C. Aydin: The Idea of the Muslim World

Cover
Titel
The Idea of the Muslim World. A Global Intellectual History


Autor(en)
Aydin, Cemil
Erschienen
Cambridge, MA 2017: Harvard University Press
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
€ 22,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Mangold-Will, Universität zu Köln

Cemil Aydins Buch „The Idea of the Muslim World“ gehört auf den Schreibtisch all jener, die immer noch glauben, es gäbe so etwas wie eine einheitliche „Islamische Welt“. Es gehört aber auch auf die Leseliste derjenigen, die verstehen wollen, warum die Vorstellung von der Existenz der „Islamischen Welt“ im politischen Gebrauch sowohl muslimischer wie nicht-muslimischer Akteure weltweit reüssiert. Denn Aydins Hoffnung auf eine „gerechte Weltordnung“ (S. 237), die auch das Denken in essenzialistischen Großkategorien obsolet machen würde, scheint gerade wieder utopischer denn je. Idee und Begriff einer „Islamischen Welt“, so bringt es Aydin in seiner als politisches Bekenntnis1 geschriebenen Zusammenfassung auf den Punkt, waren (und sind) „a strategic tool of foreign policy“ (S. 235). Sie wurden und werden im Kampf um regionale und globale (Vor-)Machtstellungen unterschiedlichster muslimischer als auch nicht-muslimischer Staaten und politischer Bewegungen eingesetzt. Als solches ist die Vorstellung einer „Islamischen Welt“ indes eine Erfindung der Moderne, genauer gesagt der globalisierten Imperien des 19. Jahrhunderts. Charakteristisch für diese und in Abgrenzung zu vormodernen Vorstellungen sei deren rassistische Aufladung. In Aydins Worten: „The Muslim World arrived with imperial globalization and its concomitant ordering of humanity by race“ (S. 3).

Neu ist diese Erkenntnis von der politischen Funktionalität der Idee einer „Islamischen Welt“ zunächst keineswegs; spätestens seit Edward Saids Analyse des „Orientalismus“ liegt der Zusammenhang zwischen westlichem Imperialismus und der Konstruktion eines „Wesens des Islam“ offen. So muss man genauer lesen, um Aydins feine Abweichungen und Differenzierungen zu erfassen. Unausgesprochen einem transnationalen und transkulturellen Zugang verpflichtet, greift Aydin Dietrich Jungs bereits 2011 ausgearbeitete These auf. Demnach seien die im Westen entworfenen Konstruktionen des Islams und der Islamischen Welt in der globalisierten Öffentlichkeit des Zeitalters der Imperien in Kreisen des Politischen Islams unmittelbar aufgegriffen worden.2 Während Jung indes akribisch den Transfer zwischen westlichen Islamwissenschaftlern und islamistischen Intellektuellen nachzuweisen suchte, geht Aydin pauschal davon aus, dass die im Westen geborene Idee der Islamischen Welt gleichermaßen von islamistischen Denkern und Bewegungen wie von panislamisch agierenden Staaten adaptiert, dann allerdings im eigenen Machtinteresse während des 20. Jahrhunderts durchaus neuartig (sowohl gegen den Westen wie innerislamisch) eingesetzt wurde.

Nun besitzen solche Pauschalisierungen, die nicht am Nachweis wirklicher Transferleistungen interessiert sind, sondern diese einfach annehmen, und die zudem intellektuelle Entwürfe und staatliche Akteure zusammen betrachten, ihre Berechtigung. Denn sie machen auf die globalisierten Wissensbestände, auf die enge Verflochtenheit zwischen „Islam“ und „Westen“ sowie auf die Wirkkraft von Ideen in staatlichem Handeln aufmerksam. Dennoch haftet ihnen manches Problem an: Aydins Studie ist über weite Strecken, anders als der Untertitel von der „Intellectual History“ nahe legt, eben keine Geschichte einer Idee, sondern die Geschichte von Staaten, die das Konstrukt der „Islamischen Welt“ zur Behauptung oder Erweiterung ihrer internationalen Machtstellung wie zur Aushandlung der inneren gesellschaftlichen Ordnung nutz(t)en. Im Mittelpunkt der sechs Kapitel, die chronologisch von 1814 bis 1988 reichen, stehen daher das Britische Empire und das Osmanische Reich sowie Deutschland, Indien, Pakistan, Saudi-Arabien und der Iran – also Staaten, die zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Umständen mit dem Topos von der „muslimischen Solidarität“ politisch operierten. Hinzu kommen Bewegungen und Parteien wie die Muslimbrüder und die (indische) Kalifatsbewegung, orientalistische und islamistische Intellektuelle sowie Figuren wie der (osmanische) Sultan-Kalif und der (arabische) Sherif von Mekka als „personae“ wie als politische Realitäten.

Mit Blick auf die Entwürfe einer „Islamischen Welt“ all dieser Akteure behauptet Aydin nun die Dominanz eines rassistischen Denkens, also die Konstruktion der Muslime als Rasse. Doch bleibt er genau in diesem Punkt dem Leser die Belege zumeist schuldig. Für Aydin geht die Essantialisierung des Islam und der Islamischen Welt automatisch mit der „Rassifizierung“ der Muslime einher. Offenbar ist er in dieser Pauschalisierung vor allem von seiner Renan-Lektüre beeinflusst. Doch auch Renan war nur ein Autor unter vielen, dessen Einfluss auf orientalistische und islamistische Denker des späten 19. Jahrhunderts unbestritten groß war. Dennoch hält es der Historiker in mir für nötig, daran zu erinnern, dass Renan eben für jenen Ausschnitt der Geschichte steht, in dem rassische Theorien innerhalb der Philologie florierten und dennoch nie unbestritten blieben.

