W. Egner: Protektion und Souveränität

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Titel
Protektion und Souveränität. Die Entwicklung imperialer Herrschaftsformen im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Egner, Wolfgang
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte 43
Erschienen
Anzahl Seiten
467 S.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Kleinschmidt, University of Tsukuba

Diese von der Universität Konstanz angenommene Dissertation Wolfgang Manfred Egners thematisiert das Begriffsverhältnis zwischen Protektion und Souveränität. Egner geht von der Erwartung aus, dass Souveränität als legitime Befugnis zu autonomem Regierungshandeln der Protektion als Einflussnahme von außen in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staats widerspricht. Die Genese dieses Widerspruchs versucht er an den Beispielen der Übernahme von Herrschaft in den osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina durch die österreichisch-ungarische Regierung sowie durch die britische Regierung in dem ebenfalls zum Osmanischen Reich gehörenden Zypern im Jahr 1878 zu beschreiben (S. 78–318). Er bestimmt die österreichisch-ungarische und die britische Herrschaft über Bosnien-Herzegowina respektive Zypern als Protektoratsträgerschaft. Vorgeschaltet sind eine Einleitung zur Methode, ein Einführungskapitel zur allgemeinen Geschichte des Schutzbegriffs (S. 1–19), verbunden mit Darlegungen zum Wandel der Typen der Sicherheitsrezipienten von Personengruppen zu Staaten sowie zu dem „Protektorat“ über den souveränen Staat der Ionischen Inseln, 1815–1864 (S. 20–77). Abgeschlossen wird die Studie mit Übersichten über die sogenannten „völkerrechtlichen Protektorate“ um 1900 (S. 319–372), das „Ende der Schutzherrschaft“ seit dem Ersten Weltkrieg (S. 373–405) und einer Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 406–431). Angehängt sind ein Quellen-und Literaturverzeichnis (S. 437–464) und ein Personenregister (S. 465–467).

Das Thema gehört zu den gut erforschten Gegenständen der Diplomatiegeschichte. Die dafür einschlägigen Quellen sind seit langem bekannt. Deswegen geht Egner sein Thema mit einer Forschungsfrage an, die bisher in der Geschichtswissenschaft nur exemplarisch 1 und in der Politikwissenschaft nur methodisch unzureichend, Quellenkritik ausblendend, summarisch und der institutionsgeschichtlichen Faktografie verhaftet 2 bearbeitet worden ist. Die Frage betrifft die Bedingungen und Verfahrensweisen der Differenzierung des Schutzbegriffs in eine allgemeine, ethisch oder machtpolitisch definierte, und eine engere, juristische, an die Herrschaftsinstitution des Protektorats geknüpfte Komponente im neuzeitlichen Europa. Die Frage ist grundsätzlich relevant, denn es geht um einen Vorgang, der für die Bestimmung der Kriterien, anhand derer die Souveränität von Staaten in zeitgenössischer Perspektive anerkannt wurde, zentral war. Durch diesen Vorgang klinkte Europa sich partiell aus dem in der Welt sehr weit verbreiteten, im allgemeinen Naturrecht wurzelnden Gebot der apriorischen Anerkennung der Souveränität von Staaten sowie der Bereitstellung von Sicherheit und Schutz durch Herrschaftsträger aus und reduzierte im Kontext des Protektorats als Herrschaftsinstitut die Rede vom Schutz auf politische Propaganda. Die Studie beinhaltet einige wertvolle Beobachtungen, etwa zur Praxis der britischen Regierung, die sich schon in den 1870er-Jahren nicht bloß mit den in Verträgen niedergelegten Rechtstiteln begnügte, sondern Präsenz durch zivile Verwaltung und reguläre Streitkräfte anstrebte oder zu den Bedingungen der Entstehung des britischen „Protektorats“ über den Staat der Sieben (Ionischen) Inseln im Jahr 1815. Gleichwohl sind drei Punkte zu kritisieren: der Mangel an Bereitschaft zur Suche nach neuen Quellen, der Verzicht auf Verwendung eines in den Quellen reflektierten Souveränitätsbegriffs und die Ausgrenzung der in die römische Antike zurückreichenden Tradition des mit dem Protektorat als Herrschaftsinstitut vergesellten Okkupationsbegriffs.

