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Titel
Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen


Autor(en)
Peters, Florian
Reihe
Kommunismus und Gesellschaft - Reihe des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam 2
Erschienen
Anzahl Seiten
513 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mike Plitt, Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder

Im Februar 2018 setzte der polnische Präsident Andrzej Duda temporär eine kontrovers diskutierte Gesetzesnovelle durch: Wer Polen von nun an „faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen, […] die durch das ‚Dritte Reich‘ begangen wurden“, zuwies, mache sich strafbar und müsse mit einer bis zu dreijährigen Haftstrafe rechnen. Das Gesetz rief nationale und internationale Proteste hervor und machte deutlich, dass die Vergangenheit nach wie vor zu einem der meist umkämpften Felder polnischer Politik gehört. Auch Florian Peters widmet sich in seiner 2016 erschienenen Dissertation erinnerungspolitischen Kontroversen und beschäftigt sich auf über 450 Seiten mit den geschichtspolitischen Diskursen der 1970er- und 1980er-Jahre in der Volksrepublik Polen. Ziel der Publikation ist es laut Autor, die im Zuge der aufblühenden Oppositionsbewegung einsetzenden Dynamiken als Ringen staatlicher und alternativer Geschichtsauffassungen um die „Deutungshoheit über die nationale Vergangenheit“ zu begreifen (S. 9) und ihre Bedeutung für den Wandel von 1989 einzuordnen.

Hierfür wird vom Autor zunächst ein konziser, erinnerungstheoretischer Abriss geleistet, in dem Peters auf die Fallstricke der Erinnerungsforschung hinweist. Dazu zählt er „zeitbedingte normative Vorannahmen“ (S. 27) und illustriert dies anhand der bestehenden dichotomen Sichtweise auf die zentralen Begriffe „Erinnerungskultur“ und „Geschichtspolitik“. Dabei beklagt er die Tendenz zur Höhergewichtung des Ersteren in den Memory Studies (S. 29). Das Bemühen des Autors, jenen Fallstricken zu entgehen, führt jedoch teilweise zu einer allzu kritischen Betrachtung des Konzepts der Erinnerungsorte. Denn Peters' Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der „[...] Mechanismen ihrer Konstruktion, Aushandlung und Zirkulation [...] einschließlich der daran beteiligten Akteure“ (S. 30) ist weniger neu als behauptet und lässt sich beispielweise im Ansatz bereits in der mehrbändigen Arbeit zu Deutsch-Polnischen Erinnerungsorten finden.

Im Zentrum von Peters‘ Arbeit stehen vier diskursanalytische Fallstudien: Der doppelte Überfall auf Polen (1. September und 17. September 1939), die Exekution polnischer kriegsgefangener Offiziere in Katyń, der Warschauer Aufstand sowie der Holocaust samt dem Warschauer Ghettoaufstand. Die Auswahl mag auf den ersten Blick wenig originell erscheinen, ist aber sinnvoll, bilden doch alle vier Themen Kristallisationspunkte polnischer Erinnerungspolitik. Peters elaboriert zunächst ausführlich die Partikularitäten des polnischen Sonderfalls, indem er seiner Studie eine Einbettung der Rolle des Zweiten Weltkriegs in die konkurrierenden Narrative von Staat und Opposition voranstellt.

Eine der Besonderheiten liege für die staatliche Seite darin, dass sich die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei über die Phase von 1945 bis 1989 hinweg als „einheimische politische Kraft“ (S. 42) zu inszenieren versucht habe, indem sie selektiv an nationale Traditionen und Narrative anknüpfte und den Zweiten Weltkrieg so zum „Kern der staatssozialistischen historischen Meistererzählung“ (S. 71) machte. Peters präpariert die verschiedenen Strategien staatlich-nationalistischer Erinnerungspolitik deutlich heraus. Diese reichten in Bezug auf den doppelten Überfall von einer tendenziösen Darstellung der von kommunistischer Seite oftmals beschworenen sowjetisch-polnischen Waffenbrüderschaft in staatlichen Fernsehserien (z.B. „Vier Panzerfahrer und ein Hund“) bis zum Versuch linientreuer Historiker, den 17. September 1939 im Schatten des 1. Septembers 1939 verschwinden zu lassen (S. 183f.).

