H. Arendt: The Modern Challenge to Tradition

Cover
Titel
The Modern Challenge to Tradition. Fragmente eines Buchs, hrsg. v. Barbara Hahn, Ingo Kieslich, James McFarland, Ingeborg Nordmann


Autor(en)
Arendt, Hannah
Reihe
Hannah Arendt, Kritische Gesamtausgabe 6
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
923 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alfons Söllner, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz

Der kometenhafte Aufstieg Hannah Arendts in den Ideenhimmel des politischen Denkens ist eine unbestreitbare Tatsache der gegenwärtigen Geistesverfassung.1 In dieser Erfolgsgeschichte gab es lange Zeit einen Makel, der von Arendts Verehrer/innen bitter beklagt wurde, weil er ihrem Einzug in den akademischen Olymp im Wege zu stehen schien: Es fehlte eine Werkausgabe, das heißt eine einheitliche und möglichst „kritische“ Edition ihrer Schriften. Das soll sich jetzt ändern: Anzuzeigen ist der erste Band einer auf 17 Bände ausgelegten Gesamtausgabe, die im Göttinger Wallstein Verlag erscheint und von einem US-amerikanisch-deutschen Team unter der Leitung von Barbara Hahn und Thomas Wild betreut wird. Das steht für ein Programm: Das Konzept der Edition hebt darauf ab, die Zwei- beziehungsweise Mehrsprachigkeit der Autorin ernster zu nehmen als bisher geschehen. Das liegt ganz im Trend der neuesten Lektüre, wie sie zum Beispiel Stefania Maffeis vorgelegt hat.2

Doch damit nicht genug. Der Clou dieser Arendt-Werkausgabe scheint darin zu liegen, dass sie dezidiert intermedial angelegt ist. Das bedeutet, dass der einzelne Band zunächst als gedrucktes Buch herauskommt, um jeweils ein Jahr später auch in digitalisierter Form vorzuliegen. Diese soll den internetaffinen Leserinnen und Lesern einen umfassenden Zugriff auf die Texte gestatten: Die computergestützte Stichwortrecherche soll auf diese Weise ebenso ermöglicht werden wie das Zerlegen eines Textes in seine zeitlichen oder sachlichen Bestandteile, das Abheben der Überklebungen oder das Entziffern der handschriftlichen Überschreibungen, an das die Älteren von uns sich aus dem vordiluvialen Zeitalter des Schreibens leidvoll erinnern.

Wie stellt sich nun der von Barbara Hahn und James McFarland edierte Erstling dar, der in der Nummerierung der Gesamtausgabe als Band 6 firmiert? Es ist in der Tat ein sehr dickes, mit über 900 Seiten fast schon unhandliches Buch, das Arendts Schaffen in den Jahren 1951 bis 1954 dokumentiert. Der Titel klingt rätselhaft: „The Modern Challenge to Tradition: Fragmente eines Buches“. Aber gerade dieser Einstieg in das Gesamtprojekt ist gut gewählt, denn tatsächlich waren Skeptiker wie Bewunderer der streitbaren Denkerin immer schon gespannt zu erfahren, was eigentlich aus dem Forschungsstipendium „Totalitarian Elements of Marxism“ geworden ist, das Arendt 1951 bei der Guggenheim-Foundation beantragte und auch erhielt.

War es aber wirklich ein Buch über Marx und den Marxismus, an dem Arendt zu Anfang der 1950er-Jahre schrieb? Und warum hat eine Autorin, deren lebenslange Produktivität außer Zweifel steht, gerade dieses Buch nicht fertiggestellt? Sicherlich sind das eher Fragen zukünftiger Forschung, also inhaltlicher Art, während die Aufgabe einer kritischen Edition doch nur darin bestehen kann, das vorhandene Material textlich sauber zu präsentieren, es verständlich zu ordnen und daraus ein handliches Archiv zu machen, das den Intentionen der Autorin gerecht wird. Doch anders als man es von ihnen erwartet hätte, üben die Herausgeber/innen keine interpretatorische Zurückhaltung, sondern arbeiten von Anfang an mit der ebenso „starken“ wie paradoxen Annahme eines nicht-geschriebenen Buches. Damit unterstellen sie der Autorin, dass sie ein solches Buch tatsächlich schreiben wollte, ihr Vorhaben aber nicht realisieren konnte. Im Nachwort liest sich das so: „Arendt schrieb an einem Buch, das nicht dasselbe blieb; sie arbeitete in einem Denkraum, den sie immer wieder umstrukturierte.“ (S. 827) Auf der Hypothese vom nicht-geschriebenen Buch beziehungsweise deren Transformation zum sich umstrukturierenden Denkraum beruht die Grobgliederung des Buches in drei etwa gleichlange Teile, durch die das Material in eine sachliche Ordnung gebracht wird.

