I. Bertleff u. a. (Hrsg.): Russlanddeutsche Lieder

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Titel
Russlanddeutsche Lieder. Geschichte – Sammlung – Lebenswelten, Band 1: Liedgeschichten und Editionen, Band 2: Analysen und Quellen


Herausgeber
Bertleff, Ingrid; John, Eckhard; Svetozarova, Natalia
Reihe
Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 52
Erschienen
Anzahl Seiten
2 Bde., 972 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Natalia Donig, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen, Universität Passau

Das voluminöse, fast tausend Seiten umfassende Werk ist das Ergebnis einer jahrelangen Kooperation zwischen dem Deutschen Volksliedarchiv (Freiburg) und dem Institut für Russische Literatur der Russischen Akademie der Wissenschaften (St. Petersburg), die später institutionell vom Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte der Universität Freiburg (Prof. Dr. Dietmar Neutatz) unterstützt wurde. Die Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen brachte eine zweibändige Publikation hervor, die in sich eine Edition, ein Repertorium und ein Sammelband vereint. Zugleich ist es eine Hommage an den sowjetischen Germanisten, den besten Kenner deutscher Mundarten in der Sowjetunion und volkskundlich tätigen Philologen Viktor Žirmunskij (1891–1971), dessen Sammlung russlanddeutscher Lieder dem nun vorliegenden Werk zugrunde liegt.

Dass die Arbeit Žirmunskijs und sein 1927 in Leningrad angelegtes, umfangreiches, jedoch bis Ende der 1990er-Jahre in Vergessenheit geratenes Volksliedarchiv auf diese Weise gewürdigt wurden, ist sehr zu begrüßen. In den 1920er-Jahren bereisten Žirmunskij und seine Mitarbeiter die deutschen Kolonien in der Ukraine, im Leningrader Gebiet sowie in Transkaukasien, wo sie linguistische Feldforschungen betrieben und unter anderem deutsche Volkslieder aufzeichneten. Diese fast 4.000 Lieder bzw. Liedvarianten bildeten die Grundlage für das Deutsche Volksliedarchiv Leningrad (DVL), das Žirmunskij nach dem Vorbild des Freiburger Volksliedarchivs angelegt hat. Doch gerade diese Forschungen wurden Žirmunskij in den 1930er-Jahren nicht zuletzt auch aufgrund des verhärteten außenpolitischen Klimas zum Verhängnis: Dreimal wurde er verhaftet (1933, 1935, 1941), jedes Mal aus nicht näher bekannten Umständen wieder frei gelassen und musste schließlich seine volkskundlichen Forschungen zu den deutschen Mundarten wie zu den deutschen Volksliedern einstellen. Viele seiner Mitarbeiter und Kollegen dagegen wurden Opfer des stalinistischen Terrors.

Ende der 1940er-Jahre traf es Žirmunskij erneut, als ihm und drei seiner Kollegen, Professoren der Philologischen Fakultät an der Leningrader Universität, im Zuge der 1947/48 entfalteten Antikosmopolitismus-Kampagne „Liebedienerei vor dem Westen“ und vor der „bürgerlichen Kultur“ vorgeworfen wurde (siehe den Beitrag von Konstantin Azadovskij in Bd. 2). Žirmunskijs literaturwissenschaftlichen Werke, vor allem die komparatistischen, wurden scharf kritisiert, für „nichtig“ und „dem sowjetischen Volk nicht dienlich“ erklärt. Der Wissenschaftler wurde seines Lehrstuhls für westeuropäische Literatur enthoben und erhielt ein Lehrverbot. Und dennoch gelang es von allen damals an der Leningrader Universität angeklagten Professoren Žirmunskij am besten, die unsinnige Kritik und persönliche Diffamierung zu überstehen. Er setzte seine wissenschaftliche Tätigkeit als Universalphilologe an anderen Hochschulen fort, konnte nach dem Tod Stalins wieder eine Lehrtätigkeit aufnehmen und kehrte in den sechziger Jahren sogar an die Leningrader Universität zurück, wo er eine Zeit lang den Lehrstuhl für deutsche Philologie inne hatte. Nur die Arbeit an seinen folkloristischen Forschungen und dem Volksliedarchiv nahm er nie wieder auf.

