Titel
Peasant Violence and Antisemitism in Early Twentieth-Century Eastern Europe.


Autor(en)
Marin, Irina
Erschienen
Basingstoke 2018: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XVII, 304 S.
Preis
€ 79,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Martin Dorn, Heidelberg

In ihrer Monographie blickt Irina Marin wortwörtlich über Grenzen hinweg. Die Autorin betrachtet die gewaltsamen Bauernaufstände des Jahres 1907 in Rumänien, die jedoch nicht – wie das Thema vielleicht vermuten ließe – aus einer nationalen, sondern einer vergleichenden transnationalen Perspektive analysiert werden. Obwohl die Bauernaufstände sich in Rumänien ereigneten, blickt die Autorin über dessen nationale Staatsgrenzen hinweg und arbeitet heraus, wie sich diese auch auf angrenzende Gebiete des Österreich-Ungarischen sowie des Russischen Imperiums auswirkten. Ihre Studie unterscheidet sich darin auch von der bisherigen Forschung, welche die Bauernaufstände vorzugsweise aus national-rumänischer Perspektive betrachtet hat.1

Das transnationale Narrativ ihrer Arbeit ist äußert geschickt gewählt und bietet gleichsam mehrere Vorteile: So ermöglicht es der Autorin, die untersuchten Gebiete (die Walachei und Moldawien in Rumänien, Bessarabien in Russland sowie Transsilvanien, die Bukowina und das Banat in Österreich-Ungarn) in Form einer vergleichenden Strukturanalyse gegenüberzustellen und letztlich jene Besonderheiten der rumänischen Territorien herauszuarbeiten, die zu den Bauernaufständen führten. Im einleitenden Kapitel stellt die Autorin deshalb die Frage: „If the borderland region shared the same problems and characteristics, why was it that only Romania caught fire in 1907 whereas the neighbouring imperial provinces (Transsylvania, the Banat, Bukovina and Bessarabia) remained relatively peaceful?” (S. 8) Neben der geographischen Nähe verweist sie auf die strukturellen Ähnlichkeiten der Gebiete, die einen Vergleich besonders sinnvoll erscheinen lassen. So hebt sie die Dominanz der Landwirtschaft hervor und stellt deren Wahrnehmung als peripheres Grenzgebiet und historischen Übergangsraum zwischen den Imperien heraus.

Weiterhin ermöglicht es die transnationale Perspektive der Autorin, Formen und Muster des grenzübergreifenden Austausches von Informationen zu studieren. So geht Irina Marin etwa der Frage nach, inwiefern das Vorhandensein von Staatsgrenzen den Informationsfluss beeinträchtigt bzw. in welcher Form dieser dadurch verändert wird. Bemerkenswert ist dabei, dass ihre Arbeit zwar den Fall des rumänischen Bauernaufstandes thematisiert, ihre Untersuchungsergebnisse sich allerdings auch auf andere Räume übertragen lassen.

Einleitend werden zunächst die rumänischen Bauernaufstände als solche beschrieben und analysiert. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hier auf der Darstellung von Informationskanälen, entlang derer sich Nachrichten und Gerüchte über die Aufstände verbreiteten. Die Autorin stellt die besondere Bedeutung von öffentlichen Orten wie etwa Kneipen oder Zugabteilen heraus, die als Kommunikationsräume zur Verbreitung von Informationen dienten. Durch umherziehende Händler und Studenten gelangten Nachrichten in kurzer Zeit selbst an entlegene Orte der rumänischen Provinz. Vielfach wurden die Nachrichten im Interesse des Übermittlers stark verfälscht und die verbreitete Unzufriedenheit trug somit zur Eskalation der Gewalt bei.

Kapitel 3 behandelt ebenfalls die Verbreitung von Gerüchten. Das Augenmerk liegt hier jedoch auf der Reaktion der rumänischen Behörden, deren Vertreter aufgrund ihrer Verwicklung in das auf Ausbeutung beruhende Wirtschaftssystem wenig dazu geneigt waren, tatsächliche Missstände aufzudecken. Stattdessen knüpften sie an ohnehin in der Bevölkerung vorhandene Ressentiments an und machten Minoritäten wie Juden, Russen oder Bulgaren für die Gewalt verantwortlich.

In Kapitel 4 und 5 werden die Ursachen für die Aufstände in Form einer vergleichenden Strukturanalyse ausdifferenziert. Die Autorin arbeitet die ökonomische und politische Situation in Rumänien detailliert heraus und stellt sie anschließend den benachbarten Provinzen im Zarenreich und Österreich-Ungarn gegenüber. Marin verweist diesbezüglich auf die Besonderheiten der rumänischen Agrarwirtschaft, die durch das extreme Abhängigkeitsverhältnis der bäuerlichen Bevölkerung (neo-serfdom) sowie die daraus resultierende stark ausgeprägte Armut charakterisiert werden kann. Auf dieser Grundlage kommt sie zu dem eindeutigen und gut begründeten Ergebnis: „Of all of the above varations on peasant poverty along the triple frontier, it was the Romanian case that turned out to be the most explosive” (S. 79).

