G. M. Müller (Hrsg.): Zwischen Alltagskommunikation

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Titel
Zwischen Alltagskommunikation und literarischer Identitätsbildung. Studien zur lateinischen Epistolographie in Spätantike und Frühmittelalter


Herausgeber
Müller, Gernot Michael
Reihe
Roma Aeterna 7
Erschienen
Stuttgart 2018: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Maser, Philosophische Fakultät und Fachbereich Theologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Jenseits ihrer pragmatischen Funktion als Kommunikationsmittel über räumliche Distanzen hat die altertumswissenschaftliche Forschung Briefe und Briefsammlungen der Spätantike lange als minderwertige Nachahmungen epistolographischer Vorbilder aus den Epochen der sogenannten „Goldenen“ und „Silbernen Latinität“ abgetan. Tatsächlich knüpften spätantike Briefautoren und -sammler ausdrücklich an die klassische Gattungstradition, verkörpert etwa durch Cicero oder Plinius, an. Neuere kulturhistorische Ansätze werten diese demonstrative Fortsetzung einer kulturellen Traditionslinie jedoch längst nicht mehr als Epigonentum, sondern betrachten sie als produktiv gehandhabtes Instrument eines identitären „self-fashioning“ in der von vielfältigen kulturellen, sozialen und mentalen Transformationsprozessen geprägten Übergangszeit zwischen Antike und Frühmittelalter.

Der vorliegende Sammelband, der auf eine Tagung aus dem Jahr 2013 zurückgeht, bündelt entsprechende aktuelle Fragestellungen der Brief- und Briefsammlungsforschung zur Spätantike unter überregionalen und die Epochengrenze zum Frühmittelalter bewusst überschreitenden Perspektiven. Die 16 Aufsätze des Bandes sind in fünf Kapitel gruppiert: Auf die konzeptionelle Einleitung des Herausgebers Gernot Michael Müller und einen methodisch-theoretisch angelegten ersten Abschnitt folgen drei Blöcke mit Einzelstudien zu Detailaspekten des spätantiken Briefwesens im patristischen Kontext, sowie im italischen beziehungsweise im gallischen Raum. Ein abschließender Ausblick ins Frühmittelalter bleibt auf Beispiele aus dem karolingischen Frankenreich beschränkt.

Drei Beiträge befassen sich einführend aus methodisch-theoretischer Perspektive mit Briefen und Briefsammlungen: Ian Wood kritisiert einen zu stark homogenisierenden Blick der bisherigen Forschung auf spätantike und frühmittelalterliche Briefsammlungen, der vom plinischen Archetyp einer vom Verfasser konzipierten und zu Lebzeiten veröffentlichten Anthologie zum Zweck der literarischen Selbstinszenierung geprägt wird. Wood führt demgegenüber die Vielfalt der aus dem 5.–9. Jahrhundert überlieferten Sammlungstypen vor, die bislang von der Forschung nicht angemessen erfasst wurde.

Auch Ralph. W. Mathisen problematisiert eine vorherrschende Konzentration auf vermeintlich editorisch redigierte und „publizierte“ Briefsammlungen: Er zeigt, dass „Publizieren“ unter den Kommunikationsbedingungen der Spätantike und des Frühmittelalters ein Zirkulieren des Textes innerhalb von Personennetzwerken bedeutete; jede Form der Verfügbarmachung eines Textes für Dritte muss demnach als „Veröffentlichung“ gelten. Dieses Kriterium erfüllen aber auch Materialcorpora wie etwa Archiv-Dossiers, die von einer vornehmlich literarisch interessierten Brief- und Briefsammlungsforschung bislang kaum berücksichtigt wurden.