In Teil I, überschrieben mit „The Great Tradition“, finden sich Texte aus den Jahren 1952 und 1953, die teils noch als direkte Schlussfolgerungen aus dem Totalitarismus-Buch gelten dürfen (wie etwa das Stück über „Ideologie und Terror“, das dann 1955 die deutsche Fassung des Totalitarismus-Buches beschließen wird), teils eher indirekte Auseinandersetzungen mit dem Marxismus-Thema darstellen (beispielsweise ein Berliner Rundfunkvortrag zu „Hegel und Marx“ oder ein schwer einzuordnendes Manuskript zu „Law and Power“). Komplettiert wird der Teil durch eine Serie von Texten, in denen die Totalitarismuserfahrung als solche und ganz direkt zum neuralgischen Zentrum wird.

Teil II versammelt Texte aus der Zeit von Mitte 1952 bis Ende 1953, wobei deutlich wird, dass die These vom ungeschriebenen Marx-Buch auf ein viel weiteres Gelände führt und positiver gefasst werden muss. Umso riskanter ist jedoch die Perspektive, für die Arendt selbst wechselnde Titel erprobt hat. Einen von ihnen halten die Herausgeber/innen für so zentral, dass er als Titel des Editionsbandes selbst gewählt wurde: „The Modern Challenge to Tradition“. Das klingt ebenso weitläufig wie vieldeutig, meint aber auch hier wieder den virtuellen, immer weiter ausufernden Denkraum, der sich während dieser Zeit zur gesamten Geschichte des politischen Denkens hin öffnet. Im Umkehrschluss scheint das zu bedeuten, dass es eine klare und begrenzte Konzentration auf Marx und den Marxismus bei Arendt ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr gab. Und vielleicht, so ist man versucht weiterzufragen, hat es eine solche Konzentration bei Arendt auch vorher und nachher nicht gegeben.

Welchen Stellenwert hatten also Marx und der Marxismus für Arendt in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre? Offensichtlich ist, dass dieser sich im Zeitverlauf veränderte: In der ersten, mit dem Guggenheim-Projekt verbundenen Phase verpflichtete die Antragstellung Arendt primär auf die Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte der Marx‘schen Lehre, wobei diese – unter dem Einfluss des Kalten Krieges? – von ihr als funktionaler Teil totalitärer Herrschaft verstanden wird. Aber schon in der zweiten Phase verschiebt sich der Fokus, wird Marx zum Vehikel einer ebenso angestrengten wie produktiven Antikenreise, in deren Verlauf Arendts Platon- und Aristoteles-Lektüre ihre ambivalenten Früchte trägt. Marx wird zum Mediator zwischen der modernen und der vormodernen Welt, in der das griechisch-römische Zeitalter spannungsvoll gegen das mittelalterliche Christentum steht. Er spielt damit für Arendt eine ähnliche Rolle wie Montesquieu, dessen Staatsformenlehre am Ende des Totalitarismus-Projektes aus der Alternativlosigkeit der totalitären Herrschaft herauszuführen schien.3 Aber was genau geschieht mit Marx in der dritten der hier unterschiedenen Arbeitsphasen?

Für die Beantwortung dieser Frage sind zunächst einige Beobachtungen praktischer Natur interessant. Zum einen verweisen die Herausgeber/innen darauf, dass sich in Arendts Privatbibliothek tatsächlich nur wenige Werke von Marx finden lassen, während die Ausgaben der philosophischen Klassiker, sowohl in der Originalsprache als auch in späteren Übersetzungen, nicht nur zahlreich versammelt, sondern auch mit zahllosen Anstreichungen versehen sind. Zum anderen findet man einen Umstand bestätigt, der einem schon aus dem „Denktagebuch“4 bekannt war: „Während viele, viele Seiten im Denktagebuch von der Beschäftigung mit Platon und Aristoteles, Montesquieu, Kant und Hegel zeugen, finden sich nur wenige Zitate und keine Spuren systematischer Lektüren von Marx und Engels.“ (S. 837) Selbst wenn der zuerst genannte Aspekt auch bedeuten könnte, dass die Marx-Bestände nachträglich aus der Bibliothek herausgenommen wurden, ist doch der zweite Befund umso gravierender: Arendts Lektürepensum konzentrierte sich offensichtlich auf die antiken Klassiker.

