F. Bindernagel: Deutschsprachige Migranten in Buenos Aires

Cover
Titel
Deutschsprachige Migranten in Buenos Aires:. Geteilte Erinnerungen und umkämpfte Geschichtsbilder 1910–1932


Autor(en)
Bindernagel, Franka
Reihe
Studien zur Historischen Migrationsforschung (SHM) 34
Erschienen
Paderborn 2018: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Potthast, Historisches Institut, Universität zu Köln

Forschungen zu deutschen Migranten in Lateinamerika wurden lange Zeit nur aus der Perspektive des Nationalstaates untersucht, bis in die 1960er-Jahre standen sie meist unter dem Paradigma des “Deutschtums im Ausland” und wurden aus diesem Grund von jüngeren deutschen Historiker/innen eher gemieden. Andere Arbeiten befassten sich vorwiegend mit der politischen Seite der Migration.1 Kulturhistorische und globalgeschichtliche Zugänge eröffneten inzwischen jedoch auch neue Perspektiven, die in den letzten Jahren zu differenzierten Darstellung der deutschen Migrantengemeinden in Lateinamerika geführt haben.2 Die vorliegende Arbeit greift diese Ansätze auf, bezieht aber nicht nur die reichsdeutschen Migrant/innen und deren Nachkommen ein, sondern auch solche aus Österreich und der Schweiz. Die “geteilten Erinnerungen” und “umkämpften Geschichtsbilder”, die Franka Bindernagel untersucht, tragen daher nicht nur der sozio-politischen Diversität der deutschen Migrant/innen Rechnung, sondern beziehen auch die unterschiedlichen nationalen Diskurse ein, die für die Erinnerungskultur der Migrant/innen an ihre Herkunftsländer eine wichtige Rolle spielten. Sie analysiert die transnationalen Verflechtungen zwischen den deutschsprachigen Migranten in Buenos Aires und den in den Herkunftsländern Deutschland, Schweiz und Österreich-Ungarn existierenden Geschichtsbildern sowie, wenn auch weniger ausführlich, die sich verändernde Interpretation der Geschichte des Aufnahmelandes Argentinien. Untersuchungsgegenstände sind Bauwerke, insbesondere Denkmäler, Nationalfeiertage sowie verschiedene Medien. Als Quellengrundlage für die Analyse dient hauptsächlich die umfangreiche und diversifizierte deutschsprachige Presse in Buenos Aires, insbesondere das liberale “Argentinische Tageblatt” sowie die konservativ-nationalistische “Deutsche La Plata Zeitung”. Hinzu kommen Festschriften und andere Erinnerungsschriften sowie einige Interviews. Der Zeitraum von 1910 bis 1932 ist sinnvoll gewählt und umfasst eine Zeit, in der Argentinien wirtschaftlich prosperierte, aber auch durch Massenmigration und Modernisierung hervorgerufene politische und soziale Veränderungen zu bewältigen hatte. Er endet mit politischen Veränderungen beiderseits des Atlantiks, die durch den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und einem auf die Weltwirtschaftskrise folgenden Militärputsch in Argentinien ausgelöst wurden.

Die Darstellung beginnt nach der Einleitung mit dem Beitrag der deutschen, schweizerischen und österreichischen Gemeinden zu den Jahrhundertfeierlichkeiten der argentinischen Unabhängigkeit 1910. Hier offenbarte sich eine Konkurrenz zwischen den drei Gruppen, aber auch eine Diskrepanz zwischen dem Geschichtsverständnis von Akteuren im Deutschen Reich bzw. in Österrreich-Ungarn und den Migranten in Argentinien. Durch den Bau eines Denkmals wollten die Deutschen die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern und den Beitrag der Deutschen zur Entwicklung Argentiniens sichtbar machen. Der errichtete monumentale Brunnen mit dem Motiv einer freien, kraftvollen und bodenständigen Bauernbevölkerung, war allerdings nicht nur für Deutschland bereits überholt, sondern hatte auch wenig mit den argentinischen Verhältnissen gemein. Die deutschen Migranten in Buenos Aires waren zumeist urbane Mittelständler. Das österreichisch-ungarische Komitee hingegen realisierte eigene Vorstellungen, nämlich eine elegante moderne Wettersäule, mit der die lokale Bevölkerung und die Stadtverwaltung allerdings ebenfalls wenig anfangen konnten. Der schweizerischen Gemeinde gelang als einziger der Brückenschlag zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland durch einen Verweis auf die republikanischen Traditionen beider Staaten.

