F. Zarinebaf: Mediterranean Encounters

Cover
Titel
Mediterranean Encounters. Trade and Pluralism in Early Modern Galata


Autor(en)
Zarinebaf, Fariba
Erschienen
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 27,26; £ 30.00; 39.95 US-Dollar
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Fuhrmann, Working Group "Progress: Ideas, Agents, Symbols", Leibniz-Zentrum Moderner Orient

Fariba Zarinebaf, die insbesondere durch ihr Crime and Punishment in Istanbul, 1700–1800 als wichtige Forscherin zur osmanischen Sozialgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts bekannt ist, widmet sich in ihrem neuen Buch dem Istanbuler Stadtteil Galata. Die ehemalige genuesische Vorstadt Konstantinopels behauptete während der gesamten osmanischen Herrschaft eine Schlüsselstellung im Kontakt der Reichshauptstadt zu den anderen Mittelmeeranrainern, so die Autorin. Da osmanische Zeitgenossen Galata zum verführerischen Sündenpfuhl mit Tavernen, Tanzjungen und Ungläubigen stilisierten, europäische Beobachter hingegen ab dem neunzehnten Jahrhundert hier ihre „permanenten Weltausstellungen“ (Paolo Girardelli) zum Werben für ihr jeweiliges Modell von Zivilisation aufbauten, habe das frühneuzeitliche Galata nicht genügend Berücksichtigung gefunden als Handelshafen und diplomatische Schnittstelle sowie als Ort der sozialen, konfessionellen und geschlechtlichen Grenzziehung und -überschreitung (S. 1–7). Ihr Vorhaben sieht sie in Einklang mit weiteren neueren Publikationen, die zum Ziel haben, die islamisch geprägten Mittelmeeranrainer nicht, wie in der älteren Forschung, als Gegensatz zur mediterranen Welt zu betrachten, sondern als einen integralen Teil von ihr. Hierzu möchte sie sich ähnlich wie Julia Clancy-Smith gegen „the binary and monolithic study of the Mediterranean (Christian versus Muslim)“ wenden und stattdessen eine Hafenstadt untersuchen „as a layered zone of contact and a borderland where the movement and migration (both long-term and temporary) of people (both forced and voluntary) [...] profoundly shaped the cityscapes and the identities of the newcomers“ (S. 6).1 Da sowohl die ältere Forschung zum frühneuzeitlichen Mittelmeer als auch zum Osmanischen Reich sich auf Fernand Braudel und die Annales berufen, die Historiographie zum Osmanischen Reich sich aber vor allem als Korrektiv gegen zu wohlfeile strukturelle Vorstellungen von der islamischen Welt verstand, nimmt Fariba Zarinebaf auch ältere Diskussionen über die osmanische Wirtschaft wieder auf, die von ihrem Doktorvater, dem kürzlich verstorbenen Nestor der Disziplin, Halil İnalcık, geprägt worden sind.

Die Verfasserin will also die Lokalgeschichte nutzen, um sowohl an Fragen nach dem Wesen der osmanischen Wirtschaft, der diplomatischen und Handelsbeziehungen anzuknüpfen als auch an das schnell expandierende Feld der osmanischen Kulturgeschichte. Hierzu hat sie unter anderen staatlichen osmanischen Akten die sogenannten „Auslandsregister“ (Ecnebe defterleri) genutzt, in denen die wichtigsten diplomatischen Schriftstücke festgehalten wurden, ferner die Akten (sicil) des Kadi von Galata, dem in der Regulierung der Beziehungen laut Zarinebaf eine Schlüsselstellung zukam, sowie die Akten der Handelskammer Marseille und andere Quellen.

Im ersten Hauptteil bietet die Autorin einen chronologischen Überblick über die Entwicklung der Vorstadt Galata. Sie beginnt mit dem 6. Jahrhundert und schließt mit dem 18., wobei sie insbesondere die osmanische Verwaltungs-, Siedlungs- und Religionspolitik sowie die ethnische und soziale Zusammensetzung der Bevölkerung hervorhebt (Kapitel 1). Anschließend betrachtet Zarinebaf die Entstehung des nördlichen Vorortes der Vorstadt Galata, nämlich Pera (Beyoğlu) rund um die dortigen Botschaften, vom späten 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts und insbesondere, wie dieses Viertel genutzt werden sollte zum Aufbruch zu moderner Stadtplanung, Architektur und Sanitärmaßnahmen (Kapitel 2).

