D. Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer

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Titel
Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne


Autor(en)
Langewiesche, Dieter
Erschienen
München 2019: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Institut, Universität zu Köln

Der „gewaltsame Lehrer“ – das ist ein Zitat von Thukydides zum Thema Krieg und damit zugleich programmatisch ein Bekenntnis dazu, dass Kriege etwas „lehren“ können; doch was kann das sein? Dieter Langewiesche, hervorragender Kenner und lebenslanger Forscher etwa zu solchen Großthemen wie Liberalismus und Nationalismus hat in Tübingen zehn Jahre lang maßgeblich an einem Sonderforschungsbereich Kriegserfahrungen mitgewirkt. Wiederum zehn Jahre danach zieht er in diesem Band die Summe seiner Erkenntnisse auf diesem Gebiet zusammen. Dies tut er – darauf wird zurückzukommen sein – in einer Art und Weise, die der Charakterisierung des Krieges als „Vater aller Dinge“ (Heraklit zugeschrieben) nahekommen könnte.

Zunächst aber ist und bleibt Langewiesche der scharfsinnige, neutrale und nüchterne Beobachter, der kenntnisreich auf der Basis internationaler, vor allem englischsprachiger, hierzulande kaum wahrgenommener Forschung ein historisches Thema ausbreitet. Er fragt, „warum sie [die Altvorderen] meinten Krieg führen zu müssen und welche Art von Krieg. Hat er ihre Einstellungen, ihr Handeln, ihren Weg in die Zukunft verändert?“ (S. 12) Es ist also ein Buch über etwas, das prägend war. Es geht nicht um Leiden, Not und Tod, um die Überwindung dieses Zustandes zum Frieden. Das wird nüchtern jeweils als Folie konstatiert und historistisch rekonstruiert. Es bestimmt aber nicht den Duktus der Arbeit.

Langewiesche durchschreitet in vier großen, sich überlappenden Durchgängen die Geschichte von Krieg. Ein Kapitel behandelt die großen Kriege seit dem 18. Jahrhundert, gleichsam ein sektoraler weltgeschichtlicher Überblick. Es folgt eine Erörterung über den Zusammenhang von Krieg und Revolution, sodann von Krieg und Nation beziehungsweise Nationalstaat und schließlich von Krieg und Kolonialreichen. Die Zeit seit den 1920er-Jahren, erst recht die Zeit des „Kalten Krieges“ wird bisweilen nur noch gestreift und punktuell einbezogen. Geglückten Aufwand betreibt der Verfasser damit, die späteren historischen Konstruktionen und Sinngebungen zu dekonstruieren, indem er auf die unmittelbaren Zeitgenossen zurückgreift, auf deren Bewusstsein und Erklärungen, was geschah. Das sind oft die großen Denker und Publizisten von Kant über Rottecks liberales Staats-Lexikon, von Otto Hintze bis Ernst Troeltsch und hin zu Charles Edward Cornwell (einem zeitgenössischen Theoretiker der Kolonialkriege). Aber auch spätere Autoren wie Hannah Arendt bilden die Grundlage des Urteils ebenso wie viele heutige Historiker, auf die sich Langewiesche verlässt und das auch sagt: Kein Mensch kann gerade bei einem solchen Thema alles wissen oder erforscht haben.

Durchweg betont Langewiesche den spezifischen Charakter von Imperien und von deren Imperialkriegen im Vergleich mit den üblichen europäischen Kriegen. Seine Anteilnahme gilt dem innereuropäischen 19. Jahrhundert. Denn zwischen dem Wiener Kongress und dem Ersten Weltkrieg gelang für ihn nur in Europa die Annäherung an das Ziel einer „Verstaatlichung des Krieges“. Das war besonders bemerkenswert, weil sich in dieser Zeit das Modell des Volks- oder Nationalkrieges ausbildete, und dennoch wurden in dieser Zeit „gehegte Kriege“ geführt. Diese „Hegung des Krieges, in dem er zwischen staatlichen Armeen duellartig geführt wird – diese Form des Krieges als Leitbild durchgesetzt zu haben, obwohl der Krieg als Volks- oder Nationalkrieg auf die Mobilisierung aller gesellschaftlichen Ressourcen zielte, gehört zu den großen Leistungen des 19. Jahrhunderts“ (S. 117f.). Weder vorher noch nachher im 20. Jahrhundert, noch in den Kriegen außerhalb Europas sei dies der Fall gewesen.

Wenn man neben diesem europäischen Jahrhundert noch einen engeren Höhepunkt dieser Studie hinzufügen kann, dann ist das die vergleichende Schilderung der italienischen und deutschen Nationalstaatsbildung. Hier brennt Langewiesche ein Feuerwerk an begrifflichen und sachlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden ab, immer dicht an einem souveränen Überblick über die Ereignisgeschichte: „Als in Italien und Deutschland in mehreren Kriegsschritten bis 1870 Nationalstaaten erzwungen wurden, gelang es, was 1848/49 misslungen war. In den Revolutionen scheiterten die Staatsgründer, weil sie Kriege verloren – Italien – oder sie nicht zu führen wagten“ (S. 295). Oder an anderer Stelle verallgemeinernd: „Ein neues demokratisches Europa, erschaffen durch eine europäische Revolution, war auf den großen Krieg angewiesen“ (S. 208), der bekanntlich Ende der 1840er-Jahre nicht stattfand. Krieg als Notwendigkeit?

