Cover
Titel
Polis und Politesse. Der Diskurs über das antike Athen in England und Frankreich, 1630–1760


Autor(en)
Zabel, Christine
Reihe
Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 41
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 377 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Pečar, Historisches Institut, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Vorbildhaftigkeit der Antike war in der politischen Kommunikation der Frühen Neuzeit ein Gemeinplatz. Auch die Forschung hat sich dieser spezifischen Form der Antikerezeption bereits intensiv angenommen. Dies gilt insbesondere für Untersuchungen zum sogenannten Bürgerhumanismus (Hans Baron) oder zum klassischen Republikanismus (Quentin Skinner, John Pocock). In diesen Untersuchungen war die Aufmerksamkeit indes vor allem auf die Vorbildhaftigkeit Roms und der römischen Republik gerichtet. Die Positionen der frühneuzeitlichen Autoren zu Griechenland im Allgemeinen oder Athen im Besonderen spielten hingegen Christine Zabel zufolge in der Forschung eine eher untergeordnete Rolle. Dem will sie mit ihrer Untersuchung abhelfen. Zabel widmet sich insbesondere Texten aus Frankreich und England, in denen im Zeitraum von 1630 bis 1760 Athen als positive wie als negative Bezugsfolie eine große Rolle zugeschrieben wurde.

Die Untersuchung hat vier Schwerpunkte: erstens die ältere Diskurstradition bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts in (West-)Europa; zweitens die spezielle Situation in England während des Bürgerkriegs und der Commonwealth-Zeit; und drittens und viertens die veränderte Perspektive auf Athen im Zusammenhang mit der Debatte um Courtoisie und Politesse im 18. Jahrhundert in Frankreich wie in England. Zabel führt in ihrem Einstiegskapitel vor, wie Autoren im 16. und 17. Jahrhundert auf Athen sowohl kritisch als auch affirmativ Bezug nahmen. Für Jean Bodin lieferten Athen und die Demokratie ein Paradebeispiel für die Verführbarkeit des Volkes, für einen Mangel an Tugendhaftigkeit, innere Spaltungstendenzen und Zwietracht. In den Niederlanden entstanden hingegen nach der Loslösung vom spanischen Imperium immer wieder affirmative Verweise auf Athen, das als eine Art Vorbild für eine republikanische Staatsbildung und als Handelsimperium beschrieben wurde.

Ein vergleichbares gesteigertes Interesse an Athen lässt sich Zabel zufolge auch in England ausmachen, zumindest im Zeitraum des Bürgerkrieges und der Zeit des Commonwealth. Auch hier waren Verweise auf Athen ein opportunes Mittel, um gegenwärtige Konflikte zwischen König Karl I. auf der einen und dem Long Parliament auf der anderen Seite in der politischen Debatte auszutragen. Zabel führt solche Bezugnahmen bei einigen Autoren vor, und auch in dieser Debatte hielten sich affirmative Verweise auf Athen und Warnungen vor der Tyrannei des Volkes die Waage. Die Einbettung dieser Aussagen in den historischen Kontext der Zeit des Bürgerkrieges und der zu dieser Zeit vorherrschenden Konflikte fällt allerdings wenig überzeugend aus. Ereignisse werden mehrfach falsch datiert: so der Versuch der Einführung einer neuen Gottesdienstordnung in Schottland (1637, nicht 1639) (S. 70); die Bishops’ Wars fanden mitnichten 1629 statt (S. 79); der Bürgerkrieg begann 1642 und nicht 1641 (S. 86); und 1643 kann man weder von einem Rumpfparlament sprechen, noch klingt es in diesem Jahr plausibel, dass sich ein Traktat gegen die „Levellers“ und deren Weltsicht gewendet haben soll (S. 83).

