C. Lotz: Nachhaltigkeit neu skalieren

Cover
Titel
Nachhaltigkeit neu skalieren. Internationale forstwissenschaftliche Kongresse und Debatten um die Ressourcenversorgung der Zukunft im Nord- und Ostseeraum (1870–1914)


Autor(en)
Lotz, Christian
Reihe
Umwelthistorische Forschungen 8
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Bemmann, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Wie lassen sich Wirtschaftswachstum und begrenzte natürliche Ressourcen miteinander in Einklang bringen? Im Bereich der Forst- und Holzwirtschaft schien diese Frage gelöst zu sein: Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, so eine bis heute verbreitete Sichtweise, habe eine sich am Handlungsprinzip der ‚Nachhaltigkeit‘ orientierende Forstwirtschaft zunächst in Mittel- und Westeuropa (später auch darüber hinaus) geholfen, sowohl die steigende Nachfrage industrialisierter Gesellschaften nach Holz zu decken als auch den Wald in seinem Bestand zu sichern sowie quantitativ und qualitativ zu verbessern. Das spezifische Handlungsprinzip der ‚forstlichen Nachhaltigkeit‘ bestand demzufolge im ersten Schritt daraus, mit statistischen Erhebungen und naturwissenschaftlichen Untersuchungen Erkenntnisse über Holzvorräte und -zuwächse in einzelnen Waldbeständen eines Forstbetriebs zu gewinnen. Im zweiten Schritt folgte eine darauf aufbauende Planung mit dem Ziel, den Holzertrag oder die finanziellen Einkünfte dieses Forstbetriebs dauerhaft zu stabilisieren und bestenfalls zu maximieren, ohne dabei das Grundkapital, den Wald, zu gefährden. Tatsächlich ist die Waldfläche in vielen Teilen Europas im 19. und 20. Jahrhundert ebenso deutlich gewachsen wie die Holzvorräte und der Holzverbrauch. Ist der Forstwirtschaft also die Quadratur des Kreises gelungen?

In seiner lesenswerten Studie zeigt Christian Lotz, dass dies nicht der Fall war und dass prosperierende Industriegesellschaften seit jeher ökologische und soziale Kosten ihrer Produktionsweise in andere Weltregionen auslagern. Er konzentriert seine Untersuchung auf Debatten, die Experten um 1900 auf internationalen Forstkongressen und in europäischen Fachperiodika darüber führten, wie sich Industrialisierung und die Etablierung von Eisenbahn und dampfgetriebener Schifffahrt auf die ‚forstliche Nachhaltigkeit‘ auswirkten. Ziel seiner Arbeit ist es, einen Beitrag zum Bedeutungswandel von ‚Nachhaltigkeit‘ zu leisten. Lotz verortet sich einerseits im Kontext von Studien, die sich Wissenstransfers in internationalen Expertennetzwerken widmen. Andererseits knüpft er an vor allem umwelthistorische Arbeiten zur Geschichte von Forst- und Holzwirtschaft im industriellen Zeitalter an.

Lotz‘ Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass der Holzverbrauch entstehender Industriegesellschaften in Mittel- und Westeuropa seit Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich anstieg und dass die stetig wachsende Nachfrage in zunehmendem Maße auch mit Holz aus Nord- und Ostmitteleuropa sowie aus Russland gedeckt wurde. Angesichts dessen kamen Lotz zufolge Experten in ganz Europa zwischen 1870 und 1913 zu dem Schluss, jahrzehntealte Gewissheiten zur Waldbewirtschaftung seien nicht mehr zeitgemäß und müssten an die neuen Bedingungen angepasst werden. So habe etwa Konsens darüber geherrscht, Laub- und Mischwälder mit unterschiedlich alten Bäumen so weit wie möglich in gleichaltrige Nadelhochwälder umzuwandeln, um den stetig wachsenden Bedarf an Nutzholz decken zu können. Über die Art und Weise der Bewirtschaftung und die dabei zu nutzenden Baumarten sollten langfristige Beobachtungen und Untersuchungen in Versuchswäldern Aufschluss geben. Dafür schlossen sich Institute in mehreren europäischen Staaten 1891/92 zum Internationalen Verband Forstlicher Versuchsanstalten (heute: International Union of Forest Research Organisations) zusammen, dessen Gründung Lotz ein ganzes Kapitel widmet. Hinsichtlich der zeitlichen Dimension forstlicher Planung – aufgrund der langen Wachstumsperioden von Bäumen unterscheidet sich die Forstwirtschaft hier deutlich von anderen Branchen – spiegelten die Fachdebatten Lotz zufolge ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Missverhältnis zwischen forstwirtschaftlicher Produktionszeit und der wirtschaftlichen Dynamik industrialisierter Gesellschaften wider. Die ökologisch bedingt langen Produktionszeiträume hätten es aber nur ansatzweise erlaubt, forstliche Planungen an die sich vergleichsweise rasch verändernde Nachfrage nach Holz und Holzprodukten anzupassen.