Im Unterschied zu Europa, wo die Errichtung von Denkmälern und die damit verbundenen Geschichtsbilder zumeist nur im nationalen Rahmen stattfanden, spielte sich die Erinnerungskultur der Migranten in einem multinationalen Rahmen ab, in dem die verschiedenen Gruppen auch in Rivalität zueinander standen. Dies wurde im Verlauf des Ersten Weltkrieges besonders deutlich. Noch während des Krieges hatte die deutsche Gemeinde die Errichtung eines Kriegerdenkmals auf dem deutschen Friedhof beschlossen. Anlass hierzu gab 1914 das nahe den Falkland- bzw. Malvineninseln von den Briten vernichtete Geschwader unter Admiral Maximilian Graf Spree, jedoch sollte auch das Andenken an andere deutsche Soldaten, die aus Buenos Aires stammten, geehrt werden. Das Projekt kam allerdings erst nach 1918 in Fahrt, und 1920 gab der Bonaerenser Kriegerverein das Denkmal in Deutschland in Auftrag. Die Grundsteinlegung erfolgte im Januar 1921, am selben Tag enthüllten die Briten in der englischen Kirche eine Gedenktafel für ihre Toten. Diese Konkurrenz, die auch verschiedene Deutungen des Geschehenen in sich barg, setzte sich in den kommenden Jahren fort, zumal der britische und der deutsche Friedhof aneinander grenzen.

Die jeweiligen Nationalfeiertage der Herkunftsländer hingegen wirkten für die politisch, sozial und landsmannschaftlich diversifizierte deutsche und österreichisch-ungarische Gemeinde zunächst einigend, auch wenn die von der preußisch-deutschen Geschichte dominierten Feierlichkeiten nicht bei allen Migranten anschlussfähig war. So richteten verschiedene deutsche Vereine seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine gemeinsame Kaiserfeier im Januar aus, die auch von Vertretern der argentinischen Politik besucht wurden. An diesem Tage war es den deutschen Migranten auch erlaubt, ihre Häuser mit der Reichsflagge zu schmücken. Erst ab 1913 regte sich angesichts des 25-jährigen Thronjubiläums Kaiser Wilhelms II. Kritik daran, einen undemokratischen Herrscher zu ehren, der z.B. die Sozialisten aus Deutschland vertrieben hatte. Auch die Migranten aus Österreich-Ungarn feierten Monarchengeburtstage, während für die Schweizer die Feiern zum “Bundestag” am 1. August der zentrale Gedenktag war.

Der Erste Weltkrieg, der in den Einwanderergesellschaften Lateinamerikas heftig debattiert wurde3, ließ die politischen Konfrontationen zwischen konservativ-monarchischen und republikanisch-sozialistischen sowie liberalen Positionen voll zum Tragen kommen. Es folgten hitzige, oft aggressive Auseinandersetzungen um die Deutung des Krieges und des Kaiserreiches. Auch der Fahnenstreit schwappte auf die deutsche Gemeinde in Argentinien über, wie Bindernagel an mehreren Beispielen zeigt. Die deutschsprachigen Zeitungen in Buenos Aires griffen die Debatten z.B. zur Kriegsschuld der Weimarer Republik auf (S. 183). Allerdings sammelten sich nun die Republikaner und Sozialisten stärker und hinterfragten das antirepublikanische Geschichtsbild der rechten Vereine. Hierzu gründete sich 1921 eigens eine Deutsch-Republikanische Vereinigung, die die republikanischen Feiertage, vor allem den Verfassungstag am 11. August, organisierte. Ein wichtiges Ritual hierbei war das Rezitieren politischer Gedichte. Ab 1928 nahmen die Feiern, ähnlich wie in Deutschland, eher geselligen Charakter an, die Akzeptanz stieg und ab 1930 ging man dazu über, auch die österreichischen Migranten einzuladen.

