I. Matauschek: Lokales Leid - Globale Herausforderung

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Titel
Lokales Leid - Globale Herausforderung. Die Verschickung österreichischer Kinder nach Dänemark und in die Niederlande im Anschluss an den Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Matauschek, Isabella
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sonja Matter, Historisches Institut, Universität Bern

Wie wirkten sich Kriege auf Kinder aus? Was bedeutete es für Kinder, in Nachkriegsgesellschaften aufzuwachsen, die geprägt waren von Entbehrungen vielfältigster Art? Und welche spezifischen Hilfsmaßnahmen wurden für Kinder entwickelt? Diese Fragen stehen erst in jüngster Zeit vermehrt im Fokus historischer Forschungen.1 Die Studie von Isabella Matauschek, mit der sie am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert wurde, widmet sich diesem Themenkomplex: Sie untersucht eine humanitäre Aktion im Nachgang des Ersten Weltkrieges, die weitreichende Dimensionen angenommen hatte: Bis 1924 reisten, gemäß offizieller Statistik, 400.000 Kinder aus Österreich – vorwiegend Wiener Kinder – zur Erholung in andere europäische Länder. Matauschek fokussiert sich auf die Verschickung nach Dänemark und in die Niederlande und zielt darauf, „das Erleben und Erinnern der verschickten Kinder und Jugendlichen mit dem von außen erfolgten Zugriff auf ihr Leben – fürsorgerisch, politisch, propagandistisch – in Verbindung zu bringen.“ (S. 15)

Die Studie baut auf vielfältigem Untersuchungsmaterial auf: auf umfangreichen Quellenbeständen aus dänischen, niederländischen und österreichischen Archiven, auf Oral History-Interviews wie auch auf Spielfilmen und autobiographischen Quellen. Die in der Arbeit gewählte vergleichende Perspektive ermöglicht es, die unterschiedlichen Zielsetzungen der philanthropischen Akteursgruppen in Dänemark und der Niederlande aufzuzeigen. Die dänische Hilfsaktion entstand aus dem humanitären Engagement von Personen aus dem liberalen Kopenhagener Bürgertum, entwickelte sich aber innerhalb kurzer Zeit zu einer Aktion von nationaler Tragweite: Bis 1924 kamen ungefähr 25.000 österreichische Kinder – die vielfach an Unterernährung litten – zur Erholung nach Dänemark, wobei die Nachfrage seitens dänischer Pflegefamilien die Zahl der vermittelten Kinder bei Weitem übertraf. Wie Matauschek überzeugend argumentiert, wurde die Aktion vor allem deshalb zu einem Großerfolg, weil sie in der durch soziale Spannungen und Umbrüche gekennzeichneten dänischen Nation integrativ wirkte: Das Engagement für die Wiener Kinder galt als Beweis für die fortdauernde Gültigkeit spezifisch bürgerlicher liberaler Werte und ermöglichte es Dänemark, sich als „hochstehende Nation“ zu positionieren, die den Armen und Notleidenden dieser Welt zu Hilfe eilt (S. 97). Demgegenüber gestaltete sich die Aufnahme von Kindern in die Niederlande nicht als national-integratives Projekt. Vielmehr war eine protestantische, jüdische, katholische, sozialdemokratische und liberale Hilfsaktion aktiv, die zusammen 65.000 Kinder aus Österreich, wiederum vornehmlich aus Wien, in die Niederlande brachte. Die einzelnen Aktionen standen teilweise in starker Konkurrenz zueinander und versinnbildlichten die gesellschaftliche Segregation der niederländischen Gesellschaft entlang unterschiedlicher konfessioneller und politischer Milieus. Die niederländischen und dänischen Hilfsaktionen teilten allerdings eine zentrale Gemeinsamkeit: ein romantisiertes Wienbild. Wien galt als Metropole, die sich – vor den Schrecken des Ersten Weltkrieges – als „fröhliche, leichte, beschwingte, Walzer tanzende Stadt der Hochkultur“ präsentiert hatte (S. 85). Die Hilfe an die Wiener Kinder stellte daher nicht zuletzt den Versuch dar, wie Matauschek überzeugend darlegt, an der Wiederherstellung der abendländischen Kultur mitzuwirken.