Ganz anders sei dies hinsichtlich der räumlichen Dimension ‚forstlicher Nachhaltigkeit‘ gewesen. Die Eisenbahn habe „die bisherigen Grundlagen der klassischen forstwissenschaftlichen Nachhaltigkeitskonzepte […] überrollt“ (S. 296) und topographische Beschränkungen des Holzhandels weitgehend aufgehoben (bis dahin war der Fernhandel mit Holz auf flößbare Gewässer und Seewege angewiesen). Das Vordringen moderner Verkehrsinfrastruktur habe die geographische „Nutzholzgrenze“ („timber frontier“)1 immer weiter nach Norden und Osten verschoben. Die Waldflächen, die für die Holzversorgung industrieller Verbraucher Europas profitabel genutzt werden konnten, seien dadurch stetig ausgeweitet worden. Die zunehmende Einfuhr relativ preiswerten Holzes aus Skandinavien, Nordrussland und Ostmitteleuropa habe zum einen die Industrialisierung in Mittel- und Westeuropa in einer Weise befördert, die die Wirtschaftsgeschichte bisher zu wenig beachtet habe. Zum anderen weise sie auf die Tatsache hin, dass dies mit sozialen und ökologischen Kosten verbunden war, die die Herkunftsländer des Rohstoffs tragen mussten – eine Beobachtung, die durch jüngste Untersuchungen zu Polen ebenso bestätigt wird2, wie sie die über ihre historiographische Bedeutung hinausgehende Relevanz von Lotz‘ Arbeit unterstreicht.

Diese von Lotz als „De-Territorialisierung“ bezeichnete Entwicklung ‚forstlicher Nachhaltigkeit‘ habe einerseits zu euphorischen Forderungen zeitgenössischer Forstexperten geführt, dank der nun zur Verfügung stehenden, vermeintlich ‚unerschöpflichen‘ Holzressourcen Nordeuropas und Russlands bald auf nachhaltige Forstwirtschaft verzichten zu können. Andererseits sei sie Anlass gewesen, auf der internationalen Ebene statistische und kartographische Erhebungen, Forschungsarbeiten und Diskussionen über die tatsächlich vorhandenen Holzvorräte und Waldverhältnisse anzustoßen, die um 1900 in Klagen über eine drohende weltweite Holznot mündeten. Auch habe es nach der Jahrhundertwende Überlegungen gegeben, die „Nutzholzgrenze“ gezielt und staatlich koordiniert voranzutreiben und nicht mehr nur statistisch und kartographisch zu beobachten. Und schließlich hätten viele Länder Europas administrative Maßnahmen in die Wege geleitet, die Aufforstungen begünstigten, Holznutzung rationalisierten und den Schutz der jeweils eigenen Wälder und Forstbetriebe sicherstellen sollten. Auf diese Weise sei versucht worden, Nachhaltigkeit zu „re-territorialisieren“ und damit „neu zu skalieren“.

Lotz‘ Studie verdeutlicht, dass zukünftige Arbeiten zur Geschichte forstwirtschaftlicher Praxis und Theorie im 19. und 20. Jahrhundert grenzüberschreitende Abhängigkeiten und Wechselverhältnisse viel stärker als bisher beachten müssen. Sie zeigt zudem, dass sich die Entstehung und Entwicklung eines europäischen Holzmarkts im 19. und 20. Jahrhundert bestens dafür eignet, die problembehaftete Beziehungsgeschichte von Ökologie und Ökonomie im Industriezeitalter beispielhaft zu untersuchen. Und schließlich regt sie dazu an, eingehender darüber nachzudenken, wie ein so schillerndes Konzept wie ‚Nachhaltigkeit‘ sprachlich zu fassen ist, um seine Entwicklung auf eine Art und Weise darstellen zu können, die über eine Begriffsgeschichte hinausgeht. Denn weil Lotz explizit darauf verzichtet, sprachlich zwischen dem Quellenbegriff ‚Nachhaltigkeit‘ und einem gleichlautenden analytischen Begriff zu unterscheiden (seiner entspricht jenem des Brundtland-Berichts von 1987, S. 12f.), können seine diesbezüglichen Aussagen nur bedingt überzeugen.

