Cover
Titel
Not Enough. Human Rights in an Unequal World


Autor(en)
Moyn, Samuel
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 277 S.
Preis
$ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Plath, Center for Global History, Freie Universität Berlin

Weltweit leiden nach Schätzungen der Weltbank 736 Millionen Menschen unter den Folgen extremer Armut.1 Obschon die globale Armutsrate weiterhin abnimmt, liegt der Anteil der Weltbevölkerung mit einem täglichen Einkommen von unter 1,90 US-Dollar noch immer bei 10 Prozent. Darüber hinaus leben 2,1 Milliarden Menschen in gesellschaftlicher Armut, müssen also in Relation zu ihrer jeweiligen Gesellschaft als arm betrachtet werden. Die Ungleichheit der Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie mit dieser die Gefahr von Spannungen nehmen in vielen Weltregionen dramatisch zu. Nicht zuletzt aus menschenrechtlicher Perspektive werfen Armut und Ungleichheit eine Vielzahl schwerwiegender Probleme auf, weshalb Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen seit Jahren die Interdependenz zwischen sozialer Gerechtigkeit und effektiver Gewährung von Menschenrechten betonen.

Vor diesem Hintergrund fragt Samuel Moyn in seiner jüngsten Monografie „Not Enough“, warum es Menschenrechtsbewegungen in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen ist, derartigen Entwicklungen adäquat zu begegnen, obschon mit wirtschaftlichen und sozialen Rechten (WSR) durchaus ein normativer Rahmen zur Verfügung stand. Die Hauptursache sieht der Rechtshistoriker in dem Umstand, dass jene Rechte seit den ausgehenden 1970er-Jahren als Instrumente für die hinreichende Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse interpretiert wurden, nicht jedoch für die Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit innerhalb und zwischen Staaten. Hierdurch rückte zwar einerseits die Bekämpfung extremer Armut in den Fokus von Menschenrechtsakteuren, andererseits unternahmen diese wenig, um der weltweit wachsenden Ungleichheit entgegenzuwirken. Diese These untermauert Moyn mit der Darstellung zentraler Etappen der Geschichte der WSR. Die Frage, ob solche Rechte lediglich auf die Befriedigung von elementaren Bedürfnissen abzielen oder darüber hinaus auf materielle Gleichheit, war stets Gegenstand von Kontroversen; die Beantwortung hing von der zeitgenössischen politischen Ökonomie ab.

Ausgehend von der erstmaligen Kodifizierung in der Verfassung der Ersten Französischen Republik von 1793 legt Moyn dar, dass die WSR zunächst für eine Verbindung von Grundsicherung und egalitärer Verteilungsgerechtigkeit standen. Diese Synthese erreichte durch den Aufstieg der Wohlfahrtsstaaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Die Verankerung von WSR in zahlreichen nationalen Verfassungen trug zwar zur globalen Verbreitung des Konzepts bei, nicht aber zu einer Internationalisierung von Menschenrechtspolitik. Wie Moyn treffend feststellt, wurde im Gegenteil die Stellung des Nationalstaats untermauert, welcher als Garant der WSR auftrat, die ihrerseits durch die Kopplung an die Staatsbürgerschaft in ihrer Geltung eingeschränkt waren. Der nationale Wohlfahrtsstaat garantierte seinen Bürgern soziale Rechte in einem beispiellosen Ausmaß, exkludierte jedoch häufig große Bevölkerungsgruppen – vor allem Frauen und Migranten – vom Genuss der Rechte. In diesem Zusammenhang plädiert Moyn für eine Neubewertung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Sie sei eingebunden gewesen in das Projekt der nationalen Wohlfahrt und könne daher nicht als Dokument der Internationalisierung menschenrechtlicher Normen bewertet werden (S. 44).

Erst die Dekolonisierung löste die Idee rechtsbasierter Wohlfahrt aus dem nationalstaatlichen Rahmen. In den 1970er-Jahren begehrten die Staaten des Globalen Südens gegen die bestehende internationale Ordnung auf und forderten eine „New International Economic Order“ (NIEO), die durch zwischenstaatliche Verteilungsgerechtigkeit und demokratischere internationale Beziehungen zu einem globalen Wohlfahrtssystem führen sollte. Das politische Scheitern dieses Vorstoßes zeichnete sich jedoch bereits am Ende der Dekade ab, und an die Stelle einer neuen Weltwirtschaftsordnung trat sukzessive der Ansatz der „basic human needs“. Während die NIEO in erster Linie zwischenstaatliche Distribution einforderte und somit vorwiegend kollektive Rechtssubjekte adressierte, waren „basic needs“ auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse von Individuen ausgerichtet. Hierdurch war der Grundbedürfnisansatz anschlussfähig an die Agenden der in den 1970er-Jahren entstehenden Menschenrechtsbewegungen. Die hieraus resultierende Verflechtung von Menschenrechten und „basic needs“ führte zu einer Abkehr von der Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit auf inner- oder zwischenstaatlicher Ebene. Anstelle dessen sollten WSR lediglich ein (globales) Existenzminimum gewährleisten.