Die Kapitel über die Ionischen Inseln und die Berliner Konferenz von 1878 kommen fast ohne archivalische Quellen aus, auch die darin herangezogenen Archivbestände gehören zum Standardrepertoir der einschlägigen diplomatiegeschichtlichen Forschung. Nur eine einzige türkische Quelle wird berücksichtigt, sogar in Kontexten, in denen Befindlichkeiten und Wahrnehmungen des Sultans hauptsächlich auf der Grundlage von Berichten britischer und österreichisch-ungarischer Diplomaten besprochen werden. Egner unterlegt zudem seinem Text den breit ausgefächerten Souveränitätsbegriff des Politikwissenschaftlers Stephen Krasner.3 Krasner hatte jedoch seine Souveränitätstheorie im Kontext der Begründung seiner Kritik an bestimmten politischen Strategien des späteren 20. Jahrhunderts formuliert. Diese Strategien widersprachen seiner Ansicht nach grundsätzlich, d. h. auch in Bezug auf das 19. Jahrhundert, dem Bekenntnis zur Respektierung der Rechtsgleichheit souveräner Staaten. Denn sie verbanden das formalrechtliche Verbot von Einflussnahmen von außen mit politischen und wirtschaftlichen Interventionen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Doch diese Kritik geht gerade an der Praxis der Errichtung von Protektoraten während des 19. Jahrhunderts vorbei, denen die Protektoratsträger nur eingeschränkte Souveränität zugestehen zu dürfen glaubten. Die Protektoratsträger gaben daher vor, dass die Errichtung von Protektoraten im Einklang mit dem internationalen Recht stehe.

Viel Raum verwendet Egner auf seine Konstruktion einer „Okkupation in Friedenszeiten“, die der österreichisch-ungarische Außenminister Gyula Andrássy erfunden und mit der Formel „occupé et administré“ ausgedrückt haben soll. Mit diesem Begriff habe Andrássy einen Ausweg aus dem Dilemma der habsburgischen Diplomatie gewiesen, die einerseits die osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina der Kontrolle des Sultans habe entreißen, andererseits diese Gebiete nicht habe durch Krieg militärisch besetzen wollen. Stattdessen habe er die Kosten für die Übernahme der Herrschaftsgewalt niedrig halten wollen. So habe Andrássy zunächst bilateral mit der türkischen Regierung sowie dann auch multilateral auf dem Berliner Kongress von 1878 unter Zugrundelegung des Rechtsbegriffs der occupatio bellica Regelungen für eine formalrechtlich befristete, jedoch nichtkriegerische Besetzung der Gebiete vereinbart, die die Souveränität des Sultans unangetastet ließ. Dieser Vorgang, der auf dem Berliner Kongress verabredet worden sei, gilt Egner als militärische und verwaltungstechnische „Okkupation in Friedenszeiten“. Die an dem Kongress beteiligte britische Regierung habe diese Figur später im selben Jahr als Modell für ihre „Okkupation“ Zyperns verwendet. Im folgenden Jahrzehnt sei sie dann zum Grundsatz der Expansion europäischer Kolonialherrschaft geworden. Dabei ist Egner sich des Umstands bewusst, dass von einer solchen „Okkupation in Friedenszeiten“ als Rechtsbegriff in den Quellen nirgends die Rede ist, sie in keinem Vertrag festgeschrieben wurde. Er bedauert diesen Umstand wiederholt und schreibt ihn der Inkompetenz der Diplomaten und Juristen zu, die sich an Krasners Distinktionen nicht hätten halten wollen. Hingegen hätten Juristen, zum Entsetzen der Diplomaten, darauf bestanden, dass auch nach der „Okkupation“ Bosniens und der Herzegowina sowie Zyperns die Souveränität des Sultans über diese Gebiete fortbestanden habe. Bei seiner Konstruktion der angeblichen „Okkupation in Friedenszeiten“ übersieht er jedoch, dass die Formel „occupé et administré“, die Andrássy und andere gebrauchten, genau der römisch besitzrechtlichen occupatio entsprach, die die rechtlichen Voraussetzungen der Bodennutzung bestimmte und auch in den Diskurs der Theoretiker des Rechts zwischen den Staaten und des internationalen Rechts Eingang fand.4 Andrássy tat also nichts anderes, als diesen Aspekt des römischen Zivilrechts in das internationale Recht zu übertragen. Das war ein Verfahren, das den Diplomaten und Juristen des 19. Jahrhunderts überaus geläufig war, weswegen sie darüber kein Wort zu verlieren brauchten.

