterstützende Hilfen innerhalb der Psychiatrie zuteil. Vielmehr wurden diese einer Heimerziehung zugeführt, die oft durch gewalttätige Strukturen gekennzeichnet war und zu einer Retraumatisierung der Jungen führte. Im dritten Kapitel wird gezeigt, dass eine mangelnde Compliance der behandelten Männer zwar nicht eindeutig auf marginalisierte Männlichkeiten zurückzuführen war, die konkreten Widerstandshandlungen aber die Form von Praktiken der Männlichkeiten annahmen. Gleichzeitig betont Schwamm, dass von Männlichkeit als Behandlungshindernis nur mit Einschränkungen geredet werden könne. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den Bewältigungsversuchen der Psychiatriepatienten. Hier muss Schwamm einräumen, dass zwar eine Vielzahl von Bewältigungsversuchen beobachtbar sind – wie beispielsweise komplementärmedizinische oder diätetische Maßnahmen sowie religiöse Praktiken –, diese jedoch nur in individuellen Fällen als Praktiken der Männlichkeit in Erscheinung traten. Demgegenüber wurden von den Ärzten immer wieder Bewältigungsstrategien der Patienten als Symptome von Störungen pathologisiert. Das fünfte Kapitel widmet sich den sozialen Beziehungen der Patienten. Hier werden verschiedene Gewalterfahrungen der Patienten in Kindheit und Jugend deutlich, von den Müttern in Form von inadäquaten Abhängigkeitsverhältnissen und emotionalem Missbrauch, von den Vätern meist in Form von physischer und verbaler Gewalt.

Christoph Schwamm stellt seine Untersuchungen in den Kontext einer nachholenden Medikalisierung und betont immer wieder, dass die Männer sich gesundheitskompatibler verhielten, als man es ihnen zugestand. So sehr diese Hypothese an der einen oder anderen Stelle überzeugt, insbesondere dann, wenn die Psychiatrie Männer aus den Gefängnissen oder heimähnlichen Anstalten erlöste, bleibt diese Hypothese auch begrenzt. Die Gefahren dieser Medikalisierung, nämlich Befindlichkeitsstörungen und nicht geschlechtsrollenkonformes Verhalten von Männern zu pathologisieren, werden in der Arbeit wenig herausgestellt. Auch hat die Gegenüberstellung von Neo-Apologetik und Kulturgeschichte innerhalb der Psychiatrie ihre Grenzen, da es sich bei der Definition psychischer Störungen auch nach psychiatrischer Lehrmeinung nicht um feststehende nosologische Einheiten, sondern um (historische und kulturelle) Konventionen handelt, in denen Grenzziehungen über das, was als psychisch krank gilt, bei der Erstellung der Klassifikationssysteme stets neu verhandelt wurde. Diese Sichtweise auf den Wandel der psychischen Störungen stärker einfließen zu lassen, hätte die Argumentation der Arbeit geschärft. An einigen Stellen ist zudem wegen der mangelnden geschlechtervergleichenden Herangehensweise auch nicht sicher zu eruieren, ob die geschilderten Erfahrungen überhaupt für Männer spezifische waren, etwa bei vielen der Bewältigungsformen, dem emotionalen Missbrauch durch Mütter oder dem physischen durch Väter. Leider arbeitet Schwamm zudem nur an wenigen Stellen heraus, wie die Psychiatrie als eigener homosozialer Raum fungierte, indem zumindest in weiten Teilen des Untersuchungszeitraums überwiegend männliche Psychiater mit männlichen Patienten interagierten. Welche Konstruktionen von Männlichkeiten dieses Gefüge hervorbrachte und wie sie diese stützte, bleibt letztlich offen. Gefragt werden kann auch, warum der psychiatrische Blick ein Gegengewicht zur Verletzlichkeit des Mannes sein soll. Der Autor setzt damit eine Komplizenschaft zwischen den Männern (Psychiater und Patient) voraus, die aber kritisch zu hinterfragen wäre.

Insgesamt ist jedoch hervorzuheben, dass Christoph Schwamm eine interessante Studie zu einem wenig untersuchten Thema gelungen ist. Die Zahl der untersuchten Krankenakten, die nicht nach diagnostischen Kriterien vorselektiert werden konnten, sondern in ihrer Gesamtzahl qualitativ untersucht wurden, ist beeindruckend und der Autor ist bemüht darum, ein differenziertes Bild seines Untersuchungsgegenstandes zu vermitteln. In diesem Sinne handelt es sich bei der vorliegenden Studie um eine gewinnbringende Lektüre.

Anmerkungen:
1 Edward Shorter, Geschichte der Psychiatrie, Reinbek bei Hamburg 2003.
2 Für die Sozialgeschichte beispielhaft: Dirk Blasius, „Einfache Seelenstörung“. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945, Frankfurt am Main 1994. Für die Kulturgeschichte beispielhaft: Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2015.