Die individuellen Verschickungserfahrungen variierten stark: Einerseits konnten sie zu prägenden Erfahrungen werden, wie am Beispiel des 1910 geborenen Raimund Blaschka aufgezeigt wird. Er eignete sich innerhalb kurzer Zeit nicht nur die dänische Sprache an, sondern auch den bürgerlichen Habitus seiner Pflegefamilie, und identifizierte sich Zeit seines Lebens als Däne – auch dann, als er die meiste Zeit in Wien lebte. Andererseits positionierten sich Zeitzeugen weitgehend indifferent und maßen der Verschickung lediglich hinsichtlich der Berufswahl eine gewisse Bedeutung zu. Matauschek identifiziert unterschiedliche Faktoren, die für die weitere Bedeutung der Verschickungserfahrung ausschlaggebend waren: Zentral war das Alter und die biographische Situation zum Zeitpunkt der Verschickung, wie auch die Länge des Aufenthaltes, der zwischen drei Monaten und mehreren Jahren variieren konnte. Auch ein sozialer Statuswechsel spielte eine Rolle: Vielfach führte die Verschickung zu einem sozialen Aufstieg, mit veränderten Bildungs- und Erziehungsmöglichkeiten. Je größer die emotionalen Verluste und Defizite in Folge des Krieges waren, desto wichtiger wurde die Erfahrung der positiven Aufnahme im Gastland, so Matauschek resümierend (S. 281)

Die Studie von Isabella Matauschek ist in verschiedener Hinsicht innovativ. Insbesondere die Kombination der unterschiedlichen Forschungsmethoden erweist sich als gewinnbringend: Mittels transnationaler Forschungsansätze wie auch hermeneutischer Analyse von Ego-Dokumenten und Interviews gelingt es Matauschek, sowohl die politischen Implikationen von Kinderverschickungen, wie auch deren Bedeutung für die individuelle Identitätsbildung aufzuzeigen. Sie weist einerseits auf die Spezifika der Verschickungserfahrung hin: Anders als Kinder, die im nationalen Fürsorge- und Vormundschaftskontext fremdplatziert wurden und unter diesen Fürsorgemaßnahmen vielfach schwer litten2, erlebten die verschickten Kinder ihren Aufenthalt in Dänemark und den Niederlanden mehrheitlich positiv (S. 262). Matauschek analysiert sorgfältig, wie die Gastländer – in denen viele einen Überfluss an Essen (und manchmal auch an „Herzenswärme“) erlebten – in der Erinnerung der ehemals verschickten Kinder vielfach nostalgisch verklärt wurden. Andererseits verdeutlicht die Studie auch, wie „Familie“ – gerade im Versuch, nach dem Ersten Weltkrieg die Ordnungsverhältnisse wiederherzustellen – über nationale Grenzen hinweg neu ausgehandelt, wie die Aufnahme von Gastkindern in den Dienst nationaler Konstruktionsprozesse gestellt wurde und die humanitäre Hilfe divergierende politische Funktionen erfüllte. Wenig thematisiert wird dagegen die Bedeutung der internationalen Ebene. So argumentiert Matauschek, dass die beginnende Internationalisierung in der humanitären Hilfe „nicht auf internationalen Organisationen und auf internationaler Zusammenarbeit“ aufbaute, sondern „auf Mustern lokaler, traditioneller Philanthropie […], die in Zusammenarbeit mit anderen lokalen und/oder nationalen Aktionen internationalisiert“ wurde (S. 70). Zwar wird überzeugend ausgeführt, dass das Engagement von national verfassten zivilgesellschaftlichen Organisationen für die Wiener Kinder essentiell war. Allerdings hätte beispielsweise die Auseinandersetzung mit der 1919 gründeten Save the Children-Organisation aufzeigen können, dass internationale Organisationen durchaus auch eine wichtige Rolle in der Ausgestaltung des humanitären Aktionsfeld für Kinder spielten und nicht zuletzt das Engagement des neu gegründeten Völkerbundes im Bereich der Kinderrechte entscheidend prägten.3 Diese Bemerkung ist weniger als Kritik an der Studie zu verstehen, als vielmehr als Hinweis auf mögliche weitere Forschungsfelder, in denen nationale, transnationale und internationale Forschungsperspektiven eng verknüpft werden, um die historische Formation von humanitären Aktionen zum Schutz von kriegsbetroffenen Kindern zu analysieren.

Isabella Matauschek ist, wie in Vorbemerkungen von verschiedenen ihr nahe stehenden Personen ausgeführt wird, nach der Fertigstellung der Dissertation schwer erkrankt und viel zu früh verstorben. Dass die Arbeit nun trotzdem in publizierter Form vorliegt, ist sehr dankenswert. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zu mehreren Forschungsfeldern: zur Geschichte der Kindheit, zur Nachgeschichte des Ersten Weltkrieges in Österreich, Dänemark und den Niederlanden und zur Geschichte der humanitären Hilfe im frühen 20. Jahrhundert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Alexander Denzler / Stefan Grüner / Markus Raasch (Hrsg.), Kinder und Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2016.
2 Vgl. Michaela Ralser u.a., Heimkindheiten. Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol und Voralberg, Innsbruck 2017.
3 Vgl. Dominique Marshall, International Child Saving, in: Paula S. Fass (Hrsg.), The Routledge History of Childhood in the Western World, London 2013, S. 469–490; Eckhardt Fuchs, Children’s Rights and Global Civil Society, in: Comparative Education 43/3 (2007), S. 393–412.