Wie im Titel umrissen, beansprucht Langewiesche über Europa zu handeln, was ihn nicht hindert, immer mal wieder ein Fallbeispiel aus anderen Weltregionen vergleichend oder analog einzubeziehen, etwa die Unabhängigkeitskriege Lateinamerikas. Ganz zu Hause ist er aber in Europa, inklusive dem Osmanischen Reich. All das zeugt von einer stupenden Belesenheit und zumeist behutsamer Führung des Lesers vom Ereignis zum Argument. Das ist immer anregend, oft bestechend und Erkenntnis erweiternd.

Dennoch beschleicht den Leser bisweilen ein Unbehagen. Denn Langewiesche spitzt nicht nur wiederholt und gekonnt zu, sondern er bringt seine Erkenntnisse auch immer wieder auf Kurzformeln, auf Begriffe, die erstaunen. Die meisten Kapitelüberschriften zeugen davon. „Ohne Krieg kein Fortschritt“, „Ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution“, „Ohne Krieg kein Nationalstaat und keine Nation“, „Ohne Krieg kein Kolonialreich und keine Dekolonisation“. Sind das jetzt empirische Beobachtungen für einen bestimmten historischen Zeitraum oder apodiktische historische Gesetze? Gewiss, die Europäische Union als Ende des Europas der Kriege steht – mit einem Fragezeichen versehen – am Schluss des Bandes: „Krieg als Instrument der Politik ist innerhalb dieses europäischen Staatsraums ausgeschlossen“ (S. 418). Auch ohne die Entwicklung der letzten zwei Jahre wäre ich als Historiker da vorsichtiger. Aber was sind dann die anderen Wesensaussagen wert?

Nehmen wir als Beispiel die Nationen und Nationalstaaten, die aus Krieg entstehen. Langewiesche hat schon seit langem auf die Ambivalenz des Nationalismus im 19. Jahrhundert hingewiesen. Das war oft die Aufspaltung bisheriger Staaten oder Imperien, gelegentlich deren Zusammenlegung: zwei von vier Verlaufstypen. Auch Langewiesche kennt hier Ausnahmen und breitet diese für Skandinavien vor dem Ersten Weltkrieg aus: „Glückliches Nordeuropa“ (S. 276), eine Trennung ähnlicher Art, die es erst wieder 1992 durch die Aufspaltung der Tschechoslowakei gegeben habe. Die Schweiz: „Milder Vereinigungskrieg“. Auch für die belgische Sezession in den 1830er-Jahren zeigt er die kriegerischen Handlungen, aber sie kam „mit geringer Gewalt aus“ (S. 286). Wenn dem so ist, dann lässt sich zwar in vielen Fällen der Nationalstaatsbildung sagen „der Krieg entscheidet“ – aber eben nicht immer. Um Gesetze kann es sich also eigentlich nicht handeln. An einer Stelle ist einmal von der „Gestaltungskraft des Krieges“ (S. 340) die Rede; auch hier scheint mir „der Krieg“ als solcher zu sehr zum selbstständigen Akteur erhoben. Zu den Fragen von Nation und Nationalstaat heißt es einführend: „Fortschritt als Kriegsgeschöpf“ – ohne Fragezeichen. Sollte man nicht auch Belege von Fortschritt – wie auch immer dieser definiert werden mag – als Friedensdividende finden können?

Langewiesche verwendet einigen Aufwand, die Kriege selbst in ihrer Verschiedenheit und auch im Wandel zu charakterisieren. Er hat schon länger herausgestellt, dass die neuen (sprich asymmetrischen) Kriege eigentlich schon immer typisch waren; aber der grundlegende Gestaltwandel durch Technisierung, Industrialisierung und Nuklearisierung kommt doch zu kurz. Gewiss, im Schluss fragt Langewiesche, ob der Krieg gegen den Terror eine neue Form von Globalisierung von Krieg darstelle, erörtert künftige Informationskriege, stellt anheim, ob jüngste humanitäre Interventionen nicht eine neue Legitimation von Kriegen ergäben. Ein weiterer Einwand kommt hinzu. Clausewitz, der als Militärtheoretiker seiner Zeit eine ganz unbefangene Personalisierung von Krieg vornahm, argumentierte, dieser sei ein „Chamäleon“. Damit meinte er, dass sich die Ziele, Erwartungen an, Realitäten und die Vernichtungskraft von Kriegen in deren Verlauf wiederholt veränderten. All das ist auch Langewiesche natürlich nicht fremd, aber unter seinem Adlerblick verschwindet doch vieles von diesem Wandel.

Langewiesche eröffnet eine Perspektive auf die letzten zwei-, dreihundert Jahre. Sein opus magnum informiert den Leser nuancenreich und vorzüglich über die Rolle von Gewalt in Krieg und Revolution. Deren Charakter als Zerstörer von etablierten Ordnungen etc. ist seit langem bekannt; über die Notwendigkeit, Unerlässlichkeit oder Möglichkeiten zur Überwindung ist auch früher immer wieder gestritten worden. Dass Krieg und Gewalt durch Zerstörungen von Altem die Chance zu Neuem gaben, sei unbestritten. Dass es für sie keine Alternativen gab, die jeweils so und nicht anderes ergriffen wurden, wäre ein anderer, gewiss nicht abseitiger „Sehepunkt“. Krieg als Unumgänglichkeit, ja historische Notwendigkeit, der Gestus: „ohne Krieg ging das nicht“, überrascht dann doch.