K. Trittel: Hermann Rein und die Flugmedizin

Titel
Hermann Rein und die Flugmedizin. Erkenntnisstreben und Entgrenzung


Autor(en)
Trittel, Katharina
Erschienen
Paderborn 2018: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
587 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Esther Abel, Gedenkstätte Hadamar

Die Frage, ob Biographien zur Erläuterung historischer Komplexe zielführend sind, kann und wird immer wieder neu diskutiert, wodurch die Biographieforschung produktiv vorangetrieben wird.1 Handelt es sich um Biographien über NS-belastete Personen, sind biographisch arbeitende Autor/innen bisweilen einem größeren Erwartungsdruck ausgesetzt, kein wertendes Fazit vorwegzunehmen. Auch bei der jüngst erschienenen Biographie über den Flugmediziner und Physiologen Hermann Rein wird gleich zu Beginn deutlich, dass es sich von Kategorisierungen zu verabschieden gilt. Die Autorin Katharina Trittel, die ihre an der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen eingereichte Dissertation mit leicht verändertem Titel nun bei Schönigh veröffentlicht hat, vertritt die These, dass "Schuld" und NS-Idologiefixierung nicht zwangsläufig zusammengehören. Überhaupt wird im gesamten Werk deutlich, wie fruchtbar es ist, sich frühzeitig von Schubladen-Denken zu verabschieden. Wenn auch die Beantwortung der zu Anfang gestellten Frage "wer also ist Hermann Rein" als zumindest ambitioniert bezeichnet werden muss, so wählt Trittel einen klugen Ansatz: Sie definiert das Genre der Biographie zunächst als "Konstruktionen, die eine bestimmte Lesart [...] eines Lebensweges vorschlagen" (S. 19). Um dieser ehrlichen Definition eine breitestmögliche Lesart zu unterbreiten, schlägt Trittel lineare Erzählung und stringente Chronologie aus, zugunsten strukturierter thematischer Aspekte. Nun liegt die Verantwortung bei der Autorin, aufgrund der quellengestützten Faktensuche die Interpretationen zu minimieren, was ihr vorbildlich gelingt. Sie definiert soziologische Biographieforschung als eine Forschung für Lebensgeschichten, die als repräsentativ für bestimmt Gruppen oder Generationen gelten können. Allerdings tut sie der geistes- und kulturwissenschaftlichen Biographik unrecht, wenn sie unterstellt, diese widmeten ihre Biographien Personen, deren Handeln als „wirkungsmächtig“ gesehen werden kann (S. 19).

Die Autorin will Reins Lebensweg durch kollektivbiographische Erzählungen jener Gruppen ergänzen, in denen Rein sich bewegte, also vorwiegend Flieger, Ärzteschaft, Hochschullehrer, aber auch SS und Wehrmacht. Das birgt den Vorteil, die Wurzeln des Denken und Handelns des Protagonisten durch die Verbindungslinien unterschiedlicher Gruppen gut nachvollziehen zu können. Gleichzeitig soll ein "Changieren zwischen Individualität und Typischem" die "Gefahr politikwissenschaftlicher Typenbildung" vermeiden (S. 20). Dem kollektivbiographischen Ansatz entspricht auch das umfangreiche und präzise gestaltete Inhaltsverzeichnis. Das Buch ist zwar insgesamt chronologisch gegliedert, doch beschäftigen sich die einzelnen der sechs Kapitel, jeweils in nachvollziehbare Unterkapitel gegliedert, thematisch mit den biographischen und gesellschaftlichen Umständen, die Reins jeweilige Lebensstationen betrafen. Sie sind somit nicht linear angeordnet, sondern stehen nebeneinander. Mentalitäts- und Wissenschaftsgeschichte spielen hier eine große Rolle, aber auch die Frage von Elitekontinuitäten.

Die Bedeutsamkeit Reins macht Trittel zum einen an seiner Rolle innerhalb der Wissenschaftslandschaft, besonders der Physiologie, und andererseits an seinem konkreten Bezug zum Nationalsozialismus fest. Der besteht einmal in „kriegswichtigen Forschungen“, die Reins Wirkungsstätte, das Physiologische Institut in Göttingen, im Auftrag der Wehrmacht durchführte, aber auch in seiner prominenten Rolle im Zuge des Nürnberger Ärzteprozesses. Im Fokus von Trittels Vorhaben stehen Netzwerke und Handlungsstrategien bzw. -optionen Einzelner, aber auch die Frage nach Reins wissenschaftlichem Selbstverständnis. Trittel möchte seine Karriere ergründen, "jenseits von Polarisierung und Polemik" (S. 18).