Im zweiten Hauptteil geht es um die Kapitulationen (ahdname), die die Beziehungen der Osmanen zu den jeweiligen Ländern regelten. Die Natur der Kapitulationen ist ein heiß umstrittenes Thema in der älteren Forschung: Handelte es sich um einseitige und widerrufliche Gunstbeweise des Sultans, um Freundschaftsverträge oder um ungleiche Verträge, wie sie während des imperialen Zeitalters auch in Ostasien abgeschlossen wurden? Um diese Debatte wiederaufzunehmen, geht Zarinebaf die einzelnen Kapitulationen chronologisch durch und erklärt sie aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus (Kapitel 3). Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass die Kapitulationen des 15. bis 17. Jahrhunderts einen Rahmen für den internationalen Handel boten, der auf islamische und oströmische Rechtspraxis zurückging, gegenseitige Rechtsicherheit bot, den Austausch anregte und keine unauflösbaren Abhängigkeiten schuf. Erst die protektionistische und xenophobe Handelspolitik vieler europäischer Staaten ab dem späten 17. Jahrhundert – durch die Aufhebung des Edikt von Nantes 1685 mussten auch armenische und griechische Händler Marseille verlassen – habe die Schieflage in den Wirtschaftsbeziehungen hervorgebracht, da zeitgleich die osmanische Seite nach der Beilegung langjähriger Kriege aus Interesse an einer wirtschaftlichen Wiederbelebung zu großzügiger Involvierung ausländischer Händler auch im Binnenhandel bereit war (Kapitel 4).

Teil drei hingegen untersucht die alltägliche Realität der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen in Galata und im Mittelmeer insbesondere mit Frankreich im 18. Jahrhundert. Hier wird deutlich, dass die Kapitulationen keineswegs eine lückenlose Praxis hervorbrachten, sondern immer wieder durch Petitionen und Gerichtsverfahren durchgesetzt werden mussten. In Kapitel 5 wird die Diskussion um das Wesen der frühneuzeitlichen osmanischen Wirtschaft anhand der Versorgungsfrage Istanbuls thematisiert. Anders als in der älteren Forschung, laut der sich die Wirtschaftspolitik in einer Kommandowirtschaft zur Versorgung der Hauptstadt erschöpfte (provisionism), zeigt Zarinebaf, dass der Staat sich jenseits einer Grundversorgung, die eher über Anregungen als über Intervention funktionierte, aber zu Krisenzeiten intensiviert werden musste, durchaus flexibel und an wachsendem Außenhandel interessiert war. Die Petitionen zeigen ferner verschiedenste Handelspartnerschaften zwischen französischen und osmanischen Untertanen aller Konfessionen, die aber auch Konfliktpotential boten. Kapitel 6 vertieft diese Diskussion anhand der Marseiller Handelskammer und der französischen Händler in osmanischen Häfen im 18. Jahrhundert. Die Verflechtung dieser Händler wird beispielsweise an ihrer Rolle als Kreditgeber osmanischer Untertanen deutlich, aber auch an den zahlreichen Gerichtsverfahren. Interessenskonflikte betrafen ferner auch die Fragen von Protektionismus versus Freihandel, bei denen die osmanischen Amtsinhaber schwierige Abwägungen treffen mussten. Hier deuten sich bereits die imperialen Beziehungen des 19. Jahrhunderts an, als das Osmanische Reich weitgehend zum Rohstofflieferant für die industrielle Produktion Westeuropas degradiert wurde (zum Beispiel Angorawolle und Baumwolle), während es ehemals im Inland ausreichend angebaute Produkte aus der Neuen Welt importieren musste (Zucker und Kaffee). Kapitel 7 widmet sich den kulturellen Komplikationen, die durch das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Konfession und Staatszugehörigkeit im Galata des 18. Jahrhunderts entstanden. Die durch die Staaten und Religionsgemeinschaften gesetzten Unterschiede ließen sich im Alltag nicht immer aufrechterhalten. Grenzziehungen in sexuellen Angelegenheiten spielten hier eine wichtige Rolle angesichts der zahlreichen alleinstehenden Männer (Seeleute, Händler) und des Rotlichtbezirks in Hafennähe. Wechselweise waren die Ehre und der Friede der französischen Nation, der griechisch-orthodoxen Gemeinde, des Islams oder auch der Nachbarschaft durch Aktivitäten unter der Bettdecke bedroht. Andere Bereiche, die die Grenzen verschwimmen ließen, waren die (in der älteren Literatur überschätzte) Protegierung osmanischer Untertanen durch die Botschaften (berat) und die umstrittene Missionierung der katholischen Orden unter der armenisch-apostolischen und griechisch-orthodoxen Bevölkerung. Der Epilog schildert schließlich, wie in der Französischen Revolution zusammen mit dem ancien régime auch die bisherige Ordnung der französisch-osmanischen Beziehungen in mehreren Stufen zusammenbrach: Zunächst durch das Schisma in der französischen community Galatas, dann durch die napoleonische Invasion Ägyptens, auf die die Hohe Pforte mit Aufhebung der Kapitulation und Inhaftierung der Franzosen sowie Konfiszierung ihres Besitzes reagierte, und schließlich nach Wiederherstellung der Beziehungen durch das Ende der Privilegien der Marseiller Handelskammer zugunsten des Freihandels.