Mit diesem vornehmlich literaturhistorischen Blick auf die Gattung Brief und deren methodischen Problemen wiederum befasst sich Raphael Schwitter: Er zeigt, dass die bisherige altphilologische Forschung die „Literarizität“ eines Briefes nach Maßgabe von Kriterien wie Publizität, Überlieferungskontext oder Autorenintention beurteilt, die zu inkonsistenten Kategorisierungen und anachronistischen Projektionen führen. Dem stellt Schwitter einen methodischen Vorschlag entgegen, der die Literarizität von Briefen in einem graduellen Spektrum zunehmender „Öffentlichkeitsrelevanz“ als Phasenmodell unterschiedlicher Rezeptionsmodi zu erfassen versucht.

Den anschließenden Abschnitt zur „Epistolographie bei den Kirchenvätern“ eröffnet der Beitrag von Siegrid Mratschek. Sie zeigt, wie Paulinus von Nola seine Briefkorrespondenz zur Selbstinszenierung als Protagonist eines neuen besitzasketischen Lebensstils nutzte, der mit den traditionellen Verhaltensnormen seiner senatorial-aristokratischen Standesgenossen brach und sich langfristig als neues verchristlichtes Rollenmodell für die vermögenden Oberschichten zu etablieren vermochte.

In ähnlicher Weise untersucht Katharina Semmlinger an drei ausgewählten Briefen des Ambrosius von Mailand dessen Strategie der Selbststilisierung als „episcopus perfectus“ im Konflikt mit dem homöerfreundlichen Kaiser Valentian II.

Mit Hieronymus und seinem Briefwerk steht ein dritter Kirchenvater im Fokus gleich zweier Beiträge: Danuta R. Shanzer schlägt eine Neuinterpretation für das einleitende Stück der Briefsammlung des Hieronymus vor und verortet den dort ausgebreiteten Fall einer überlebten Hinrichtung – anders als bisherige Deutungen – nicht im hagiographischen, sondern im rechtsgelehrten Diskurs der Zeit. Benoit Jeanjean wiederum revidiert mittels einer anspruchsvollen quantitativen wie qualitativen Auswertung lateinischer Klassikerzitate im epistolaren Gesamtwerk des Kirchenvaters die ältere Forschungsmeinung, wonach Hieronymus sein berühmtes, in Ep. 22 überliefertes Gelöbnis von 384, künftig auf derartigen heidnischen Sprachschmuck verzichten zu wollen, tatsächlich umgesetzt habe. Jeanjean kann demgegenüber zeigen, dass Hieronymus über seine gesamte literarische Schaffensperiode hinweg gezielt Textanleihen bei klassisch-paganen Lyrikern (allen voran Vergil) in seine Schriften einarbeitete, dass der Gebrauch dieses Stilmittels vom Briefautor aber mit Blick auf Adressat, Brieftyp und Briefthema geplant und selektiv eingesetzt wurde.

Geographische Schwerpunkte setzen die folgenden beiden Abschnitte des Bandes: Auf das Briefwesen Italiens an der Wende zum Frühmittelalter richtet Bianca-Jeanette Schröder ihren Blick. An ausgewählten Stücken aus der Briefsammlung des Ennodius von Pavia zeigt sie die Vielzahl von „Rollen“ auf, in denen Ennodius sein lyrisches (bzw. epistolares) Ich in unterschiedlichen Konstellationen präsentierte, und weist dabei auf souverän inszenierte Stil- und Konventionsbrüche als kommunikative Strategie hin.

Ida Gilda Mastrorosa wiederum analysiert, wie Cassiodor in seinen für die ostgotischen Herrscher verfassten Briefen traditionelle gesellschaftliche Werte und Normen aus der Zeit der römischen Republik als Leitlinien königlichen Regierungshandelns präsentierte und so unter anderem der Herrschaft der „Barbaren“ über Römer Legitimität verlieh.

