H. Wolfram: Das Römerreich und seine Germanen

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Titel
Das Römerreich und seine Germanen. Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft


Autor(en)
Wolfram, Herwig
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
474 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alheydis Plassmann, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Mit Sicherheit kann Herwig Wolfram als einer der besten Kenner des Themas gelten, dem der vorliegende Band gewidmet ist. Schon 1990 hat er den entsprechenden Band für die Reihe „Siedler Geschichte Deutschlands“ geschrieben.1 Die Ironie, die darin liegt, eine Geschichte Deutschlands mit den Germanen zu beginnen, ist natürlich schon damals thematisiert worden. Warum auch mehr als 25 Jahre später das Thema Deutschland, Deutsch und die Germanen immer noch nicht erledigt ist, legt Wolfram in dem wohl besten Unterkapitel des Buches dar (Wie schreibt man heute ein Germanenbuch, S. 15–31).2 Man könnte sagen, dass es in Zeiten des erschreckenden Unwissens über dieses Thema bei der gleichzeitigen nach wie vor vorhandenen Vereinnahmung durch ultrarechte Kreise eher wieder aktueller ist als noch 1990.

Im Gegensatz zu 1990 ist Wolfram bei dieser Neubearbeitung des Buches nicht durch die Vorgabe der Reihe gebunden, bei der damals der Band zu Merowingern und Franken bereits erschienen war, und nutzt die Gelegenheit, Themenbereiche abzudecken, die 1990 zum Teil noch nicht, oder jedenfalls nicht so ausführlich dargelegt worden sind, so dass eine Lücke im Bericht jedenfalls nicht zu entdecken ist.

Dem nicht unbedingt intrinsisch komplexen, aber durch die Rezeptionsgeschichte überaus schwierigen Thema der Germanen gemäß beginnt Wolfram mit der bereits genannten Rechtfertigung eines solchen Bandes und arbeitet sich durch wichtige Begriffe, die sowohl für das übliche Verständnis der Germanen als auch für den Zugriff der Forschung von Bedeutung sind. Der Origo gentis (S. 51–59) oder dem Königtum in seinen verschiedenen Facetten (S. 73–99), wie etwa dem Heerkönigtum, widmet er viele Seiten, so dass die Abarbeitung des Forschungs- und Rezeptionsballastes mit diesen knapp 100 Seiten immerhin fast ein Viertel der 428 Seiten Text umfasst. Eine notwendige Vorarbeit, die man Studierenden – allerdings nur mit zusätzlichen Literaturhinweisen – als ersten Einstieg durchaus empfehlen kann.

Der Vollständigkeit halber handelt Wolfram als Germanen kurz auch Ariovist, Arminius und Marbod ab (S. 99–115), die man aber aufgrund der andersartigen Bedingungen der Begegnung mit Rom in der Hochantike an sich auch nicht vermisst hätte. Ein Kapitel zur Sozialstruktur des spätantiken Imperiums (S. 116–155) bietet nach den begriffsgeschichtlichen Klärungen eine Übersicht über die historischen Gegebenheiten, die galten, als die Geschichte von Germanen und Römern „ernst“ wurde. In diesem Grundlagenkapitel zeigt sich auch eine der grundsätzlichen Schwächen des Buches, nämlich, dass die Struktur zwischen thematischer und chronologischer Sortierung schwankt. In einem Abschnitt über die Kirche in der Spätantike muss natürlich das Thema Trinitarier und Arianer oder richtiger Homöer angesprochen werden. Aber ist dann die Geschichte der Bekehrung der Goten zur homöischen Variante des christlichen Glaubens tatsächlich hier gut aufgehoben, oder wäre es nicht doch besser im Kapitel über die Goten platziert?

