J. Schlumbohm: Verbotene Liebe, verborgene Kinder

Cover
Titel
Verbotene Liebe, verborgene Kinder. Das Geheime Buch des Göttinger Geburtshospitals 1794–1857


Autor(en)
Schlumbohm, Jürgen
Reihe
Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 296
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Raffaela Bub, Seminar für Neuere Geschichte, Universität Tübingen

Über den Umgang mit unehelichen Schwangerschaften in bürgerlichen und adeligen Familien des 19. Jahrhunderts ist vergleichsweise wenig bekannt. Diese unterlagen strengen Geheimhaltungsstrategien und sollten möglichst vor der Außenwelt verborgen bleiben. Jürgen Schlumbohm hat nun eine Quelle aufgetan, die hier neue Erkenntnisse liefert. In seinem Buch „Verbotene Liebe, verborgene Kinder“ wertet er das sogenannte „Lila oder Geheime Buch“ des Göttinger Geburtshospitals und ein daran angeschlossenes Konvolut von Briefen und Belegen aus.

Das „Geheime Buch“ enthält eine Sammlung von 27 Fallgeschichten heimlich gebärender Frauen, die nicht in den offiziellen ärztlichen Protokollbüchern vermerkt wurden. Diese Geschichten haben drei Direktoren des Entbindungshospitals zwischen 1794 und 1857 dort eingetragen. Bei den Frauen und Männern, die im Zentrum der Fallgeschichten stehen, handelt es sich meist um besser gestellte Personen der mittleren und gehobenen Schichten. Die Studie leistet damit ebenso einen Beitrag zur Krankenhaus- und Geschlechtergeschichte1 wie auch zur Geschichte der „höheren Stände“ im 18. und 19. Jahrhundert.

Das Buch gliedert sich in fünfzehn Kapitel, von denen das erste die behandelte Quelle vorstellt und das zugrundliegende Erkenntnisinteresse umreißt. Das zweite Kapitel thematisiert das Göttinger Geburtshospital und führt in dessen Umgang mit zahlenden und nichtzahlenden Patientinnen ein. In den darauffolgenden zwölf Kapiteln stellt Schlumbohm die verschiedenen Fallgeschichten, zum Teil separat, zum Teil thematisch zusammengefasst, dar und ordnet sie in den historischen Kontext ein. Abschließend fasst er die gewonnenen Erkenntnisse zusammen und greift die Frage nach Ursachen und Folgen außerehelicher Liebe und Schwangerschaft auf. Es gelingt dem Autor, nahe an den Quellen zu bleiben und gleichzeitig einen Beitrag zu übergreifenden Forschungsfragen zu leisten.

Im ersten Kapitel formuliert der Autor ein doppeltes Erkenntnisinteresse: Zum einen fragt er danach, wie „im 18. und 19. Jahrhundert Frauen, Männer und Familien der mittleren und gehobenen Schichten mit dem heiklen Problem einer Liebe außerhalb der Ehe um[gingen]“ (S. 10); zum anderen gebe die Quelle Antworten auf die Frage nach der Funktion des Geburtshospitals für zahlungsfähiges Klientel. Das „Geheime Buch“ eröffne so die Möglichkeit, eine Gruppe in den Blick zu nehmen, über deren Umgang mit nichtehelichen Verbindungen und illegitimen Geburten bisher wenig bekannt sei. Da Teile der Quellen unleserlich gemacht wurden, um die Anonymität der entsprechenden Personen zu wahren, mussten diese vom Autor mühsam entziffert werden.

Der Autor stellt im Verlauf des zweiten Kapitels die Aufnahmepraxis und den Umgang des Göttinger Geburtshospitals mit zahlenden und nichtzahlenden Patientinnen dar. Das Hospital war keine uneigennützige Einrichtung. Die nichtzahlenden Patientinnen dienten „der praktischen Ausbildung von Medizinstudenten und Hebammen“ (S. 14). Zahlende Patientinnen genossen demgegenüber verschiedene Privilegien. Sie waren separat untergebracht, wurden von den Direktoren selbst entbunden und hatten das Recht, falsche Personalangaben zu machen. Dies ermöglichte es auch, die Unehelichkeit der Kinder im Kirchenbuch zu verschleiern. Die Fallgeschichten dieser Frauen wurden von den Direktoren nicht in das Hospitaltagebuch, sondern in das Geheimbuch eingetragen. Die Privilegien einer anonymen Entbindung unter falschem Namen waren dabei immer an vorhandene Zahlungsmittel geknüpft.

Die folgenden zwölf Kapitel thematisieren die verschiedenen Fallgeschichten des „Geheimen Buchs“. Schlumbohm zeichnet dabei, soweit möglich, die Lebenswege aller beteiligten Personen nach. Auf diese Weise erfährt der Leser nicht nur einiges über die Handlungsspielräume der schwangeren Frauen, sondern auch viel über das Schicksal der unehelich geborenen Kinder sowie der Väter und Pflegeeltern. Auch die Rolle und Funktion des Hospitals und die vielfältigen Geheimhaltungsstrategien der Beteiligten werden deutlich.

