M. Apostolow: Der »immerwährende Staatssekretär«

Titel
Der »immerwährende Staatssekretär«. Walter Strauß und die Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz 1949–1963


Autor(en)
Apostolow, Markus
Reihe
Die Rosenburg 1
Erschienen
Göttingen 2019: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gunnar Take, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Markus Apostolows Dissertation zum „immerwährenden Staatssekretär“ Walter Strauß und zur Personalpolitik im Bundesministerium der Justiz (BMJ) in den Jahren 1949–1963 vereint zwei Trends der Zeitgeschichtsforschung: Erstens die im Rahmen der Behördenforschungen als obligatorischer Projektbestandteil stets enthaltene Beschäftigung mit der Personalpolitik des jeweiligen Ministeriums und zweitens das in jüngerer Zeit gerne vergebene Dissertationsthema einer Biografie über einen Spitzenbeamten der jungen Bundesrepublik. Gegenwärtig wird eine solche ebenfalls zu Hans Ritter von Lex (Staatssekretär im Bundesministerium des Inneren (BMI), 1949–1960) erarbeitet1, veröffentlicht sind unter anderem bereits Monografien zu Hans Globke (Bundeskanzleramt, 1953–1963)2 sowie von Friedemann Utz zu eben jenem Walter Strauß.3 Da zudem, unter Mitarbeit von Apostolow, 2016 der knapp 600 Seiten starke Band „Die Akte Rosenburg: das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit“ erschien, worin der organisatorische und personelle Aufbau, die Personalentwicklung und ausgewählte Karrieren von BMJ-Mitarbeitern bereits mitbehandelt wurden4, blieb für Apostolow nur eine recht schmale Forschungslücke.

Apostolows zentrales Erkenntnisziel ist es, „das konkrete Ausmaß des Einflusses von Strauß auf die Auswahl und Beförderung der höheren Beamten des BMJ“ (S. 10) zu bestimmen. Außerdem befasst er sich mit den Fragen, wie sich die Personalpolitik im Alltag und in Konfliktfällen gestaltete, „nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte“, welchen Ursprung die „Leitlinien des obersten Beamten“ hatten und schließlich „deren Umsetzung in der Realität“ (S. 11). In der Erforschung dieser Fragen konnte Apostolow die sämtlich noch im BMJ befindlichen Personalakten heranziehen, die vor Beginn des Rosenburg-Projekts dem Forschungszugriff entzogen waren. Zu den weiteren Quellen zählen insbesondere Nachlässe, darunter die große Hinterlassenschaft von Strauß selbst sowie Bundesministerialakten im Koblenzer Bundesarchiv. Das Berliner Bundesarchiv und damit auch die dort aufbewahrte Sammlung Berlin Document Center (BDC) und die Akten des Reichsjustizministeriums hat Apostolow ebenso wenig herangezogen wie Entnazifizierungsakten (S. 355).

Apostolow gliedert das Wirken von Strauß im BMJ in drei Abschnitte. Sein Buch folgt dieser Linie: Eine Aufbauzeit von 1949–1953, eine anschließende Phase der Normalität und schließlich der Abstieg vom „Zenit der Macht“ mit Beginn der vierten Legislaturperiode im November 1961 bis zur Verabschiedung im Februar 1963. Diese drei Kapitel enthalten jeweils Unterkapitel zur Besetzung der Leitungsebene und zu Merkmalen der Personalpolitik sowie einführend einen Abschnitt zu den „Rahmenbedingungen für den personellen Aufbau“ und abschließend zum Ende von Strauß‘ Amtszeit. Über die Ziele und Methodik seiner Arbeit verliert Apostolow in der kurzen Einleitung nur wenige Worte. Noch knapper ist mit lediglich vier Seiten die Zusammenfassung gehalten. Da er zudem fast vollständig auf Zwischenfazits verzichtet, vertraut Apostolow darauf, dass die Leser/innen viel Geduld beim Aufspüren seiner Erkenntnisse beweisen. Das fällt aus zwei Gründen schwer: Erstens ist der Text gespickt mit vielen und langen Fallbeispielen, die selten zu eigenständigen abstrahierenden Aussagen führen. Meist erfüllen sie eher den Zweck, zeitgenössische oder nachträgliche Deutungen Strauß‘ zu dessen Personalpolitik zu illustrieren. Zweitens sind Apostolows Ausführungen sehr deskriptiv gehalten. So widmet er beispielsweise nicht weniger als 15 Seiten der Wiedergabe eines Vermerks eines BMJ-Mitarbeiters und eines zeitgenössischen Fachartikels (S. 289–303). Eines eigenen Urteils enthält sich Apostolow nicht nur in diesem Fall. Dabei liest er durchaus „zwischen den Zeilen“ (S. 11), an einer echten Quellenkritik mangelt es jedoch oft.

