AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hrsg.): History is unwritten

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Titel
History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch


Herausgeber
AutorInnenkollektiv Loukanikos
Erschienen
Münster 2015: Edition Assemblage
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lucas Federer, Historisches Seminar, Universität Zürich

Eine sich als dezidiert links verortende, aktivistische Geschichtswissenschaft hat heutzutage an deutschen Universitäten eine marginale Stellung. Das „AutorInnenkollektiv Loukanikos“ (AK Loukanikos), dessen Name sich auf einen Straßenhund in Griechenland bezieht, der sich auf linken Demonstrationen immer wieder an Auseinandersetzungen mit der Polizei beteiligte, rückt mit dem vorliegenden Sammelband jedoch gerade die Geschichtsschreibung ins Zentrum, die sich zwischen Wissenschaft und Politik bewegt. Der Band „History is unwritten“ dokumentiert den Versuch, „die weit verbreitete Arbeitsteilung zwischen Akademie und Aktivismus zu verlassen oder zumindest Auswege aus ihr zu diskutieren.“ (S. 9) Es gehe darum, so das Kollektiv, zu fragen, wie „linke Geschichtspolitik“ und ein „emanzipatorischer Umgang mit Geschichte“ aussehen und gestaltet werden können (S. 8f.). Das Ziel sei, die Rolle der Geschichte als Teil linker politischer Interventionen und der Geschichtswissenschaft als Instrument und Grundlage der Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu reflektieren.

Der Band ist das Resultat und gleichzeitig die inhaltliche Fortsetzung der gleichnamigen Tagung, die im Dezember 2013 in Berlin stattfand. Der Sammelband gibt die verschiedenen Debatten wieder, ordnet sie aber auch teilweise neu. Die Tagung richtete sich nicht an ein rein akademisches Publikum, sondern brachte Personen aus der Wissenschaft und politische Aktivist/innen zusammen, um über Bedeutung und Zustand linker Geschichtspolitik in der Gegenwart zu debattieren.

Der Titel, wonach Geschichte nicht geschrieben sei, wird vom AK Loukanikos bereits in der Vorschau auf den Band herausgefordert: Geschichte sei durchaus geschrieben. Die geschriebene, festgehaltene, fixierte Geschichte sei allerdings eine Erzählung frei von Widersprüchen, die zudem den Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Diese geschriebene Geschichte gelte es zu kritisieren, neu und anders zu schreiben und „[...] mit eigenen, widerständigen Erzählungen zu konfrontieren“ (S. 7). Unter dem Begriff „kritische Geschichtswissenschaft“ versteht das AK Loukanikos eine Tendenz innerhalb der historischen Forschung, den Blick auf die „Leerstellen hegemonialer Geschichtsschreibung und die Möglichkeiten emanzipatorischer Bemühungen“ (S. 9) zu richten. Eine „linke Geschichtspolitik“ wiederum sei dazu befähigt, die Resultate und Erkenntnisse dieses kritischen Teils der Geschichtswissenschaft, der ständig gegen das Vergessen ankämpfe, in die Öffentlichkeit zu tragen und damit vorherrschende Narrative und das jeweilig dominante Geschichtsverständnis herauszufordern. Die Begriffe, welche für die theoretische Perspektivierung des vorliegenden Sammelbandes zentral sind – „links“, aber auch „Geschichtsschreibung“ und „Geschichtspolitik“ – werden nicht genauer definiert. Sie seien in dieser Offenheit, so stellt David Mayer in seinem Aufsatz „Gute Gründe und doppelte Böden. Zur Geschichte ‚linker‘ Geschichtsschreibung“ (S. 28–52) treffend fest, ihrem Gegenstand aber durchaus angemessen.

Der Aufsatz von Mayer ist ein sehr gelungener und äußerst erhellender Einstieg in den Sammelband. Er kann als Schablone dafür dienen, das bereits im Vorwort umrissene Unterfangen, sich einer linken Geschichtspolitik und kritischer Wissenschaft zu nähern, zu bewerten. Mayer schreibt, dass vor allem zwei prägende Aspekte linker Geschichtsschreibung hervorträten: Erstens sei linke Geschichte während des gesamten 20. Jahrhunderts weitestgehend deckungsgleich mit einer Geschichte der Arbeiter/innenschaft, der Arbeiter/innenbewegung, sozialer Bewegungen und Parteien gewesen. Zweitens hätte eine marxistisch inspirierte Geschichtswissenschaft, insbesondere in der Nachkriegszeit, einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt und auch innerhalb der Universitäten eine gefestigte Position erlangt. Die marxistische Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit teilte sich dabei in zwei Forschungsachsen auf: Zum einen gab es ein starkes Interesse an den großen sozioökonomischen Strukturen und deren Transformationen, zum anderen entwickelte sich eine Geschichte von unten, die versuchte, „[...] konsequent die Perspektive jener einzunehmen, die bislang unbeachtet geblieben waren“ (S. 41). Spätestens in den 1990er-Jahren sei die marxistisch geprägte Geschichtswissenschaft unter dem Druck poststrukturalistischer Kritik in eine fundamentale Krise gestürzt. Zugleich verschwand die klassische Arbeiter/innenbewegung und damit das historisch zentrale Subjekt linker Geschichtsschreibung weitestgehend aus dem Bewusstsein einer kritischen Geschichtswissenschaft. Auch wenn es in den letzten Jahren zu einer teilweisen Wieder- und Neubelebung klassischer Themen der linken Geschichtsschreibung gekommen sei, präsentiere sich das Feld heute sowohl in Bezug auf Subjekt als auch Methode durchaus heterogen.