Interessant erscheint insbesondere, wie die Anonymität der beteiligten Personen über Mittelsleute und Formen der „indirekten Kommunikation“ (S. 39) gewahrt wurde. So vermittelten Vertrauenspersonen die schwangeren Frauen an das Göttinger Geburtshospital und auch Kostgelder gelangten über Zwischenmänner und die Direktoren des Hospitals an die Pflegeeltern. Da die Frauen dem Hospitaldirektor häufig ihren richtigen Namen nannten, müsse jedoch eher von vertraulichen als von anonymen Geburten gesprochen werden (S. 175). Darüber hinaus bestand der Direktor darauf, zumindest von einem Beteiligten richtige Angaben zu erhalten, um die Bezahlung der Leistungen und Pflegegelder zu gewährleisten. Während die Mütter ihre Namen zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Kirchenbuch zunehmend richtig angaben, galt das für die Väter nicht. Daraus schließt Schlumbohm, „dass die Verheimlichung der illegitimen Geburt oft dem Vater noch wichtiger war als der Mutter“ (S. 176).

Die Lebenswege der Kinder und das Verhalten der leiblichen Eltern differierten erheblich. Während ein angehender Pastor seine vorehelich geborenen Zwillinge nachträglich ins eigene Haus aufnahm (Kapitel sechs) und eine Mutter das Schicksal ihres außerehelichen Sohnes im Hintergrund lenkte (Kapitel drei), beschränkten sich andere Mütter und Väter auf das Zahlen von Kostgeldern oder brachen den Kontakt vollständig ab. Ebenso unterschiedlich gestalteten sich auch die Wege der Kinder – während die einen auf Armenunterstützung angewiesen waren, ergriffen andere geachtete Berufe. Mit einer Ausnahme – in der die Geburt zwar ehelich, aber der Zeugungsakt offensichtlich vorehelich war (Kapitel elf) – handelte es sich bei allen Fällen um außereheliche Geburten. Im Gegensatz zu den nicht-zahlenden Patientinnen profitierten die im „Geheimen Buch“ erfassten Frauen von privat-familiären Beziehungen und finanziellen Mitteln. Durch das Angebot, vertraulich niederzukommen, habe das Göttinger Geburtshospital dazu beigetragen, „Regelverstöße gewissermaßen einzuhegen. Die Norm war zwar durchbrochen, durch Verheimlichung aber zugleich bestätigt“ (S. 179).

Durch „die immer striktere bürokratische Erfassung der Personenstandsdaten“ (S. 173) seien anonyme Geburten ab Mitte des Jahrhunderts zunehmend schwierig geworden. Dazu trugen unter anderem Anweisungen zur Führung der Kirchenbücher, polizeiliche Melderegister, ein Reichsgesetz von 1875 sowie die neuen Standesämter bei. Besonders die Registrierung unehelicher Kinder habe die Aufmerksamkeit der Obrigkeit geweckt – „teils aus Sorge vor einer Überlastung der Armenkassen, teils im Interesse der Durchsetzung moralischer Verhaltensnormen“ (S. 173). Das habe einer zunehmenden Diskriminierung unehelicher Geburten im Laufe des 19. Jahrhunderts Vorschub geleistet, die 1900 in die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs mündete.

Das Buch ist durchweg sehr leserlich geschrieben und empfiehlt sich dadurch einem breiten Publikum. Dazu tragen auch die gut ausgewählten Illustrationen bei, die den Text untermalen. Der Band profitiert sicher auch davon, dass der Autor sich bereits früher intensiv mit dem Göttinger Geburtshospital beschäftig hat und zu den ausgewiesenen Kennern der Materie gehört.2 Um die Fallgeschichten zu kontextualisieren, greift er auf weitere ungedruckte und gedruckte Quellen sowie neuere wissenschaftliche Studien zurück. Letztere werden aber eher in den Fußnoten als im Text erwähnt. Daher wäre im Schluss eine explizitere Reflexion der gewonnenen Erkenntnisse vor dem Horizont aktueller Forschung wünschenswert gewesen. Auch ergeben sich durch den Aufbau des Werks an manchen Stellen leichte Redundanzen.

Dies tut dem Wert der Studie aber keinen Abbruch. Sie bereichert die wissenschaftliche Forschung mit neuen Erkenntnissen. Ein empfehlenswertes Buch.

Anmerkungen:
1 Vgl. bspw. Verena Pawlowsky, Mutter ledig – Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784-1910, Innsbruck 2001; Jürgen Schlumbohm / Claudia Wiesemann (Hrsg.), Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751–1850. Göttingen u.a. 2004; Marina Hilber, Institutionalisierte Geburt. Eine Mikrogeschichte des Gebärhauses, Bielefeld 2012.
2 Vgl. neben weiteren Texten Jürgen Schlumbohm, Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830, Göttingen 2012; Ders., Saving Mothers’ and Children’s Lives? The Performance of German Lying-in Hospitals in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, in: Bulletin of the History of Medicine 87 (2013), S. 1–31; Ders., Die Verwandtschaft von unehelichen Kindern im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Christine Fertig / Margareth Lanzinger (Hrsg.), Beziehungen, Vernetzungen, Konflikte. Perspektiven Historischer Verwandtschaftsforschung, Köln u.a. 2016, S. 167–183.

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