Egner ist angetreten zu klären, welche Theorie „den politischen Formen der Schutzherrschaft zugrunde“ lag (S. 8). Die Antwort kann er jedoch nicht erbringen, da er sich zu eng in die Konventionen der pragmatischen Diplomatiegeschichte einbindet, die das Handeln einzelner Personen in den Vordergrund rückt, und über deren Motive spekuliert. So figurieren an vielen Stellen in seinen Interpretationen das unbestimmt bleibende „Symbolische“ und der Potential. Die angekündigte Zusammenführung von „Ideengeschichte“ „mit der Forschung zum Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und zum internationalen Recht“ (S. 4) kann nicht gelingen, wenn überhaupt nicht untersucht wird, wann wer in Bezug auf welche Ziele aus welchen Gründen welche Theorie vorgeschlagen und gewählt hat, sondern nur Konflikte zwischen windigen Diplomaten und prinzipienreitenden Juristen thematisiert werden. Schwer nachvollziehbar ist zudem die Entscheidung, die vermeintliche Transformation des Schutzbegriffs ohne Blick auf die Wandlungen des Sicherheitsbegriffs als Territorialisierung zu beschreiben. Indem er die Forschungsliteratur zur Geschichte des Sicherheitsbegriffs (außer den Studien Kampmanns) ignoriert, unterlässt er die sorgfältige Analyse des Verhältnisses von Wort und Begriff und postuliert kurzerhand, dass das Wort „Schutz“ und dessen Parallelen in anderen europäischen Sprachen stets Schutz bedeuten müssten. Ohne sorgfältige semantische Analysen bleibt jedoch die These, es habe eine Territorialisierung des Schutzes stattgefunden, eine bloße Behauptung. Diplomatiehistoriografie, die in Konventionen stecken bleibt, kann schwerlich Neues zu Tage fördern.

Anmerkungen:
1 Christoph Kampmann, Vom Schutz fremder Untertanen zur Humanitären Intervention. Einleitende Bemerkungen zur diachronen Analyse einer aktuellen Problematik, in: Historisches Jahrbuch 131 (2011), S. 3–10; ders. / Ulrich Niggemann, Sicherheit in der Frühen Neuzeit, in: dies. (Hrsg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit, Köln 2013, S. 12–28; Christoph Kampmann, Kein Schutz fremder Untertanen nach 1649? Zur Akzeptanz einer responsibility to protect in der Frühen Neuzeit, in: Tilman Haug / Nadir Weber / Christian Windler (Hrsg.), Protegierte und Protektoren. Asymmetrische politische Beziehungen zwischen Partnerschaft und Dominanz (16. bis frühes 20. Jahrhundert), Köln 2016, S. 201–216.
2 Herfried Münkler, Imperien, Berlin 2005, S. 127–166.
3 Stephen D. Krasner, Sovereignty. Organized Hypocrisy, Princeton 1999, S. 8–9; ders., Organized Hypocrisy in Nineteenth-Century East Asia, in: ders., Power, the State and Sovereignty. Essays on International Relations, New York 2009, S. 211–231 [zuerst in: International Relations of the Asia Pacific 1 (2001), S. 173–197].
4 Emer de Vattel, Le Droit des gens, ou Principes de la loi naturelle, appliqués à la conduite et aux affaires des Nations et des Souverains, Bd. 1, Kap. 18, § 203; Henry Wheaton, Elements of International Law, Boston 1866, 8. Aufl., § 339.