M. Ruck (Hrsg.): Gewerkschaftliche Staatsverständnisse

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Titel
Gegner – Instrument – Partner. Gewerkschaftliche Staatsverständnisse vom Industrialismus bis zum Informationszeitalter


Herausgeber
Ruck, Michael
Reihe
Staatsverständnisse 106
Erschienen
Baden-Baden 2017: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Christian Führer, Arbeitsbereich Deutsche Geschichte, Universität Hamburg

Gewerkschaften streiten mit Arbeitgebern über Tarifverträge – diese Funktionsbeschreibung dürfte in der Bundesrepublik selbst Menschen präsent sein, die ansonsten nichts über die Gewerkschaften wissen und die sich auch nicht für Organisationen dieser Art interessieren. Die Berichterstattung der Medien trägt dazu entscheidend bei: Gewerkschaften werden dort fast ausschließlich in Berichten über Tarifverhandlungen oder Arbeitskämpfe erwähnt. Allerdings agieren die Interessenverbände von Lohnabhängigen stets in einem politisch gesetzten Rahmen. Die Interaktion mit Staat und Parteien bildet daher zwangsläufig ein zentrales Element gewerkschaftlicher Arbeit. Zudem kann der Staat selbst dann, wenn er freie Gewerkschaften zulässt, Arbeitsbedingungen und Löhne auch noch selbst per Gesetz regeln. In etlichen europäischen Ländern beschäftigten sich Gewerkschaften daher vornehmlich mit Versuchen, die Anliegen der Beschäftigten auf der politischen Ebene durchzusetzen, weil ihnen keine einflussreichen Arbeitgeberverbände gegenüberstehen. Ohne diese aber kann es keine funktionierende Tarifautonomie geben. Deutschland mit seiner langen Tradition starker Verbände von Arbeitnehmern wie auch Arbeitgebern bildet im europäischen Vergleich eher eine Ausnahme als den Normalfall (was hierzulande allerdings meist übersehen wird).

Der hier anzuzeigende Sammelband informiert sowohl für Deutschland als auch für drei weitere Länder über die Veränderungen, die sich im Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Staat seit dem 19. Jahrhundert vollzogen haben. Auf eine knappe Einleitung des Herausgebers Michael Ruck, die eine pointierte Skizze der deutschen Gewerkschaftsgeschichte von ihren Anfängen in der Revolution von 1848 bis in die Gegenwart bietet, folgen zehn Aufsätze. Sieben davon beschäftigen sich mit Deutschland; jeweils ein Beitrag behandelt die Entwicklung in Frankreich, Großbritannien und den USA. Zwangsläufig sind diese drei Aufsätze jeweils stark als historisch weitausgreifender Überblick angelegt, während die mit Deutschland befassten Autoren deutlich mehr Raum haben, auch spezielleren Fragen nachzugehen.

Auffällig ist das durchgehende Bemühen, die übliche historiographische Einteilung des 19. und 20. Jahrhunderts in distinkte Epochen zu überwinden, die in der Geschichtsschreibung allzu oft schematisch und damit wie ein Fallbeil eingesetzt wird. So behandelt Klaus Schönhoven das von Feindschaft geprägte Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Staat in Deutschland für den gesamten Zeitraum zwischen 1848 und 1914; Michael Ruck und Detlev Brunner berücksichtigen in ihren Ausführungen über die Weimarer Republik jeweils auch die Kriegsjahre 1914 bis 1918, in denen wichtige Weichenstellungen für das in und mit der Novemberrevolution dann vollends etablierte System der Tarifautonomie erfolgten. Peter Rütters untersucht die Entwicklung gewerkschaftlicher Staatsvorstellungen bei den von den Nationalsozialisten verfolgten Gewerkschaftern sowohl innerhalb wie auch außerhalb des „Dritten Reichs“ und berücksichtigt dabei auch noch die ersten Nachkriegsjahre bis 1948. Vollständig epochenübergreifend angelegt ist der Beitrag von Bernhard Forster über das Staatsverständnis christlich-nationaler Gewerkschafter vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik, die das sozialistische Selbstverständnis der zahlenmäßig dominanten „freien“ Gewerkschaften (so deren Selbstbezeichnung) im Kaiserreich und in der Weimarer Republik nicht teilten. Hans-Otto Hemmer schließlich beschäftigt sich für die BRD mit den Jahren 1976 bis 1998, in denen der Slogan vom „Modell Deutschland“ öffentlich bemerkenswert präsent war: Er brachte den bereits älteren deutschen Stolz auf das System von Tarifautonomie und stark ausgebautem Sozialstaat auf den Punkt und wurde von der SPD auch für Wahlkampfzwecke eingesetzt. Wolfgang Schroeder schließlich skizziert für die Gegenwart, wie prekär es mittlerweile in der Bundesrepublik um die Tarifautonomie, Flächentarifverträge und die Tarifbindung steht, weil sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände organisatorisch immer schwächer werden. Staat und Politik kommt im gewerkschaftlichen Handeln daher nun auch in der Bundesrepublik eine immer größere Bedeutung zu. Die 2015 nach langen gewerkschaftlichen Bemühungen erfolgte Einführung des gesetzlichen Mindestlohns steht exemplarisch für diesen neuen Stand der Dinge, der in vielerlei Hinsicht nichts mehr mit den deutschen Traditionen zu tun hat.

Es folgen die Beiträge zu Frankreich (Wolfgang Uellenberg-van Danen), Großbritannien (André Keil) und den USA (Julia Angster), die gemeinsam deutlich machen, wie wenig das angebliche „Modell Deutschland“ mit seinen zeitweise fast perfekt entwickelten korporatistischen Zügen jemals wirklich als Modell gewirkt hat. Nationale politische Strukturen (in Frankreich etwa die starke Spannung zwischen Zentralstaat und regionalen Bedürfnissen) sowie nationale politische Traditionen (der Anarcho-Syndikalismus in Frankreich, die grundsätzliche Akzeptanz der bestehenden staatlichen Ordnung auch durch die Arbeiterbewegung in Großbritannien bereits im 19. Jahrhundert) prägten die jeweilige Entwicklung so stark, dass die internationale Zusammenarbeit der Gewerkschaften stets vor dem Problem stand, überhaupt erst einmal eine gemeinsame Basis dafür zu finden.

Alle Beiträge des Bandes stammen von ausgewiesenen Experten, die größtenteils schon lange auf dem Feld der Gewerkschaftsgeschichte arbeiten. Ihre Ausführungen sind durchweg inhaltlich treffend, prägnant formuliert und auch für Leser/innen ohne fachliches Vorwissen problemlos verständlich. Insofern eignet sich der Band gut als Einführung in das gesamte Feld der Geschichte der Gewerkschaften und auch der Tarifautonomie. Allerdings wird der stark politikhistorische Ansatz, dem gerade die Deutschland gewidmeten Beiträge verpflichtet sind, an keiner Stelle problematisiert. Insofern wünscht man sich, die Autoren hätten stärker auf die vielen unbearbeiteten Themen in der Gewerkschaftsgeschichte hingewiesen, die jenseits der Politik- und Organisationsgeschichte liegen. Vor allem die Frage, wie Gewerkschaften die sozialen Interessen sowohl ihrer Mitglieder wie auch der (oft genug sehr viel zahlreicheren) unorganisierten Beschäftigten aufgreifen und wie genau sie eigentlich mit diesen beiden Gruppen kommunizieren, ist unzureichend untersucht – zumal für die Jahre nach 1960, in denen das „Ende der Proletarität“ (Josef Mooser) die soziale Funktion von Tarifverträgen entscheidend veränderte.