Hermann Rein (1898–1953) war Flieger, Flugmediziner, Hochschullehrer für Physiologie in Göttingen und Gründungsmitglied der Max-Planck-Gesellschaft. Er war beratender Arzt der Wehrmacht und arbeitete dem Reichsluftfahrtsministerium zu. Die Studie beleuchtet jede seiner Karrierestationen und die jeweiligen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und ideologischen Umstände. So legt Trittel den Beginn der zu beleuchtenden Perioden auf den Vorabend des Ersten Weltkriegs, während dem sich Rein 1916 als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, und geht auf den Heldenkult bei den Fliegern ein sowie auf die Technikbegeisterung und unbedingte Teilung Reins eben jener Euphorie über Leistungssteigerung und Erkenntnisgewinn. 1919 schloss sich Rein dem Freikorps „Eiserne Schar“ an. In dieser Entscheidung vermutet Trittel den Wunsch Reins, sich aktiv einzubringen. Sie stellt die Korps in einen Zusammenhang mit der Fliegerverehrung, da „mythisch konnotierte Kräfte wie Fliegerkult, Volksgemeinschaft oder der ‚Geist von 1914‘ nicht nur politische, sondern auch eine individuelle und generationelle Wirkung entfalteten“ (S. 79).

Nachdem Rein sich 1926 in Freiburg habilitiert hatte, nahm er dort eine Professur für Physiologie wahr, um hernach 1932 als Ordinarius an die Universität Göttingen zu wechseln. Hier stellt sich die Verfasserin dem Problem, dass Rein nicht eindeutig politisch einzuordnen ist. Dass seine Loyalität der Wissenschaft galt, bedeutete nicht, dass er ohne erkennbare Positionierung zum nationalsozialistischen System geblieben wäre, etwa durch die Unterzeichnung des „Bekenntnisses der Professoren an den Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ und als förderndes Mitglied der SS. Trittel interpretiert, dass Rein den vermeintlichen Antagonismus vernunftbasierter Wissenschaft gegen Führerprinzip durch seinen Lebenslauf jedoch auflöse. In der Karriere sowie der Zuarbeit zum Regime berief sich Rein stets auf eine „höhere Sache“ und sagte über sich selbst, er habe durch seine wissenschaftliche Arbeit „politisch“ für Deutschland gearbeitet. Konkrete politische Unternehmungen wie seine Meldung im Ersten Weltkrieg oder seine Freikorpszeit stellte er stets in größere Zusammenhänge. (S. 131) Auch sein Dasein als Leiter des Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstituts ab 1937, das dem Reichsluftfahrtministerium unterstand, ist im Zuge der Selbstverortung in diesen Dimensionen zu sehen.

Im Portraitieren der Professorenschaft verfolgt Trittel konsequent den kollektivbiographischen Ansatz, wenn die Beschreibungen der Weggefährten Reins auch bisweilen etwas sperrig ausfallen. Überzeugend stellt sie dar, dass in Reins Leben die Forschung und die Luftfahrt eine ebenbürtige Rolle einnahmen. Rein wurde beratender Arzt für die Wehrmacht, namentlich für den Sanitätsinspekteur der Luftwaffe, Erich Hippke. In dieser Funktion wurde er 1941 Oberkriegsarzt und 1943 Oberfeldarzt. In dem entsprechenden Kapitel geht Trittel auf die „Opfer“ ein, die nach dem Selbstverständnis der Wehrphysiologen gebracht werden müssten, was auch Rein selbst in seinem Werk „Physiologische Forschungen“ betonte, wenn er bereits 1938 von „wertvollsten Opfern aus dem Reihen der Vorkämpfer der Luftfahrt“ und „persönlicher Einsatzbereitschaft“ schrieb.2 Fortschritt im Dienst der Wehrfähigkeit war gefragt, und so verfolgt Trittel auch hier die Methode, Karrieren und Mentalitäten der Protagonisten nebeneinander zu stellen. Hier zahlt sich der kollektivbiographische Ansatz dahingehend aus, dass er ermöglicht, auf die Höhenversuche von Insassen des KZ Dachau einzugehen, die innerhalb der Forschung über Flugmedizin im Nationalsozialismus eine große Bedeutung haben, Rein jedoch nur Kenntnis und keine Beteiligung nachgewiesen werden kann.