Die Qualität der Kapitel schwankt. Auch wenn selbst Kenner der Geschichte Galatas im einleitenden Überblickskapitel interessante Details finden können, ist zu manchen Aspekten, beispielsweise der Demographie, doch schon viel geschrieben worden.2 Das Kapitel zu Pera im 19. Jahrhundert ist eher überflüssig, da auf diese Periode im Folgenden nicht mehr eingegangen wird, viele Aspekte unscharf angerissen werden, obwohl es hier einen reichen Forschungsstand gibt, beispielsweise zur 1856 eingeführten Munizipalverwaltung des Stadtbezirks Galata-Pera3, und einige Fehler zu monieren sind (zum Beispiel das erste Theatergebäude Peras war nicht am Park Pétit Champs).4 Überhaupt fällt gelegentlich eine unzureichende Editierung auf: So wird Trablusşam mit Tunis gleichgesetzt (S. 182; es ist Tripolis im heutigen Libanon).

Interessanter wird es ab dem zweiten Teil. Auch wenn die Kapitulationen in der Forschung bereits viel diskutiert worden sind, überzeugt der systematische Überblick, da er konsequent in die quellenbasierte Entstehungsgeschichte eingebettet ist. Reaktionen auf spezifische Piraterieaktivitäten, Angleichungen und auch Rückschritte werden so ersichtlich. Noch spannender ist der dritte Teil, der durch die extensive Quellenarbeit Einblick in den Alltag sowohl der Geschäfts- als auch der kulturellen Beziehungen gewährt. Gerade in den Kapiteln zum Handel verliert sich zeitweise der Fokus auf Galata zugunsten des im Haupttitel erwähnten Mittelmeers. Perspektivenwechsel ist im Zeitalter der Globalgeschichte sicherlich kein Manko, unterminiert aber das eingangs beschworene Bild von Galata als zentraler Drehscheibe des Austauschs. So wandten sich französische Händler aus Aleppo durchaus auch direkt an Marseille oder petitionierten an den osmanischen Staatsrat ohne Beteiligung ihrer Botschaft. Insbesondere in dem vergleichsweise kurzen Kapitel zu den kulturellen Beziehungen wünscht man sich eine weitergehende Auseinandersetzung mit den sehr spannenden untersuchten Fällen. Dies wäre jedoch vermutlich bereits an der konzisen Art osmanischer Staatsrats- und Gerichtsakten gescheitert, die eher Ergebnisprotokollen gleichen.

Mediterranean Encounters ist ein Werk, das auf der Basis von umfassender Quellenarbeit ein recht lebendiges Bild insbesondere der französisch-osmanischen Alltagsbeziehungen jenseits der großen Erklärungsansätze der älteren Forschung liefert. Dass phasenweise der Zusammenhang der Kapitel untereinander und die Editierung zu wünschen übrig lassen, sollte nicht den Blick auf den Gesamtwert dieses Werks verstellen. Den althergebrachten großen Erzählungen über die Andersartigkeit der islamischen Welt als auch jenen, die auf Ehrenrettung des Osmanischen Reichs abzielten, wird hier ein Stück Normalität in den transmediterranen Beziehungen entgegengestellt, die sich in Baugenehmigungen in Galata oder Pera, Klagen über säumige Schuldner und auch Razzien der selbsternannten Bürgerwehr in illegalen Bordellen Galatas manifestierte. Eine über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehende Frage ist allerdings, ob sich Historikerinnen und Historiker des östlichen Mittelmeers weiterhin an Max Weber, Fernand Braudel und Halil İnalcık abarbeiten sollten oder die Zeit nicht reif ist, neue Paradigmen zu erproben, die unserem heutigen Verständnis einer auf vielfältige Weise verflochtenen Welt gerechter werden.

Anmerkungen:
1 Zarinebaf bezieht sich insbesondere auf Brian A. Catlos / Thomas Burman / Mark Myerson (Hrsg.), The Sea in the Middle. The Mediterranean World, 650–1650, Oakland (im Erscheinen); und Julia Ann Clancy-Smith, Mediterraneans. North Africa and Europe in an Age of Migration, c. 1800 – 1900, Berkeley 2011.
2 Beispielsweise Edhem Eldem, Istanbul. From Imperial to Peripheralized Capital, in: ders. / Daniel Goffmann / Bruce Alan Masters (Hrsg.), The Ottoman City between East and West, Cambridge 1999, S. 135–206.
3 Beispielsweise Christoph K. Neumann, Der Sechste Munizipal-Bezirk von Istanbul, 1857–1912, in: Yavuz Köse (Hrsg.), Istanbul. Vom imperialen Herrschersitz zur Megalopolis. Historiographische Betrachtungen zu Gesellschaft, Institutionen und Räumen, München 2006, S. 351–375, mit Verweis auf die ältere Literatur.
4 Emre Aracı, Naum tiyatrosu. 19. yüzyıl İstanbulu'nun İtalyan operası, Istanbul 2010.