„History is unwritten“ spiegelt diesen Status – auch unter der Prämisse einer Suchbewegung über diese Heterogenität hinaus – über weite Strecken wider und die verschiedenen Beiträge präsentieren ganz unterschiedliche Formen dessen, was unter „linker Geschichtswissenschaft“ verstanden werden kann. Der erste Buchteil unter dem Titel „Retrospektiven“ ist der Bestandsaufnahme verpflichtet und soll Perspektiven auf „linke Geschichtspolitik“ und, etwas weiter gefasst, auf „linke Geschichte“ historisieren und kritisch verorten. Neben dem erwähnten Aufsatz von David Mayer finden sich darin unter anderem eine Werkgeschichte zu Henri Lefebvre von Susanne Götze, Wolfgang Uellenberg-van Dallen schreibt, fast schon klassisch die organisierte Arbeiter/innenbewegung ins Zentrum rückend, über das Selbstverständnis und das Geschichtsbild der deutschen Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg, und Ralf Hoffrogge, der am Institut für soziale Bewegungen in Bochum zu gewerkschaftlichen Krisendeutungen in Deutschland und Großbritannien forscht, setzt sich in essayistischer Form mit der Frage auseinander, weshalb große Erzählungen für die Linke wichtig seien. Er argumentiert, dass das kollektive Gedächtnis eine zentrale Ressource im politischen Aktivismus darstelle und eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeiter/innenbewegung unbedingt notwendig sei, auch für eine zukünftige linke Bewegung.

Die anschließenden zwei Teile „Ausgraben und Erinnern“ sowie „Angreifen und Stören“ sollen der „Betrachtung zweier Haupttätigkeiten kritischen Geschichtsbezugs“ (S. 10) dienen. Zum einen ist dies, so der Anspruch des AK Loukanikos, die Dokumentation einer widerständigen und kritischen Geschichtspraxis, die sich gegen das herrschende Geschichtsbewusstsein stellt. Zum anderen sind es die Darstellung von Interventionen in bestehende Repräsentationen von Geschichte und die Herausforderung von hegemonialen Narrativen, die als zentrale Praktiken linker Geschichtspolitik verstanden werden. Die konzeptionelle Abgrenzung der beiden Teile ist dabei nicht vollständig nachvollziehbar und die Zuordnung der jeweiligen Texte erscheint teilweise etwas beliebig. Die zehn Aufsätze zeichnen sich aber alle dadurch aus, dass sie einzelne Beispiele einer widerständigen oder gegen-hegemonialen Geschichtswissenschaft in ihren Eigenheiten, Problemen und Potenzialen vorstellen. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands ist dabei eines der zentralen Motive, daneben finden sich Aufsätze zur Geschichte weiblicher Homosexualität, zu partizipativer Museumsgestaltung oder zur Vermittlung von kritischen Geschichtsbildern in der Bildungsarbeit.

Der letzte Teil, der unter dem Tocotronic-Songtitel „Im Zweifel für den Zweifel“ steht, diesen allerdings als Frage formuliert, versammelt sieben theoretisch-konzeptionelle Texte, die sich der Frage annehmen, was das Potenzial und die Notwendigkeit sowohl linker Geschichtspolitik als auch kritischer Geschichtsschreibung sein könne. Damit werden grundsätzliche Auseinandersetzungen rund um eine linke Geschichtsschreibung angesprochen, die bereits in den vorangehenden Aufsätzen immer wieder aufgetaucht sind. Es geht hierbei um Fragen der Instrumentalisierung der Vergangenheit für die Gegenwart und um den Nutzen, die Gefahren oder gar eine Notwendigkeit der Produktion von linken Mythen für soziale Bewegungen und emanzipatorische Politik. Dabei werden immer auch allgemeine geschichtstheoretische Fragen und Kontroversen angeschnitten.

Der Sammelband endet mit der Konferenzdokumentation. Die in den Beiträgen aufgeworfenen Fragen und Kontroversen werden nicht mehr weiter synthetisiert, Schlüsse oder Überlegungen, in welche Richtung sich die theoretischen Auseinandersetzungen entwickeln könnten, fehlen. Ein Stück weit ist dies sicherlich den Entstehungsbedingungen des Sammelbands geschuldet. Möglicherweise ist eine gewisse Ratlosigkeit nach dem Lesen des Bandes aber auch tiefer in der Materie verwurzelt. Methodisch bleiben die Aufsätze heterogen, bieten aber auch relativ wenig Neues. Neuere Ansätze wie die Alltagsgeschichte und deren Positionierung im Feld der linken Geschichtswissenschaft werden nicht debattiert.

Das für den Band zentrale Schlagwort der „linken Geschichtspolitik“ meint keine gemeinsame Positionierung, etwa im Sinne einer marxistisch inspirierten Geschichtswissenschaft, sondern geht vermutlich eher auf eine politische Selbstverortung der beteiligten Personen zurück. In thematischer Hinsicht hat man das Gefühl, dass sich die linke Diskussion über „kritische Wissenschaft“ in ähnlichen Bahnen bewegt wie die Geschichtswissenschaft allgemein. So scheint etwa die im Band sehr präsente Diskussion über Narrative und Mythen kein genuines Problem linker Geschichtswissenschaften zu sein.

Es ist nachvollziehbar, ein politisches Anliegen in ein wissenschaftliches Projekt übersetzen zu wollen. Ob das im Rahmen dieses Sammelbandes gelungen ist, scheint eher fraglich. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Arbeitsbedingungen an Universitäten, aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft, eine kollektiv betriebene und reflektierte Geschichtsschreibung erschweren und auch die politische Linke nicht aus einem Zustand der institutionellen Stärke heraus und auf Basis einer lebendigen theoretischen Auseinandersetzung agieren kann. Beides wäre entscheidend, um neue methodische und theoretische Ansätze einer linken Geschichtspolitik und gesellschaftskritischen Wissenschaft entwickeln zu können.