Es ist diese Entwicklung, in welcher Moyn die Ursache für das Scheitern der Menschenrechtsbewegungen bei der Bekämpfung der seit den 1970er-Jahren zunehmenden Ungleichheit ausmacht. Im Kontrast zu anderen gegenwärtigen Analysen2 unterstellt Moyn der Menschenrechtspolitik zwar keine Komplizenschaft beim Aufstieg des Neoliberalismus. Seine Kritik ist jedoch nicht weniger scharf:3 Für ihn bildet die Ausrichtung auf die Sicherung eines Existenzminimums die Ursache der Unterminierung der Idee globaler Solidarität; dadurch seien Menschenrechte zu „Gefangenen des gegenwärtigen Zeitalters der Ungleichheit“ geworden (S. 6). Deshalb plädiert Moyn für eine Wiederaneignung der Idee der Verteilungsgerechtigkeit und für die erneute Einforderung einer globalen Wohlfahrtsstruktur durch neu entstehende soziale Bewegungen, welche sich in ihrer globalen Ausrichtung und ihrem Gestaltungsanspruch von bisherigen Menschenrechtsbewegungen abheben müssten.

Mit seinem durchaus provokanten Buch legt Moyn eine stimulierende Ideengeschichte der in der Menschenrechtshistoriografie oftmals ignorierten WSR vor, die durch die Einbeziehung wirtschafts- und politikgeschichtlicher Aspekte deutlich an analytischer Schärfe gewinnt. Er positioniert sich innerhalb einer breiteren Forschungsdebatte um das Verhältnis zwischen dem Aufstieg des Neoliberalismus und demjenigen der Menschenrechte als globalem Ordnungsmodell. Und hier entfaltet sich die eigentliche Stärke des Buchs, welches wissenschaftliche und politische Analyse virtuos in Einklang bringt und so eine Geschichte der Gegenwart im besten Sinne darstellt. Seit dem Erscheinen hat „Not Enough“ lebhafte Debatten angestoßen4 und wird dies mit Sicherheit auch künftig noch tun.

Getrübt wird der positive Eindruck lediglich durch die analytische Engführung auf westliche Protagonisten und Diskurse sowie die Privilegierung einer bestimmten Lesart von Menschenrechten, die sich bereits auf der sprachlichen Ebene anhand der durchgängigen Differenzierung zwischen „human rights“ und „social rights“ offenbart. Besonders deutlich wird dies im Kapitel zur NIEO, in dem Moyn primär den Einfluss der Debatten um eine neue Weltwirtschaftsordnung auf westliche Theoretiker globaler Gerechtigkeit ermisst, allerdings sowohl den Beitrag von Akteuren nichtwestlicher Länder als auch die Bedeutung der Vereinten Nationen für die Entwicklung der WSR systematisch unterschätzt. Besonders auffällig ist, dass Moyn die menschenrechtliche Dimension der NIEO nicht als Teil der Menschenrechtsrevolution der 1970er-Jahre einstuft, da er diese mit der Durchsetzung individueller politischer und staatsbürgerlicher Rechte gleichsetzt.

Die zeitgenössischen Diskussionen in den Organen der UNO verdeutlichen allerdings, dass es den Entwicklungsländern zumindest vorübergehend gelang, die Anerkennung von WSR, die der strukturellen Benachteiligung von Individuen und Staaten entgegenwirken sollten, als Menschenrechte durchzusetzen. Wie unter anderem die wegweisende Resolution 32/130 illustriert5, existierte Ende der 1970er-Jahre auf internationaler Ebene ein breiter Konsens über die Anerkennung des Zusammenhangs von Verteilungsgerechtigkeit und Menschenrechtsschutz. Mit diesen Debatten, die in der Artikulation semikollektiver Solidaritätsrechte und besonders der Konzeption eines „Rechts auf Entwicklung“ gipfelten, ging eine intensive theoretische Auseinandersetzung über menschenrechtliche Begründungen struktureller Gerechtigkeit einher. Federführend waren dabei sowohl Akteure des Globalen Südens, etwa der senegalesische Jurist Kéba M’Baye oder der uruguayische Rechtsexperte Héctor Gros Espiell, als auch internationale Organisationen, insbesondere die UNESCO.6 Wenn Moyn also feststellt, dass Intellektuelle und Experten im Laufe der 1970er-Jahre von einem strukturellen Ansatz zur Betonung der individuellen Dimension von Armut übergegangen seien, mag dies zwar für westliche Diskurse gelten – aus einer globalen Perspektive ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild.