Scheint Arendts Retroperspektive anfangs noch von Zuversicht geleitet gewesen zu sein, so stellte sich im Verlauf der Auseinandersetzung mit den Werken der Klassiker ein schlimmer Verdacht bei ihr ein: War etwa im Marx’schen Geschichtsverständnis nur auf die Spitze getrieben, was als verderblicher Keim längst vorher angelegt war, und zwar schon ganz am Anfang – bei Platon (und durchaus in einem gewissen Gegensatz zu Aristoteles)? Demnach begann die Verleugnung der zutiefst menschlichen Aktivitäten des Sprechens und Handelns schon im berühmten Höhlengleichnis und wurde, vermittelt über die Tradition des Platonismus, zu einem machtvollen Unterstrom des abendländischen Denkens, durch den nicht nur der Zusammenhang von Wahrheit (logos) und Sprechen (dialogein) abstraktifiziert, sondern auch die Grundlagen des politischen Handelns verdunkelt wurden.

Dieser Verdacht kommt in den gegen Ende des hier besprochenen Bandes versammelten Texten nicht mehr zur Ruhe. Entscheidend aber ist, dass er Arendt nicht etwa in eine Sackgasse, sondern ganz im Gegenteil in das weite Gelände der politischen Ideengeschichte führte. Dass diese als Ganze zur Disposition gestellt ist, kann dabei für eine so passionierte Denkerin wie Arendt nur bedeuten, dass das gesamte Gelände vom Anfang bis zum Ende neu vermessen werden muss. Offensichtlich ist der Denkraum, in dem Arendt sich gegen Ende der hier dokumentierten Arbeitsphase bewegte, nicht nur größer, sondern auch immer komplexer geworden. Und brüchiger wird dementsprechend die Absicht, diese Komplexität noch zwischen zwei Buchdeckeln einfangen zu können. Für die Dramaturgie der vorliegenden Edition bedeutet dies, dass die These vom ungeschriebenen Marx-Buch nicht unreflektiert stehen bleiben kann.

Aber muss man nicht noch einen Schritt weitergehen und fragen, ob es bei Hannah Arendt überhaupt angemessen ist, von einem ungeschriebenen Buch zu sprechen? So findet sich in der Edition zwar angedeutet, dass auf das nicht-geschriebene Marx-Buch vier, fünf Jahre später tatsächlich ein „echtes“ Buch folgte, nämlich „The Human Condition“ (1958) oder „Vita activa“, wie die von Arendt selbst besorgte Übersetzung ins Deutsche 1960 dann hieß.5 Was und wie viel von den hier zusammengestellten Texten jedoch tatsächlich Eingang in diese Schrift fand, bleibt außerhalb der Betrachtung der Herausgeber/innen. Aufmerksame Leser und Leserinnen des Buches wissen seit Langem, dass „The Human Condition“ sowohl das sorgfältigste als auch das schwierigste Werk von Arendt ist, wahrlich ihr philosophisches Hauptwerk. Doch erst jetzt lässt sich erahnen, wie viel davon in den Texten der frühen 1950er-Jahre bereits vorformuliert war. Man darf also gespannt sein, wie die Herausgeber/innen diesen Bogen spannen werden!

Anmerkungen:
1 Die ungekürzte Version dieser Besprechung ist am selben Tag erschienen auf Soziopolis, https://soziopolis.de/lesen/buecher/artikel/wollte-hannah-arendt-wirklich-ein-marx-buch-schreiben/.
2 Stefania Maffeis, Transnationale Philosophie. Hannah Arendt und die Zirkulationen des Politischen, Frankfurt am Main 2018.
3 Siehe dazu das Schlusskapitel der deutschen Fassung des Totalitarismus-Buches von 1955: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, bes. S. 710–726.
4 Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, hrsg. v. Ursula Ludz / Ingeborg Nordmann, München 2002.
5 Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958; dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1960.