Es ist ein Verdienst der Publikation und der ihr zugrunde liegenden Projekte, dass das ehemalige „Deutsche Volksliedarchiv Leningrad“ vollständig erschlossen und digitalisiert worden ist. Das Werk enthält ein Findbuch zu den Archivalien in St. Petersburg, einen alphabetischen Katalog der vorhandenen Lieder, ein Melodienverzeichnis und eine ausführliche Bibliografie. Weiterhin sind im Rahmen der Projekte Digitalisate nach Freiburg überführt worden und somit interessierten Forschern noch leichter zugänglich. Außerdem wurden einige grundlegende und bislang schwer zugängliche Arbeiten Žirmunskijs ins Deutsche übersetzt und im zweiten Band veröffentlicht.

Die ausführliche Einleitung im ersten Band spart dann auch nicht an Superlativen: Es ist von einem „neuen Grundlagenwerk“ die Rede, es wird das „Novum“, die „Tiefenschärfe“ und die „fundamentale Bedeutung“ der geleisteten Arbeit hervorgehoben. Doch das Selbstlob ist durchaus gerechtfertigt. Die zweibändige Ausgabe zeugt von akribischer Arbeit aller am Projekt und der Publikation beteiligten Mitarbeiter und Autoren. Die Lieder selbst, die fast den gesamten ersten Band einnehmen, sind aufs Ausführlichste recherchiert, kommentiert und in allen bis heute bekannten Varianten vorgestellt. Ediert wurden 86 so genannte „kolonistische Lieder“, begrifflich als „traditionelle russlanddeutsche Lieder“ bezeichnet, d.h. solche, die von deutschen Siedlern nicht aus ihrer Heimat mitgebracht (obwohl auch solche von Žirmunskij gesammelt und archiviert wurden), sondern jene, die ausschließlich in ihren neuen Siedlungsgebieten entstanden und tradiert wurden. Das ist die Besonderheit der vorliegenden Edition, denn bisherige Veröffentlichungen russlanddeutscher Lieder enthielten eine große Zahl traditioneller deutscher Volkslieder, die im gesamten deutschen Sprachraum verbreitet waren. Teilweise sind zu den Liedern Melodien überliefert worden, die im Handbuch ebenfalls Berücksichtigung fanden.

Die meisten Lieder sind zwischen den 1870er- und den 1920er-Jahren entstanden und spiegeln, wie jede Liedsammlung, die Umstände des Sammelns wider. Auch Žirmunskijs Archiv – obwohl das umfangreichste der bisherigen Liedsammlungen – kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Denn nicht alle damals gesungenen Lieder wurden auch gesammelt – sei es, weil die Sammler selbst sie nicht für aufzeichnungswürdig hielten (z.B. so genannte „Gassenlieder“) oder weil sich die Gewährspersonen nicht trauten, sie den sammelnden Wissenschaftlern vorzusingen (siehe dazu den Beitrag von Eckhard John in Bd. 1).

