C. Kienemann: Der koloniale Blick gen Osten

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Titel
Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871


Autor(en)
Kienemann, Christoph
Erschienen
Paderborn 2018: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Häfner, Marburg

Finden Historiker/innen das imaginäre (und im Zweiten Weltkrieg auch sehr reale) Zentrum des deutschen Kolonialismus nicht etwa in Afrika und dem Pazifik, sondern vielmehr jenseits der Ostgrenze des Reiches? Diese und ähnliche Fragen haben in den letzten zwei Jahrzehnten die Forschung zum Kolonialismus deutscher Provenienz immer wieder bewegt und zu heftigen Kontroversen geführt. In jener Debatte verortet sich Christoph Kienemann mit seiner Dissertation. Er möchte die Frage klären, ob es sich bei den im Kaiserreich nachweisbaren Diskursen zu Osteuropa um im engeren Sinne koloniale Diskurse handelte und wenn ja, welchen Einfluss sie auf politische Entscheidungen und Praktiken, aber auch auf die Konstituierung einer spezifischen nationalen Identität der Deutschen hatten (S. 11). Als Quellengrundlage dienen ihm wissenschaftliche Veröffentlichungen aus verschiedenen Fachdisziplinen, Artikel aus im Bürgertum verbreiteten Zeitschriften und visuelle Quellen wie zum Beispiel Landkarten. Damit werden Texte analysiert, die „in verschiedenen gesellschaftlichen und konfessionellen Gruppen verbreitet waren“ (S. 24), auch wenn beispielsweise Publikationen aus dem Umfeld der Sozialdemokratie oder auch der Frauenbewegung nicht berücksichtigt werden.

Für die Analyse dieses dennoch diversen Quellenkorpus bedient Kienemann sich eines Repertoires an Werkzeugen, das er sowohl den Theoriebeständen der Postcolonial Studies als auch der Diskursanalyse und der historischen Stereotypenforschung entlehnt (Kap. 2). Dass er für sein in erster Linie diskursanalytisch orientiertes Vorgehen insbesondere auf die Arbeiten von James Blaut und David Spurr zurückgreift, erscheint einleuchtend, haben doch beide Autoren prägnant die in diskursiven Formationen des Imperialen bzw. Kolonialen anzutreffenden Topoi systematisch erschlossen. Kienemanns Auseinandersetzung – insbesondere mit der Spurr’schen Tropologie fällt allerdings knapp aus. Als Leser hätte man sich eine kurze Einführung in die von Spurr herauspräparierten Tropen, unter anderem Überwachung, Negation oder Naturalisierung gewünscht. Ihr bloßes Aufzählen in der Fußnote überrascht auch deshalb, da in den folgenden Kapiteln immer wieder auf sie Bezug genommen wird.

Von einer „kolonialen Interpretation der deutschen Osteuropawahrnehmung“ (S. 48) könne laut Kienemann gesprochen werden, wenn sich in den betreffenden Diskursen Konstruktionen kolonialer Alterität und Identität sowie eines kolonialen Raumes finden ließen. Diese weist er in den Kapiteln drei und vier seiner Studie nach. Mittels eines Close Readings seiner Quellen gelingt es dem Autor (Kap. 3 und 4), überzeugend zu belegen, dass Wahrnehmungen des osteuropäischen Raumes, seiner Menschen und deren vermeintlichem kulturellen und ökonomischen „Entwicklungsstand“ denselben Logiken des „Othering“ und der Hierarchisierung entlang spezifischer Kulturstufen folgten, wie sie auch im Kontext kolonialer Diskurse zu außereuropäischen Gebieten zu finden waren. Um die Kolonisierung des osteuropäischen Raumes diskursiv zu legitimieren, wurde die völkerrechtliche Konstruktion des „leeren Raumes“ (terra nullius) – wenn auch unter anderen Vorzeichen als in afrikanischen Gebieten – ebenso bemüht, wie die Anwesenheit deutscher Minderheiten in Ost- und Südosteuropa seit dem Mittelalter. Die Idee jener deutschen Siedler/innen als „Kulturdünger“ deutet Kienemann mit Blaut als Spielart eines eurozentrischen Diffusionismus‘. Die Siedler/innen, verstanden als Exponenten des kulturell und politisch überlegenen westeuropäischen „Zentrums“, erfüllten in ihrer diskursiven Rolle die Funktion der Bringer/innen der „Zivilisation“ in die nicht nur geographisch, sondern auch zivilisatorisch vermeintlich weit entfernte osteuropäische „Peripherie“. Zu diesem Bild gesellte sich eine – wie Kienemann es nennt – „Failed State“-Rhetorik. Sie basierte auf der Annahme, dass die Staaten des Ostens nicht „Herr über ihr Staatsgebiet“ (S. 180) seien. Dieses Narrativ verlieh den angeblichen deutschen Leistungen in Osteuropa (so z.B. der Verbreitung des Magdeburger Rechts ab dem 13. Jahrhundert oder der Kultivierung vermeintlich brachliegenden Landes) die Weihe einer Art „civilising mission“. All jene diskursiven Versatzstücke schlossen die Menschen Osteuropas aus dem Prozess der Wissensgenerierung und den Diskurs über Osteuropa aus. Die Ausführungen in diesen Kapiteln sind insgesamt überzeugend. Kienemanns Beobachtung einer engen Verzahnung von binneneuropäischem und überseeischem Kolonialdiskurs – mit Sebastian Conrad spricht er von einer „kolonialen Globalität“ (S. 237) – erscheint plausibel. An manchen Stellen wirkt die Darstellung jedoch etwas einseitig. So vielstimmig die Entwürfe eines chaotischen, rückständigen Raumes im Osten Europas auch sein mögen, muss doch auch immer ein diskursiver Nebenstrang mitgedacht werden, in dem Osteuropa positiv und als Teil Europas konnotiert wurde und der sich beispielsweise in der russophilen Literatur eines Rainer Maria Rilke zeigte.1 Dieser Einwand muss freilich an dem Befund des Autors nichts ändern, illustriert aber, dass die Bezüge zu Osteuropa sich in bestimmten Fällen nicht in das dichotomische Korsett von „eigen-fremd“ bzw. „zivilisiert-barbarisch“ zwängen lassen.