Im Detail verwischt und vermischt dieses Buch also doch vieles und vor allem dort, wo Differenzierung angebracht wäre, um seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden: nämlich das Konstruierte und Vielfältige der Vorstellung von der Islamischen Welt offenzulegen.

Diesen Einwand möchte ich an einem Beispiel konkretisieren: Wie erwähnt, stehen bei Aydin weniger die Ideen der Islamischen Welt als vielmehr die politischen Akteure des Panislamismus im Mittelpunkt. So überrascht es nicht, dass das Osmanische Reich breiten Raum einnimmt. Ausgehend von der Hauptthese einer imperialen politischen Funktionalisierung des Islam nach innen und außen wird dessen Protagonisten von Sultan Abdulhamid II. bis Mustafa Kemal unterstellt, sie hätten die gleiche rassistische Idee von der „Islamischen Welt“ besessen wie die Akteure des britischen Imperiums. Dieser Gedanke ist gewagt, aber auch in hohem Maße anregend; er mag vielleicht sogar zutreffen. Aber wenn dem so sein sollte, wie Aydin nahelegt, dann fragt sich der Leser doch, warum ausgerechnet ein Hinweis darauf fehlt, dass ebendieser rassistische muslimische Imperialismus im Osmanischen Reich zu einem Völkermord führte. Die Beschreibung des Osmanischen Reiches bei Aydin wirft weitere Fragen auf: Warum fehlt in seinem Werk, das sich mit der Konstruktion einer Islamischen Welt beschäftigt, jeder noch so kleine Hinweis auf das osmanische millet-System, das längst vor dem 19. Jahrhundert Vorstellungen von islamischen und nicht-islamischen Gemeinschaften kennt, die sich im 19. Jahrhundert leicht nationalisieren – oder in Aydins Worten rassifizieren – ließen? Welche Perspektive nimmt Aydin ein, wenn er allen Ernstes vom „failure of Wilsonianism at Sèvres“ (S. 123) spricht, also dem Scheitern einer Politik, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker postulierte? Denn zugleich beklagt er, dass der Vertrag von Sevrès eine armenische und kurdische „Zone“ vorsah und läßt unerwähnt, dass bei allen Souveränitätseinschränkungen des projektierten türkischen Staates gerade nicht bestritten wurde, dass es eine „Muslim-majority sovereign nation in post-Ottoman Turkey on the basis of Wilsonian values“ (S. 123) geben sollte: eben die türkische.

Die Antwort auf solche Fragen führt abschließend zu einem Grundproblem dieses ansonsten gut lesbaren, anregenden und aufklärerischen Buches: Aydin neigt zu einer am Ende hoch problematischen Verklärung der Imperien im Zeitalter der ersten Globalisierung. Und letztlich weicht er damit der Frage nach internationaler Macht und innerstaatlicher Gewalt doch aus, obwohl er immer wieder kritisch auf die „Racialization“ der Muslime in den Imperien hinweist. Bedenkenswert ist dabei sein Argument, dass die Idee einer „Islamischen Welt“ im Britischen Empire nicht nur zur Unterdrückung, sondern auch zur strategischen Anerkennung der britischen Muslime als loyale Staatsbürger beigetragen habe. Doch er braucht dieses positive Beispiel letztlich nur, um an seinem Konstrukt idealisierter Imperien festhalten zu können: Wider seiner eigenen Beschreibung von der „Rassifizierung“ und „Selbstrassifizierung“ der Muslime in der Welt, resümiert er im Hinblick auf die Erfindung der Idee einer „Islamischen Welt“: „The political context was empire: the desire to preserve imperial borders, maintain strategic alliances, and achieve the cosmopolitan ideal of equal rights and dignity within and across empires“ (S. 231). Doch Imperien waren keine Paradiese, nie, weder das britische für Muslime, noch das osmanische für Christen.

So bleibt unterm Strich ein ambivalentes Resümee: Cemil Aydin hat ein wichtiges, ein kritisch-aufklärerisches Buch zur Konstruktion des Islam als Einheit und vor allem zur historischen Bedingtheit der politischen Funktionalisierung dieses Konstrukts im Kampf um internationale Macht und Herrschaft geschrieben. Seine unhistorische Idealisierung einer Welt der Imperien verweist indes auf eigenartige Weise darauf, dass auch das Sprechen von einer gerechteren Weltordnung nicht frei ist von der Vorstellung, dass die „benachteiligte Islamische Welt“ noch immer „dem rassistischen Westen“ gegenüberstehe.

Anmerkungen:
1 Explizit formuliert Aydin in der Überschrift seiner Zusammenfassung sein Selbstverständnis als Historiker: „Recovering History and Revitalizing the Pursuit of Justice“.
2 Vgl. Dietrich Jung, Orientalists, Islamists and the Global Public Sphere. A Genealogy of the Modern Essentialist Image of Islam, Sheffield 2011.