Abschließend werden dann die vielfältigen Reaktionen auf die Bauernaufstände jenseits der Grenze thematisiert. Hierzu werden eine Vielzahl von ausländischen Zeitungen (Kapitel 6) sowie die Reaktionen von Beamten im Zarenreich und Österreich-Ungarn (Kapitel 7) ausgewertet.

Irina Marin präsentiert eine gut durchdachte und sinnvoll strukturierte Studie, welche die Verflechtungen und vielseitigen historischen Entwicklungen innerhalb einer wenig beachteten Grenzregion im Osten Europas analysiert. Dabei kann ihre Arbeit als ergänzender Beitrag oder auch gar als Gegendarstellung zur bisherigen Forschung verstanden werden, da die Bauernaufstände von 1907 darin vornehmlich aus nationaler Perspektive betrachtet werden. Besondere Beachtung verdient ihr Buch auch aufgrund der enormen Vielfalt des zugrunde gelegten und sinnvoll eingebundenen Quellenmaterials. Diverse Materialtypen, darunter Pressemittelungen, Statistiken und politische Korrespondenzen, in rumänischer, deutscher, englischer und russischer Sprache prägen das facettenreiche Bild ihrer Darstellung und helfen, ihre Argumentation sinnvoll zu untermauern.

Kritisch anzumerken bleibt letztlich nur, dass der Zusammenhang zwischen den antijüdischen Pogromen im Zarenreich sowie den rumänischen Bauernaufständen genauer hätte untersucht werden können, vielleicht sogar müssen. Die Autorin verweist in ihrer Studie darauf, dass die Aufstände von 1907 in Rumänien trotz ihres antisemitischen Charakters nicht oder nur am Rande mit den antijüdischen Pogromen im Zarenreich im Zusammenhang stehen. Ihre Argumentation ist an dieser Stelle jedoch nur teilweise überzeugend. So verweist sie zwar zu Recht auf die Resultate ihrer Studie und hebt die fundamentalen strukturellen, ökonomischen und politischen Unterschiede zwischen den untersuchten Gebieten hervor. Trotzdem spricht einiges dafür, dass den Pogromen im Zarenreich eine gewisse, zumindest indirekte Bedeutung mit Blick auf die Herausbildung der Bauernaufstände beigemessen werden sollte. Die geographische Nähe etwa der Pogrome von Kischinew (1903, 1905) und Odessa (1905), ihr geringer zeitlicher Abstand2 und letztlich ihr antisemitischer Charakter sind starke Indizien und lassen einen Zusammenhang plausibel erscheinen. Zwar bedeutet dies nicht, dass darin – wie die Autorin sehr überzeugend darlegt – die Hauptursachen für die Bauernaufstände begründet liegen, aber als Teilaspekt eines komplexeren Erklärungszusammenhangs mag ihnen einen gewisse Tragweite zukommen. An dieser Stelle hätte eine tiefergreifende Untersuchung sicherlich einen Mehrwert bieten können.

Dies bleibt allerdings auch der einzige Kritikpunkt einer insgesamt äußerst gelungenen Darstellung. Die Studie besticht durch ihre Perspektive, die klare Ausdrucksweise sowie die enorme Vielfalt des ausgewerteten und sinnvoll eingearbeiteten Quellematerials. Sie ist gleichsam sehr viel mehr als ein origineller Beitrag zur rumänischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Sie stellt ein herausragendes Beispiel transnationaler Geschichtsschreibung dar, anhand dessen sich die vielseitigen Wechselbeziehungen und komplexen Dynamiken in Grenzräumen besser verständlich und nachvollziehbar machen lassen. Sie ist deshalb nicht nur für Kenner der rumänischen oder osteuropäischen Geschichte unbedingt lesenswert.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Philip Gabriel Eidelberg, The great rumanian peasant revolt of 1907. Origins of a modern jacquerie, Leiden 1974.
2 In der Antisemitismusforschung werden Pogrome im Zarenreich traditionell in drei Phasen untergliedert (1881–1882, 1903–1906 und 1915–1921). Die zweite „Welle“ der Pogromgewalt, innerhalb derer der Herbst des Jahres 1905 durch besonders heftige Ausschreitungen gekennzeichnet ist, ereignet sich also unmittelbar vor den rumänischen Bauernaufständen des Frühjahrs 1907. Zur Periodisierung siehe insbesondere John Klier, The Pogrom Paradigma in Russian History, in: ders. / Shlomo Lambroza (Hrsg.), Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S. 13ff.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/