Im fünften Kapitel macht Kienemann in drei Abrissen die Erkenntnisse seiner Diskursanalyse für Neuperspektivierungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges sowie der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa fruchtbar. Sowohl Ludendorffs Vorhaben während des Ersten Weltkrieges in den eroberten Gebieten des Baltikums und Osteuropas (Ober-Ost) eine Art kolonialen Militärstaat zu errichten als auch die genozidale Expansionspolitik der Nationalsozialisten 25 Jahre später in Richtung Russland interpretiert Kienemann vor der Annahme einer mehr oder weniger ungebrochenen Wirkmacht kolonialer Osteuropavorstellungen des Kaiserreiches. Ludendorff und Hitler hätten – freilich auf sehr unterschiedliche Weise – nichts anderes getan als versucht, ein lange tradiertes Imaginäres in eine koloniale Praxis zu übersetzen, indem sie den osteuropäischen „Möglichkeitsraum“ in einen „konkreten politischen Betätigungsraum“ (S. 247) verwandelten. So zutreffend das für Ludendorffs Plan im Einzelnen noch sein mag – spätestens mit Blick auf den Krieg gegen die Sowjetunion ab 1941 drängen sich Zweifel auf, ob hier das Kontinuitätsnarrativ nicht doch an seine Grenzen stößt. So stehen fabrikmäßiger, staatlich gewollter und organisierter Völkermord und Generalplan Ost doch ein gutes Stück entfernt von der patriarchal-zivilisierungsmissionarisch motivierten Gewaltherrschaft deutscher Kolonialbeamter am Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese konnte zwar auch – wie der Genozid an den Herero und Nama zeigte – in der Vernichtung ganzer Ethnien gipfeln. Allerdings erscheinen die konkreten Motivlagen (ins Genozidale mündender Antisemitismus versus biologistisch konturierter Rassismus) sowie die Rolle staatlicher Institutionen oder der Öffentlichkeit in beiden Fällen so verschieden voneinander, dass Kienemanns These von der „extreme[n] Weiterentwicklung kolonialer Denkmuster“ (S. 265) im Nationalsozialismus nicht völlig überzeugen kann.2 In seinem letzten Fallbeispiel zeichnet der Autor die Diskurse um die Vertreibung der Deutschen aus den Territorien Ost- und Mitteleuropas nach 1945 nach und erkennt in ihnen eine fundamentale Dekolonisationserfahrung. In ihr hätten dennoch viele Elemente des kolonialen Osteuropa-Diskurses, bspw. die Idee eines von der Kulturarbeit der ehemaligen Siedler/innen geordneten Raumes, der nun dem abermaligen Chaos überantwortet worden sei, bis weit in die Bundesrepublik hinein überlebt. Noch auf dem ersten Kongress der „Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften“ im Jahre 1951 wurde die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa als eine immense Gefahr für das „Abendland“ bezeichnet, das damit die Hüter seines Grenzlandes verloren habe (S. 270). Vor dem Hintergrund des beginnenden „Kalten Krieges“ änderte sich der „Osteuropa“-Diskurs insofern, als dass er sich an die Zeitumstände anzuschmiegen verstand und als Brücke dienen sollte, um die Besiegten des Zweiten Weltkrieges in eine als „Abendland“ imaginierte, westliche Weltordnung einzufügen.

Im sechsten Kapitel fasst Kienemann die zentralen Ergebnisse seiner Dissertation noch einmal zusammen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Konstruktion einer spezifisch deutschen Kolonialidentität, die sich nicht nur auf Überseeterritorien, sondern auch auf den europäischen Osten erstreckte, eines der markantesten Merkmale des deutschen Identitätshaushaltes im 19. und 20. Jahrhundert darstellte. Dem kann sich der Rezensent nach der Lektüre des sehr leserfreundlich verfassten und anregenden Buches unumwunden anschließen. Für die weiteren Diskussionen nach den Brüchen und Kontinuitäten des deutschen Kolonialdiskurses sowie dessen Wechselwirkungen mit konkreten imperialen Praktiken hat Kienemann einen wichtigen, empirisch fundierten Beitrag geleistet.

Anmerkungen:
1 Zu den russophilen Tendenzen im Werk Rilkes aber auch Thomas Manns siehe Alexei Rybakov, Deutsche Russophilie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Rußland in den Werken von Rainer Maria Rilke und Thomas Mann, in: Forum für osteuropäische Zeit- und Ideengeschichte 12 (2008), S. 13–28.
2 Hierzu nach wie vor empfehlenswert der auch von Kienemann erwähnte Text von Gerwarth und Malinowski; vgl. Robert Gerwarth / Stephan Malinowski, Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: GG 33 (2007), S. 439–466.