Weder zu den Prägungen und zum Charakter von Walter Strauß noch zu seinem Verhältnis zu den fünf Bundesjustizministern 1949–1962 oder zu anderen personalpolitisch einflussreichen Akteuren noch zu den Ergebnissen der Personalpolitik ist in Apostolows Buch wirklich Neues zu erfahren. Zum Teil resultiert dies wohl aus dem Design des Forschungsvorhabens und liegt damit in der Mitverantwortung von Apostolows vormaligem Projektleiter, dem Doktorvater und Mitherausgeber der Dissertation Manfred Görtemaker. Die Betrachtung kann nämlich nur deshalb ohne viel Vorlauf im Jahr 1949 einsetzen – da ist Strauß bereits 49 Jahre alt –, weil Apostolow vollständig der Charakterisierung Strauß’ folgt, die Friedemann Utz mit seiner bereits erwähnten Biografie etabliert hat. Utz beschrieb Strauß überaus positiv und schob mögliche Kritikpunkte an dessen Amts- und Rechtsstaatsverständnis, wie etwa das Verhalten in der Spiegel-Affäre gegenüber seinem Minister und zur Pressefreiheit, kurzerhand beiseite.5 Diese Deutung von Strauß ist für Apostolow so zementiert, dass er sie sogar angesichts von selbst entdeckten widersprechenden Belegen nicht ändern möchte. So bescheinigt er Strauß beispielsweise eine „differenzierende Sichtweise“ (S. 25) auf das Verhalten der Beamten in der NS-Zeit. Dies hält Apostolow selbst dann aufrecht, wenn er herausarbeitet, dass dieses Geschichtsbild auf einer schlichten Dichotomie zwischen überzeugten und bloß nominellen NSDAP-Mitgliedern basierte und dass die Sicht auf den Normenstaat auf dem altbekannten „Bild vom hochqualifizierten, aber unpolitischen Beamten [beruhte], der nur seine Pflicht getan habe und in schwierigen Verhältnissen anständig geblieben sei“ (S. 275). Auch bescheinigt er Strauß ein „auf Ausgleich gerichtetes Wesen“ (S. 28), ungeachtet des Machtkampfs mit Thomas Dehler 1949–50 (S. 38–40) oder der auch gegen Widerstände durchgedrückten Anstellungen von stark NS-belastenden Beamten (S. 34, 239–243).

Beispielhaft für Apostolows Vorgehensweise und der daraus resultierenden Ergebnisse ist das Kapitel I.3 über „Wesen und Merkmale der Personalpolitik in der Anfangszeit“. Die Einführung sowie jedes der ersten vier Unterkapitel werden dominiert von den nachträglichen Deutungen von Strauß. Apostolow findet diese fast vorbehaltlos bestätigt. „Die politische Überprüfung auf der Rosenburg wurde […] gewissenhaft gehandhabt“ (S. 126), der notwendige Regionalproporz sei „für die Zwecke des Ministeriums dienstbar“ (S. 136) gemacht worden, eine parteipolitische „Klüngelei“ (S. 141) sei ausgeschlossen und auch die Konfessionszugehörigkeit habe – wie überhaupt alle unsachlichen Kriterien – hinter „den fachlichen Qualitäten der Beamten“ (S. 143) zurückgestanden. Apostolows Belege können indes nicht überzeugen. Indem das BMJ fast nie die BDC-Akten einsah (S. 112), verzichtete es beispielsweise mit Billigung von Strauß bewusst auf eine elementare Informationsquelle bei der politischen Überprüfung. Für das möglicherweise vergleichbare BMI ist zu jener Zeit von einer Quote von etwa einem Drittel Falschangaben bei NS-Zugehörigkeiten auszugehen.6 Apostolow vertraut trotzdem ebenso wie Strauß voll auf die Selbstauskünfte (S. 88–89).