Mehrfach betont Lotz, seine Protagonisten hätten in ihren Debatten den Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ wenig verwendet, sondern ihn oft nur „mit Blick auf die Wirtschaftsplanung im […] klar abgegrenzten Forstbetrieb“ genutzt (S. 297). Das verwundert weniger als Lotz nahelegt. Die Diskussionen, die er analysiert, sind keine über ‚forstliche Nachhaltigkeit‘ im eingangs skizzierten Sinne. Es ging den Beteiligten nicht um Planungen, wie sie Forstbetriebe auf ihren eigenen, konkret zu bemessenden Flächen vornehmen und bei denen sie einen ‚nachhaltigen Ertrag‘ anstreben können. Stattdessen befassten sich Lotz‘ Protagonisten mit vergleichsweise abstrakten Problemen zukünftiger Rohstoffversorgung industrialisierter Staaten. Diese konnten sich zwar auf Inhalte und Relevanz ‚forstlicher Nachhaltigkeit‘ in einzelnen Forstbetrieben auswirken. Doch untersucht Lotz dies gerade nicht. Seine Verwunderung darüber, dass die internationale Standardisierung forstlicher Statistiken zwar immer wieder gefordert worden, über den Resolutionsstatus aber nie hinausgekommen sei, ist daher leicht erklärlich: Es gab keine Akteure, die an einer grenzüberschreitenden forstlichen Planung, für die international einheitliche Statistiken die Basis hätten sein können, Interesse gehabt oder gar die Mittel besessen hätten, eine solche umzusetzen. Lotz‘ kenntnisreiche Erläuterungen zur Entstehung einer „eisenbahnvernetzte[n] Forstwirtschaft“ (S. 123) beziehen sich weitgehend auf akademische Debatten von Forstwissenschaftlern, kaum aber auf die Handlungen von Forstwirten, Waldbesitzern, Sägewerksinhabern und Holzhändlern. Eine Unterscheidung zwischen diesen Akteursgruppen ist aber notwendig, um tatsächlich etwas zum Bedeutungswandel der immer auf konkrete Forstbetriebe bezogenen ‚forstlichen Nachhaltigkeit‘ sagen zu können. Schließlich besaßen diese Akteursgruppen verschiedene Handlungslogiken und verfolgten unterschiedliche Interessen, die sich zum Teil sogar konträr gegenüberstanden.

Anmerkungen:
1 In der deutschsprachigen Forst- und Holzwirtschaft bezeichnet „Nutzholzgrenze“ auch jene Schwelle, die die technisch mögliche und wirtschaftlich profitable Verwendung von Holz als Nutzholz von anderen Verwendungsmöglichkeiten trennt. Mit der Verbesserung von Transport- und Sägetechnologien sowie der Ausweitung mechanischer und chemischer Holzverwertungsmöglichkeiten wurde es im Laufe des ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert möglich, Holz von geringerem Durchmesser als Nutzholz zu verwenden. Auch die so verstandene „Nutzholzgrenze“ verschob sich in Lotz‘ Untersuchungszeitraum deutlich. Vgl. etwa Gerhard Speidel, Die Produktivitätsmessung in der Forstwirtschaft, in: Forstarchiv 34 (1961), S. 78–83, hier S. 82.
2 Vgl. Jawad Daheur, La Galicie autrichienne. „Colonie du bois“ de l’Empire allemand? (1890-1914), in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 48 (2016), S. 25–41; ders., Exporting Environmental Burdens into the Central-European Periphery. Christmas Tree Trade and Unequal Ecological Exchange Between Germany and Habsburg Galicia around 1900, in: Historyka. Studia Metodologiczne 46 (2016), S. 147–167.