Worüber sangen die Kolonisten? Die häufigste Gruppe unter den Liedern sind Soldatenklagen, die die allgemeine Einführung der Wehrpflicht 1874 bzw. den ersten Weltkrieg als ein tief in das Schicksal der russlanddeutschen Bevölkerung eingreifendes Ereignis sowie dessen Folgen – Angst vor dem Wehrdienst, Schmerz über den Abschied von der Familie, Todesangst – thematisieren. Ähnlich emotional sind auch Lieder, die etwa der Flucht deutscher Siedler in der Ukraine auf die Krim in Folge des russischen Bürgerkriegs im Jahr 1919 oder der Hungersnot von 1921–1922 an der Wolga gewidmet sind. Die zweitgrößte Gruppe sind Lieder, die konkrete Ereignisse in den Kolonien zum Inhalt haben (wie etwa die Ermordung eines evangelischen Pfarrers und seiner Familie in der Südukraine, den Selbstmord eines jungen Liebespaares etc.). Schließlich sind es Liebes- oder Tanzlieder bzw. Lieder, die Hochzeiten, Ehe- und Familienleben besingen (vgl. den Beitrag von Dietmar Neutatz in Bd. 2, der die Lieder zugleich in ihrem historischen und lebensweltlichen Kontext verortet, um dadurch eine Erklärung für die Dominanz bestimmter Themenfelder bzw. das Fehlen anderer, für die Lebenswelt der Kolonisten jedoch charakteristischer Aspekte in den kolonistischen Liedern aufzuzeigen).

Einige Lieder der vorliegenden Sammlung sind zweisprachig (deutsch und russisch) verfasst, womit sie eine interessante Quelle für die Untersuchung der sprachlichen Kontakte deutscher Kolonisten mit ihren russischen oder ukrainischen Nachbarn darstellen. Auch linguistische Forschungen etwa zum „code-switching“ und zur sprachlichen Kompetenz der Kolonisten lassen sich anhand dieser Lieder anstellen (siehe den Beitrag von Natalia Svetozarova in Bd. 2).

Bei vollständiger Lektüre der zweibändigen Ausgabe fallen allerdings häufige Wiederholungen und gegenseitige Verweise zwischen den Beiträgen ins Auge. Für die meisten Leser, die das Buch selektiv lesen, ist dies kein Manko. Sicherlich hätten sich aber einige der Redundanzen bei einer anderen Anordnung der Beiträge vermeiden lassen. So ist es zum Beispiel nicht nachvollziehbar, warum der zweite informative Beitrag von Ingrid Bertleff über das Sammeln russlanddeutscher Lieder erst am Ende des ersten Teils im zweiten Bands erscheint, wäre er doch im ersten Band – bevor man sich die Lieder zu Gemüte führt – sinnvoller aufgehoben und für den Leser eine gute Orientierungshilfe gewesen, da ja die Liedgeschichten stets Verweise auf eben jene Sammlungen und Editionen enthalten, die erst im Beitrag von Bertleff systematisch dargestellt werden.

Insgesamt lassen sich alle Studien des Handbuchs mit Gewinn lesen, während das Werkkorpus selbst für zukünftige Forschungen einiges zu bieten hat. So wie es dem sowjetischen Germanisten Žirmunskij seinerzeit darum ging, bestehende Lehrbücher und -werke durch neue zu ersetzen, so ist es auch die Absicht der Herausgeber gewesen, ein neues Grundlagenwerk zu den traditionellen Liedern der Russlanddeutschen vorzulegen. Dabei werden nicht nur Volkskundler, Linguisten und Musikwissenschaftler von dem aufgearbeiteten Material profitieren können, auch für historische und kulturwissenschaftliche Forschungen stellen die russlanddeutschen Lieder – vor allem dank ihrer sorgfältig recherchierten Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte – eine wertvolle Quelle dar. Ferner ist zu hoffen, dass das enthaltene Repertorium ein neues Interesse der Historiker russlanddeutscher Geschichte am Nachlass Viktor Žirmunskijs wecken wird, der in der St. Petersburger Filiale des Archivs der Russischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt wird. Zwar gut erschlossen, jedoch keinesfalls erschöpfend von der Forschung beachtet, bietet er jenseits von Folklore reichhaltiges Material etwa zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte der Russlanddeutschen, Berichte über die Forschungsreisen in die deutschen Kolonien, Arbeitsaufzeichnungen, Briefwechsel und andere Dokumente, die zukünftige Forschungsarbeiten bereichern können.