Die Konflikte zwischen konservativ-monarchistisch und liberal bzw. sozialistisch gesinnten deutschen Migranten beruhigten sich im Laufe der 1920er-Jahren, unter anderem durch die Ankunft neuer Migranten aus der Weimarer Republik. Diese diversifizierten und belebten die politische und kulturelle Szene, vor allem durch eine stärkere landsmannschaftliche Ausrichtung, auch wenn die Konflikte an den verschiedenen Gedenk- und Feiertagen regelmäßig aufflammten. Die Autorin zeigt allerdings auch auf, dass die Mehrheit der deutschsprachigen Migrant/innen, deren Zahl sich in den 1920er-Jahre verdoppelte, den historisch-politischen Feiern fernblieb (S. 231). Letztere Beobachtung wird leider nicht weiter ausgeführt. So hätte man gern gewusst, was dies für die Repräsentativität der untersuchten Erinnerungskultur bedeutet und ob die abwesenden Migrant/innen möglicherweise andere Formen der Erinnerung an ihr Herkunftsland pflegten. Andererseits erwähnt Bindernagel, dass sich in der Folge des Ersten Weltkrieges auch ein Bewusstsein entwickelte, zu einer größeren deutschen Diaspora zu gehören, vor allem auch durch Kontakte zu der in Südbrasilien lebenden deutschstämmigen Bevölkerung. Diese transnationalen Beziehungen zwischen deutschstämmigen Migranten werden in der Studie allerdings nur summarisch aufgezählt und verdienen weitere Untersuchungen. Sie wurden sicherlich befördert durch Veränderungen in der Medienkultur in den 1920er-Jahren, als Radio und Film transnationale Bezüge dadurch schufen, dass deutsche, französische und US-amerikanische Kinofilme in Buenos Aires gezeigt wurden.

Neben Interpretationen der Geschichte des Herkunftslandes entwickelten die Migrant/innen auch solche über diejenige des Aufnahmelandes, die sich, wie auch Studien zu den USA gezeigt haben, je nach politischer Konjunktur und lokalen Gegebenheiten gegenseitig beeinflussten. Rassistische und gewaltverherrlichende Positionen, wie sie von einigen deutschen Migranten, unter ihnen der renommierte Anthropologe Robert Lehmann-Nitsche, in den späten 1920er-Jahren vertreten wurden, fanden auch in der argentinischen Gesellschaft und Politik ein Pendant und konnten sich dadurch umso stärker in die kollektive Meistererzählung der Deutschen in Buenos Aires einschreiben. Diese Beobachtung ist gleichzeitig ein weiteres Argument dafür, die lange tradierte Vorstellung der deutschsprachigen Migranten als einer weitgehend abgeschlossenen und homogenen “Gemeinschaft” von “Auslandsdeutschen” ad acta zu legen. Dieses Bild resultierte auch, wie Bindernagel darlegt, aus der Dominanz bürgerlich-rechter Kreise in vielen Vereinen der deutschsprachigen Gemeinde, während Gruppierungen, bei denen andere politische und gesellschaftliche Programmatiken im Vordergrund standen, wie z.B. sozialistische oder gewerkschaftliche Vereine, bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Diese vertraten ein kritischeres Bild des kaiserlichen Deutschlands und verteidigten vehement die Weimarer Republik. Sie prägten damit die Erinnerungskultur der Gemeinde ebenso wie die bürgerlichen Vereine und griffen aktiv in die Deutung der politischen Geschehnisse in der alten wie der neuen Heimat ein, wie die Autorin nicht zuletzt an vor allem im Zuge des Ersten Weltkrieges zunehmenden Auseinandersetzungen um die Nationalfeiertage belegt. Damit verweist die Arbeit von Franka Bindernagel nicht nur auf die Vielfalt der kulturellen und politischen Milieus der deutschsprachigen Migranten in Buenos Aires, sondern zeigt im Fazit auch Forschungslücken auf, die die Vorstellungen über deutsche Migrantengemeinden nicht nur in Argentinien erweitern werden. Diese liegen vor allem in den individuellen Migrationserfahrungen, die in den untersuchten öffentlichen Akten und Monumenten der Erinnerung nicht thematisiert werden.

Anmerkungen:
1 Walter Bernecker / Thomas Fischer, Deutsche in Lateinamerika, in: Klaus J. Bade (Hrsg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., München 1992; Holger Meding (Hrsg.), Nationalsozialismus und Argentinien. Beziehungen, Einflüsse und Nachwirkungen, Frankfurt a.M. 1995. Die klassischen Darstellungen zur deutschen Einwanderung in Argentinien stammen zumeist von US-amerikanischen oder französischen Autor/innen wie Ronald Newton (1977), Anne Saint Sauveur-Henn (1995) oder Jean Pierre Blancpain (1994).
2 H. Glenn Penny / Stefan Rinke, Germans abroad. Respatializing Historical Narrative, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015) S. 173–196.
3 Stefan Rinke, Im Sog der Katastrophe. Lateinamerika und der Erste Weltkrieg, Frankfurt 2015.