Der staatlichen Erinnerungspolitik stellt Peters die alternativen Geschichtskultur der oppositionellen Kreise gegenüber. Diese seien von „Sehnsucht nach dem Authentischen im Individuellen“ (S. 102) getrieben gewesen und hätten sich an der positivistischen Tradition der Selbstorganisation ausgerichtet. Durch ihr unablässiges Gegennarrativ vermochten diese Kreise, laut Peters, die Positionen und Rhethoriken selbst der treuesten Parteihistoriker abzuschwächen (S. 182f.), unter anderem indem sie in der Untergrundpresse das Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts veröffentlichten (S. 190f.) oder in klandestinen Seminaren der Fliegenden Universitäten offen vom sowjetischen Angriff auf Polen sprachen.

Die Wirkmächtigkeit dieser alternativen Geschichtskultur zeigt Peters auch an der Causa Katyń, die für die Volksrepublik ein erinnerungspolitisches Dilemma darstellte. Da die tatsächlichen Verantwortlichen des Massakers der polnischen Gesellschaft bekannt waren, verzichtete der polnische Staat alsbald auf defizitäre Propagandabemühungen, um das Thema fortan zu verschweigen. Das daraus entstehende Vakuum vermochte ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre die exilpolnische Gemeinschaft in Großbritannien zu nutzen, indem sie eine eigene kommemorative Politik in Bezug auf Katyń verfolgte (S. 217). Ferner wurde das staatliche Schweigen durch Formen zivilen Ungehorsams konterkariert, wie sie sich beispielsweise auf dem Warschauer Powązki-Friedhof abspielten. Dort schufen die Witwen ermordeter Offiziere ein symbolisches Grab und damit einen inoffiziellen, de facto jedoch primären Gedenkort, der sich über zivilgesellschaftliche Erinnerungspraktiken konstituierte (S. 220). Gepaart mit der Vielzahl von Publikationen des Zweiten Umlaufs zu Katyń wurde so ein „Resonanzraum für die Erinnerung“ (S. 222) an das Massaker geschaffen, der schließlich zu einer vorsichtigen Lockerung staatlicher Zensur führte.

Den Anspruch einer näheren Analyse des Handlungsspielraums staatlicher Geschichtspolitik löst Peters im Verlauf seiner Studie konsequent ein, beispielsweise anhand einer nähergehenden Betrachtung der Polnisch-Sowjetischen Historikerkommission, die zwischen 1987 und 1990 die „weißen Flecken“ in der beidseitigen Geschichte aufarbeiten sollte. Aufgrund der Reformresistenz der sowjetische Seite (S. 264) blieb eine erinnerungspolitische Transparenz in der hochemotionalen Frage Katyń jedoch aus, was die Manövrierfähigkeit der Regierung Jaruzelski einschränkte und letztlich ihre Glaubwürdigkeit weiter schwächte (S. 273).

Trotz des ideologischen und geopolitischen Korsetts konstatiert Peters eine kalkulierte Elastizität in der staatlichen Nutzung von Geschichte zum Zwecke parteilicher Selbstlegitimation. Deutlich wird dies am Beispiel der Armia Krajowa (AK), gegen die die staatliche Seite bis zum Zäsurjahr 1956 eine erbitterte Propagandakampagne führte, die sogar den Vorwurf der Kollaboration umfasste (S. 277). Nach dem Ende des Stalinismus schlug die offizielle Memorialpolitik eine andere Tonart an, indem sie versuchte, AK und Warschauer Aufstand zu appropriieren, um an patriotische Gefühle und nationale Widerstandstraditionen der Polen anzuknüpfen.