Ebenso sorgfältig geht Trittel mit dem Thema Entnazifizierung um, wobei sie kritisch die Entnazifizierungsakte Reins in den Blick nimmt und die beliebigen (und bei weitem nicht auf Rein begrenzten) Entschuldungsstrategien aufdeckt. Im Zuge des Nürnberger Ärzteprozesses wurde Rein im sogenannten Dokumentenstreit zum Antipoden von Alexander Mitscherlich. Gegenstand war der Umgang mit von Mitscherlich veröffentlichten Dokumenten des Prozesses. Die Behauptung, die Urteile gegen 23 Ärzte sei Ergebnis einer Kollektivschuldverhandlung, führte zu einer prominenten Kontroverse, die in der Göttinger Universitätszeitung ausgetragen wurde und bei der Rein, damals bereits Rektor der Universität, Wortführer der Gegner Mitscherlichs war.

Trittel arbeitet präzise das konträre Wissenschaftsverständnis von Rein und von Mitscherlich heraus. Mitscherlich interessierte sich besonders für die inneren Beweggründe der Akteure im Nationalsozialismus und wollte die Ärzteschaft durch die Konfrontation mit diesen Taten zu einer Auseinandersetzung mit den ethischen Voraussetzungen des Ärzteberufs drängen. Die Zunft, der Reins Position entsprach, war der Ansicht, dass nicht über Verbrechen durch Ärzte, sondern deren Ehrenhaftigkeit an sich verhandelt würde.

In engem Zusammenhang mit dem Thema Elitekontinuität steht zudem die Gründung der Max-Planck-Gesellschaft 1948, der Rein als Gründungsmitglied beiwohnte. Sein 1946 angetretenes Rektorat der Göttinger Universität verließ er 1949 zugunsten der reinen Wissenschaft und wurde 1952 Direktor des Max-Planck-Instituts für Medizinische Forschung und Physiologie in Heidelberg, starb allerdings wenig später.

Das Buch ist gerade wegen der ausbleibenden Fokussierung auf den Nationalsozialismus zugunsten entsprechender Querschnittsansichten für einen größeren Kreis als NS-Forscher/innen und Medizinhistoriker/innen lesenswert. Besonders besticht Trittel durch gründlichstes Quellenstudium und die Dichte der Belege. Gleichzeitig ist die Sorgfalt hervorzuheben, mit der die Autorin sich jedes moralische Urteil verbietet und somit ganz ihrem Anspruch gerecht wird, keine Verurteilung vorweg zu nehmen. Im Gegenteil: Sie lässt den Lesenden gut nachvollziehen, wie Rein in unterschiedlichen politischen Regimen äußerst erfolgreich sein konnte und seine Netzwerke sowie seine Umgebung strategisch zu nutzen verstand. Der hier gewählte kollektivbiographische Ansatz hat zu einem sehr guten Ergebnis geführt, da ein peripherer Blick durchaus aufklärerischer sein kann als eine Fokussierung. Die Vielfalt seiner beruflichen und wissenschaftlichen Umgebung macht schließlich nicht aus Unterhaltungsgründen einen Großteil des Buches aus, sondern spiegelt die tatsächlichen Begebenheiten in der Biographie Reins wider.

Das Buch wirkt stellenweise etwas sperrig, besonders die teilweise lyrischen Zitate am Beginn etlicher Unterkapitel könnten eingefleischte Kulturwissenschaftler/innen befremden. Ein letzter Punkt, der selbstverständlich auch Geschmackssache ist: Die Lesefreudigkeit wird erschwerend eingeschränkt durch das Verfahren, die Anmerkungen am Ende des Textes zu sammeln, nach Seiten aufgeschlüsselt. Fazit: Das Werk ist innovativ, so unaufgeregt wie nüchtern und kommt zum richtigen Zeitpunkt.

Anmerkungen:
1 Wie etwa in Volker Depkat, The Challenges of Biography. European-American Reflections, in: Bulletin of the German Historical Institute 55 (2014), S. 39–48.
2 Hermann Rein, „Die physiologische Forschung im Dienste neuzeitlicher militärärztlicher Aufgaben, insbesondere bei der Luftwaffe“, in: Der deutsche Militärarzt. Zeitschrift für die gesamte Wehrmedizin 3 (1938), S. 124–129.

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