Andere Unstimmigkeiten kommen hinzu: Da ist bei Thomas Hobbes’ Lehre vom Herrschaftsvertrag im Leviathan die Rede von zwei aufeinander folgenden Herrschaftsverträgen, wo Hobbes selbst nur einen Herrschaftsvertrag kennt (S. 86). Da ist die Rede von einem prosperierenden Arminianismus (S. 85) in England aufgrund niederländischer Migranten, dabei hatten die zu dieser Zeit in England als „Arminianer“ angegriffenen Geistlichen allesamt keinerlei Migrationshintergrund, und es ist in der Forschung überdies strittig, inwiefern es sich bei den Ceremonialists der englischen Kirche wirklich um Arminianer handelte – keiner der an dieser Debatte beteiligten Autoren wird in der Arbeit genannt. Auch wäre die Kritik Zabels am Stand der Republikanismusforschung und der dort vorherrschenden Fokussierung allein auf Rom (S. 97, 113) überzeugender ausgefallen, hätte sie neben Quentin Skinner auch andere Autoren dieser Debatte zur Kenntnis genommen. Für Paul Rahe etwa lässt sich keineswegs behaupten, dass er griechische Autoren in seiner Betrachtung ausblendet.1

Überzeugender fällt hingegen der zweite Teil der Arbeit aus, in dem Zabel untersucht, welche Rolle Athen als Chiffre für elegante Rhetorik, Zivilisation und Kultiviertheit gespielt hat. Athen wurde in dieser Debatte nicht als Beispiel einer radikalen Volksherrschaft wahrgenommen, sondern als kulturelles Vorbild, dem man im gegenwärtigen Frankreich und England nacheifern solle. Insbesondere in den Schriften französischer Moralisten wie la Bruyère stand Athen für ein Zivilisations- und Verhaltensideal, später dann im 18. Jahrhundert auch für das Ideal einer sich miteinander austauschenden Öffentlichkeit, für guten Geschmack und dessen Verbreitung. Es wurde so zu einem wichtigen rhetorischen Baustein im Zivilisationsdiskurs des 18. Jahrhunderts.

Dieser Zusammenhang hätte eine Auseinandersetzung mit der Aufklärungsforschung und neueren Arbeiten zum Begriff Zivilisation und Fortschrittsidee nahegelegt, die leider unterbleibt. Auch hätte anhand der gesteigerten Wertschätzung des 18. Jahrhunderts gegenüber der Rolle eines philosophe in Frankreich, aber auch in England diskutiert werden können, welche Bedeutung in dieser Debatte Athen und Griechenland als Ursprungsort dieses Rollentyps zugeschrieben wurde. Dieses wichtige Thema wird gleichfalls nicht angeschnitten. Gleichwohl weiß man nach der Lektüre von Zabels Untersuchung mehr über die Rolle Athens als Argument für eine gesteigerte Wertschätzung von kulturellen Errungenschaften und deren Urhebern.

Am Ende bleibt ein gemischtes Bild. Zabel vermag zu zeigen, welche unterschiedlichen Aussagen mit dem Verweis auf Athen und Griechenland im 17. und 18. Jahrhundert jeweils verbunden wurden. Dies ist bislang weder systematisch noch vergleichend unternommen worden. Hier stellt die Arbeit einen Gewinn dar, auch wenn wichtige Themenfelder, wie die Rolle und die Bedeutung der philosophes, ausgespart bleiben. Weniger überzeugend sind die von Zabel vorgenommenen Ansätze zur Kontextualisierung der jeweils untersuchten Aussagen. Insbesondere den Passagen über den englischen Bürgerkrieg hätte eine größere Sorgfalt gut getan. Aus den genannten Gründen wird die Autorin auch ihrem eigenen, sehr hoch gesteckten Anspruch nicht gerecht, „eines der führenden methodischen Konzepte, nämlich dasjenige der sogenannten Cambridge School zu erweitern und eine moderne Methodologie der intellectual history zu entwickeln, die sich nicht ausschließlich auf eine politische Ideengeschichte […] bezieht“ (S. 11). Zabels Untersuchung ist weder ein Beitrag zu methodischen Konzepten noch gar ein Beitrag zur „Methodologie der intellectual history“ – sondern eine Doxographie über die Bezüge auf Griechenland und Athen in Debatten Englands und Frankreichs im 17. und 18. Jahrhundert. Aber auch eine solche Doxographie mag für zukünftige Untersuchungen hilfreich sein.

Anmerkung:
1 Paul A. Rahe, Against Throne and Altar: Machiavelli and Political Theory under the English Republic, Cambridge 2009; Ders., Republics Ancient and Modern: Classical Republicanism and the American Revolution, Chapel Hill 1992.

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