Noch deutlicher wird das bei dem dann folgenden größten Teil des Buches, dem Abschnitt, der den Obertitel „Erzählung“ erhalten hat, den die nach „Völkern“ gegliederte Geschichte der Germanen und des Imperium Romanum ausmacht. Eine Darstellung der verwobenen Geschichte von West- und Ostgoten, von Hunnen, Vandalen, Franken und Langobarden lässt sich natürlich weder chronologisch noch nach gentes geordnet wirklich ohne Querbezüge bewältigen. Wiederholungen, Rückverweise und Vorausverweise müssen wohl oder übel je nach Darstellung auf jeden Fall erfolgen, dies genau wird vom Autor indes zu wenig gemacht. Sicher kann man bereits Geschriebenes (und in der Theorie Gelesenes) als bekannt voraussetzen, aber der ein oder andere erläuternde Querverweis kann gerade für Leserinnen und Leser, die sich möglicherweise nur ein für sie besonders interessantes Kapitel vornehmen wollen, nicht schaden. Zudem kann man sich nicht immer darauf verlassen, dass die Sachverhalte tatsächlich schon geschildert worden sind: „Sabas Dorf“ wird unvermittelt in die Erzählung als ein Musterbeispiel eines gotischen Dorfes aufgenommen (S. 195–197), ehe dieser gotische Märtyrer genau vorgestellt wird oder auch nur die Quelle für sein Martyrium benannt würde. Die im Westgotenreich praktizierte Schandkrone bei Absetzungen sieht das lesende Publikum auf S. 377 schon ausgeführt, während auf die Bedeutung der Salbung für die Königserhebung als verstärkendes Ritual erst später eingegangen wird. Die Abkunft der Theudelinde von den bayerischen Agilolfingern wird zwar genannt, ausgerechnet anlässlich ihrer Heirat mit Authari (S. 403) hinter den Namen der Eltern verborgen.

Sicher kann Wolfram mit seinem umfangreichen Wissen – wie sich nicht zuletzt daran ersehen lässt, dass er oft auf eigene Arbeiten zurückgreifen kann – aus dem Vollen schöpfen. Gänzlich Unkundige werden indes in der Fülle der Details und der verästelten Darstellung möglicherweise verloren gehen. Dass Wolfram sich entschlossen hat, Fußnoten sehr sparsam einzusetzen, erhöht natürlich die Lesefreundlichkeit. Ob man allerdings auf der Suche nach einem Quellenzitat dann gerne ein weiteres Buch von Wolfram aufschlägt, sofern man nicht selbst Experte ist und genau weiß, welches Zitat gemeint ist? Auch dass es nur einen Namenindex gibt, macht den Band nicht gerade zu einem leicht handhabbaren Nachschlagewerk.

Es fällt schwer einzuschätzen, inwieweit das Buch ohne vorhandenes Vorwissen als Einführung gelten kann. Die Darstellung ist oft zu detailreich, die Entwicklungslinien werden zu selten offen angesprochen, der Blick auf die Ereignisse ist stark von Wolframs eigenen Einschätzungen und von der Wiener Schule im weiteren Sinne geprägt, was Wolfram nicht immer deutlich genug anspricht. Dennoch ist ein solcher Gesamtüberblick aus der Feder eines kenntnisreichen Historikers der Spätantike überaus lesenswert und aufschlussreich. Als einführende Lektüre für Studierende oder auch für ein interessiertes Laienpublikum ist es hingegen nicht leicht zugänglich und bedürfte eigentlich einer kommentieren Einordnung, die Wolfram aus der Fülle seiner Forschungskenntnisse an sich auch selbst hätte liefern können, ohne sich damit der Freiheit zu berauben, seine eigene Interpretation vorzuziehen.

Anmerkungen:
1 Herwig Wolfram, Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter (Das Reich und die Deutschen), Berlin 1990.
2 Ähnlich bereits Wolfram Herwig, Wie schreibt man ein Germanenbuch und immer noch eins?, in: Völker, Reiche und Namen im Frühen Mittelalter, hg. von Matthias Becher und Stefanie Dick, München 2010, S. 15–44.

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