Gegen diese staatlichen Instrumentalisierungsversuche setzten sich alternativgeschichtliche Akteure (insbesondere der Historiker und Teilnehmer des Warschauer Aufstands Władysław Bartoszewski) zur Wehr, indem sie die polnische Résistance in „nichtkommunistischen Kontinuitätslinien“ (S. 296) darstellte. Damit entsprachen sie der gesellschaftlich stark ausgeprägten Sehnsucht nach einer nichtstaatlichen Sicht auf die AK und den Warschauer Aufstand und wurde letztendlich von der offiziellen Geschichtskultur „als kleineres Übel“ (S. 311) geduldet.

Wie Peters herausarbeitet, war die alternative Geschichtskultur in ihren Positionen zum Aufstand ihrerseits nicht vor Einseitigkeit und Politisierung gewappnet. Wortmeldungen, die Kritik an der „martyrologisch-ideologischen Fixierung der Opposition“ (S. 141) äußerten, blieben marginal und mussten einer unermüdlichen Ausschlachtung des Aufstandsmythos weichen. Dieses Fehlen an Grau- und Zwischentönen wird auch am Beispiel der Erinnerung von Holocaust und jüdischem Widerstand deutlich, für die Peters Parallelen zwischen offiziellen und alternativgeschichtlichen Kreisen ausmacht. Angesichts der Kritik am polnischen Antisemitismus aus dem Ausland betonten beide Seiten die Vorbildrolle und Beteiligung polnischer bzw. kommunistischer Widerstandskämpfer (S. 349ff.) am Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Zudem, so Peters, fand von staatlicher Seite eine „Polonisierung des Gedenkens“ statt, indem die jüdischen Opferzahlen national vereinnahmt und dadurch als eigenständige Opfergruppe unterschlagen wurden (S. 347).

Auch im Kreis der Gegengeschichte werden von Peters exkludierende Momente angeführt. So erwähnte Papst Johannes Paul II. anlässlich seines Besuchs im Konzentrationslager Auschwitz (1979) die jüdischen Opfer nur am Rande und fokussierte stattdessen auf das polnische Martyrium. Dies führte zu einem weiteren Auseinandertreiben zwischen der polnischen und jüdischen Erinnerung an die deutsche Vernichtungspolitik (S. 369ff.). Allerdings nuanciert Peters auch, dass die Positionen der staatlichen und alternativgeschichtlichen Kultur bei aller strukturellen Ähnlichkeit nicht deckungsgleich waren. Davon zeugte etwa die öffentlichkeitswirksame Neuverhandlung der polnisch-jüdischen Fragen samt des heiklen Themas des polnischen Antisemitismus durch Teile der intellektuellen Opposition, z.B. in Form von kulturellen und wissenschaftlichen Veranstaltungen, offenen Appellen sowie Eigenpublikationen (S. 372ff.).

Peters liefert eine höchst ausgewogene Studie, die auf der Auswertung eines breiten Quellenfundus beruht. Zudem ist das Werk äußerst lebhaft geschrieben, ein Eindruck, der insbesondere durch die Vielstimmigkeit der zitierten Akteure entsteht.

Lediglich die erinnerungspolitischen Überlegungen in Bezug auf die Erinnerungsorte wirken ein wenig überholt, wurde die (berechtigte) Kritik an Pierre Noras Konzept doch zuletzt in einer Vielzahl an Publikationen reflektiert. Auch der Befund, dass es die alternativgeschichtliche Kultur war, die mit ihren Geschichtsdarstellungen den nötigen diskursiven Freiraum schuf, wird Experten nur wenig überraschen. Der Erkenntnisgewinn der Arbeit besteht jedoch vor allem in der synthetischen Betrachtung der Fallstudien, durch die es Peters gelingt, die Komplexität des erinnerungspolitischen Aushandlungsprozesses zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren nachvollziehbar darzustellen. Peters schafft es zudem, erinnerungskulturelle Herausforderungen seit der Transformation zu perspektivieren. Diese äußern sich im Clash der homogenisierten Geschichtsbilder von einst und einer individuellen Opfererinnerung, wovon nicht zuletzt die kontroversen Debatten um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig zeugen. Mit „Revolution der Erinnerung“ hat Peters einen wichtigen Verständnisschlüssel für die Hintergründe eben jener Debatten geliefert.

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