In gewisser Weise bedeutet das Buch einen Stillstand in der Behördenforschung. Mit der Wiederholung der von Strauß und anderen gepflegten Legende vom „Mangel an geeignetem Personal“ (S. 30) wird die Einbindung von stark NS-belastetem Personal erneut als unvermeidbar dargestellt. Notwendig und gewinnbringend wäre es vielmehr gewesen, stärker der Frage nachzugehen, warum die vorhandene Masse an geeigneten Bewerbern (S. 155) weitgehend ignoriert und stattdessen vorrangig die Old-Boys-Netzwerke von Strauß (Reichsministerialdienst) und Dehler (Bamberger NS-Sondergericht) eingestellt wurden. Auch würde man gerne mehr darüber erfahren, warum das Entlastungs-, Einstellungs- und Beförderungs-„Netzwerk Bamberg“ (S. 214) noch bis in die 1960er-Jahre hinein einwandfrei funktionieren konnte. Vor allem jedoch hätte das Spezifikum der Ära Strauß interessiert: Was bedeutete es für die jeweiligen Bundesjustizminister, insbesondere für die drei FDPler, einen so mächtigen Staatssekretär unter sich zu haben und sich auf das maßgeblich von diesem geprägte Personal stützen zu müssen? Schließlich wäre es notwendig gewesen, den viel beschworenen „Geist der Rosenburg“ nicht nur als „Geist gegenseitiger Loyalität und selbstverständlicher Kameradschaft, wenn es zu Angriffen von außen kam“ (S. 279), zu feiern, sondern ihn kritisch auf seine abschottende Wirkung von der Bevölkerung, von der Bundestagsopposition sowie von der ebenfalls mit einem gesellschaftlichen Kontrollauftrag versehenen „vierten Gewalt“ der Presse zu untersuchen.

Der Band enthält also viele gut lesbare Fallbeispiele und eine Fülle von Informationen zur höheren Beamtenschaft, die sich über das Personenregister leicht durchsuchen lassen und gerade für Behördenforscher/innen nützlich sein dürften. Neue Erkenntnisse über die Person Strauß, über die Eigenschaften der höheren Beamtenschaft in der jungen Bundesrepublik oder über die Auswirkungen von NS-Vergangenheiten und sonstigen Prägungen auf das BMJ werden hingegen nicht geboten.

Anmerkungen:
1 Vgl. https://www.ifz-muenchen.de/forschung/ea/forschung/die-personalpolitik-des-bundesinnenministeriums-und-sein-erster-staatssekretaer-hans-ritter-von-lex/ (05.12.2018).
2 Hier beispielsweise die Dissertation von Erik Lommatzsch, Hans Globke (1898–1973). Beamter im Dritten Reich und Staatssekretär Adenauers, Frankfurt am Main 2009.
3 Friedemann Utz, Preuße, Protestant, Pragmatiker. Der Staatssekretär Walter Strauß und sein Staat, Tübingen 2003.
4 Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016.
5 Utz, Preuße, Protestant, Pragmatiker, S. 514–515, S. 506–507.
6 Stefanie Palm / Irina Stange, Vergangenheiten und Prägungen des Personals des Bundesinnenministeriums, in: Frank Bösch / Andreas Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018, S. 122–181, hier S. 127.

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