Den Blick auf das benachbarte Gallien lenkt sodann Meinolf Vielberg, der sich einem Vergleich der spezifischen Darstellungen der gallischen patria in den Briefwerken des Sulpicius Severus und des Paulinus von Nola widmet: Während Sulpicius in seinem Bemühen um die Förderung des Martinskultes Gallien zu einer heilsgeschichtlichen Zentrallandschaft stilisiere, so Vielberg, entfremde die demonstrative Auflassung seines gallischen Grundbesitzes den Asketen Paulinus seiner Geburtsheimat.

Ulrike Engelhaaf-Gaiser untersucht in den Briefbüchern des Sidonius Apollinaris das Motiv des konvivialen Gastmahls als realweltliche Ausdrucksform der im antiken Freundschaftsbrief literarisch evozierten Gemeinschaft unter Gleichgesinnten. Johanna Schenk wählt exemplarisch vier Briefe des Avitus von Vienne an die Burgunderkönige Gundobad und Sigismund aus und analysiert sie auf die Selbstdarstellung des Erzbischofs als theologischer Gelehrter, verantwortungsvoller Bischof und rechtgläubiger Christ hin.

Zu den stärksten Beiträgen des Bandes gehört der innovative Interpretationsvorschlag Gernot Michal Müllers für die merowingischen Epistulae Austrasicae: Er kann überzeugend vorführen, wie die auf den ersten Blick höchst disparate Sammlung von Briefen unterschiedlichster Verfasser aus dem ausgehenden 6. Jahrhundert gezielt klassisch-römische Vorbilder der literarisch-kulturellen Selbstinszenierung im Medium des Briefs aufgreift, dieses „self-fashioning“ aber nicht auf eine Autorenpersönlichkeit, sondern auf den Raum Austrasien bezieht und diesen so zu einer kulturellen Zentrallandschaft auf Augenhöhe mit anderen Nachfolgereichen des römischen Reichs stilisiert.

Das letzte Kapitel des Bandes schlägt schließlich den Bogen zum Frühmittelalter und bietet zwei Beiträge zu epistolographischen Themen des 8. und 9. Jahrhunderts. Sebastian Scholz wertet die regesten-artigen Briefüberschriften im Codex Carolinus aus, um dessen ursprüngliche Sammlungsintention zu bestimmen: Die Materialzusammenstellung, so stellt er fest, sei nicht zur Dokumentation programmatischer Ansprüche oder Ideologien – weder des Papsttums noch der fränkischen Karolingerkönige – angelegt worden, sondern sollte rein pragmatisch für nützlich erachtete Texte verfügbar halten.

Volker Scior schließlich widmet sich der Rolle des Boten, der nach mittelalterlichem Verständnis die Person seines Entsenders in allen mündlichen und performativen Aspekten der Fernkommunikation „verkörpern“ und „vergegenwärtigen“ sollte: Am Beispiel der Gesandtschaft des Egilo von Sens nach Rom im Jahr 866 zeigt er, mit welchen Strategien diese Substitution des Auftraggebers durch den Boten im Voraus geplant wurde und welche Erwartungen an die erfolgreiche Umsetzung eines Botenauftrags bestanden.

Insgesamt erschließt der Band ein breites Spektrum an Einzelthemen. Während die Beiträge des methodisch-theoretischen Kapitels von grundsätzlichem Interesse für die Brief- und Sammlungsforschung zu Spätantike und Frühmittelalter sind, gewinnen andere, als Fallstudie angelegte Aufsätze ihre Relevanz zunächst eher im Kontext der Forschungen zur konkreten Einzelthematik. Gerade die synoptische Lektüremöglichkeit im Rahmen eines Sammelbandes macht hier aber wiederkehrende Muster und deren produktive Variationen im Vergleich sichtbar. Der insgesamt gelungene Band zeigt eindrucksvoll, welche Erkenntnispotenziale gerade Briefe und Briefsammlungen als Quellen zur spätantiken und frühmittelalterlichen Kulturgeschichte bereithalten – aber auch, welche methodischen Herausforderungen es dabei im Einzelfall zu meistern gilt.

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