Sowohl die Hinwendung zu einem individualisierten Verständnis jener Rechte als auch die Entwicklung des „basic needs“-Ansatzes können als Teil einer neoliberalen Gegenrevolution7 gegen den distributiven Ansatz der NIEO verstanden werden. Politische wie auch zivilgesellschaftliche Akteure8 westlicher Staaten wiesen strukturelle Menschenrechtsansätze zunehmend zurück und lenkten die Aufmerksamkeit anstelle von Ungleichheit auf die Verletzung individueller Menschenrechte in Entwicklungsländern. Mit dem Kollaps der NIEO und dem Aufstieg eines marktradikalen Wirtschaftsmodells setzte sich eine westliche Lesart von Menschenrechten und hiermit die Reduzierung der WSR auf ihren minimalistischen Kern der Befriedigung von Grundbedürfnissen weitgehend durch. Nach den Regierungsantritten von Margaret Thatcher und Ronald Reagan bildeten Menschenrechte zudem eine wesentliche Legitimation für Strukturanpassungsmaßnahmen, welche im Kern auf eine Festigung der kapitalistischen Ordnung zielten. Es muss also gefragt werden, ob die Liaison zwischen Menschenrechten und Neoliberalismus auf ideologischer und praktischer Ebene nicht doch enger war, als es in „Not Enough“ den Anschein hat.

Durch Moyns Fokussierung auf westliche Diskurse geraten diese Aspekte etwas aus dem Blick – und damit tritt auch die wichtige Frage nach den machtpolitischen Bedingungen der Durchsetzung von Normen in den Hintergrund. Dies aber schwächt nicht nur seine wissenschaftliche Analyse, sondern insbesondere sein politisches Argument. Moyn scheint die heutige Engführung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte auf die bloße Gewährung eines Existenzminimums für unumkehrbar zu halten und Menschenrechte daher als ungeeignete Instrumente für den Kampf um globale strukturelle Gerechtigkeit zu betrachten. Die Idee einer menschenrechtlichen Begründung struktureller Reformen existiert in Gestalt des von Moyn erstaunlicherweise kaum beachteten Menschenrechts auf Entwicklung aber bis heute fort und gewinnt als Referenzpunkt noch an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund könnten die Einbeziehung nichtwestlicher Perspektiven und die Infragestellung des hegemonialen Menschenrechtsverständnisses dazu beitragen, Menschenrechte erneut ins Zentrum der Forderung nach distributiver Gerechtigkeit zu rücken.

Anmerkungen:
1 World Bank, Poverty and Shared Prosperity 2018. Piecing Together the Poverty Puzzle, Washington 2018, http://www.worldbank.org/en/publication/poverty-and-shared-prosperity (08.02.2019).
2 Vgl. Naomi Klein, The Shock Doctrine. The Rise of Disaster Capitalism, London 2007; Susan Marks, Four Human Rights Myths. LSE Legal Studies Working Paper No. 10/2012, in: Social Science Research Network, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2150155 (08.02.2019).
3 So auch Trevor Jackson, The Inequality of „Human Rights“, in: Public Books, 11.12.2018, https://www.publicbooks.org/the-inequality-of-human-rights/ (08.02.2019).
4 Vgl. etwa George Fujii (Hrsg.), H-Diplo Roundtable XX-18 on Samuel Moyn, Not Enough. Human Rights in an Unequal World, in: H-Diplo, 02.01.2019, https://networks.h-net.org/node/28443/discussions/3492048/h-diplo-roundtable-xx-18-samuel-moyn-not-enough-human-rights (08.02.2019).
5 UN-Dokument A/RES/32/130, 16.12.1977, https://undocs.org/A/RES/32/130 (08.02.2019).
6 Christoph Plath, Kéba M’Bayes Arbeitspapier über das Recht auf Entwicklung (1977), in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, August 2018, http://www.geschichte-menschenrechte.de/schluesseltexte/recht-auf-entwicklung/ (08.02.2019).
7 Julia Dehm, Highlighting Inequalities in the Histories of Human Rights. Contestations Over Justice, Needs and Rights in the 1970s, in: Leiden Journal of International Law 31 (2018), S. 871–895, hier S. 874.
8 Vgl. hierzu am Beispiel der „Médecins Sans Frontières“: Jessica Whyte, Powerless Companions or Fellow Travellers?. Human Rights and the Neoliberal Assault on Post-Colonial Economic Justice, in: Radical Philosophy 2/2 (2018), S. 13–29, https://www.radicalphilosophy.com/article/powerless-companions-or-fellow-travellers (08.02.2019).