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Titel
Religion im Parlament. Homosexualität als Gegenstand parlamentarischer Debatten im Vereinigten Königreich und in der Bundesrepublik Deutschland (1945–1990)


Autor(en)
Ebner, Katharina
Reihe
Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit 13
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Wintgens, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Berlin

In wenigen Bereichen haben sich die westeuropäischen Gesellschaften während der letzten Jahrzehnte so verändert wie im öffentlichen Umgang mit Homosexualität. Schwule und lesbische Paare leben heute offen zusammen, viele von ihnen sind offiziell verheiratet. Als demgegenüber vor 70 Jahren das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beraten wurde, standen männlich-homosexuelle Handlungen weiterhin unter Strafe – und zwar laut einer im „Dritten Reich“ verschärften Fassung des § 175 StGB. Auf dieser Grundlage wurden bis 1969 Zehntausende Männer zu Geld- oder Gefängnisstrafen verurteilt. Daher war es ein weiter Weg von der Entkriminalisierung über Toleranz und Akzeptanz bis hin zur weitgehenden Gleichstellung. Im Juni 2017 feierten viele Befürworter der „Ehe für alle“ die Entscheidung des Bundestages, die Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen, als Schlussetappe eines langen Engagements gegen Diskriminierung. Ausdrücklich zu diesem Zweck beschloss das Parlament außerdem, die nach 1945 gefällten Urteile gegen Homosexuelle aufzuheben und die Betroffenen zu entschädigen.

Allerdings war die repressive Praxis der 1950er- und 1960er-Jahre kein deutscher „Sonderweg“. Wie Katharina Ebner in ihrer jetzt als Buch vorliegenden Dissertation, die mit dem Promotionspreis der Münchener Universitätsgesellschaft ausgezeichnet wurde, zeigt, sind die Ähnlichkeiten mit Großbritannien frappierend. Auch im Vereinigten Königreich wurde männliche Homosexualität traditionell von Polizei und Justiz geahndet, auf Basis eines zuletzt im 19. Jahrhundert veränderten Gesetzes. Sogar die recht hohen Zahlen der nach 1945 Verurteilten gleichen sich. Fast parallel, 1967, folgte (zunächst in England und Wales) die Straffreiheit. Seit 2014 können gleichgeschlechtliche Paare heiraten (außer in Nordirland und einigen Überseegebieten). Schließlich wurden, wie in der Bundesrepublik, die in der Nachkriegszeit Verurteilten rehabilitiert, genauer gesagt: begnadigt.

Ebner untersucht die fundamentale Veränderung sexueller Norm- und Normalitätsvorstellungen anhand von Parlamentsdebatten – auch weil dieser Wandel evolutionär, ohne Revolution oder politischen Systemwechsel erfolgte. Parlamentarische Debatten ratifizierten nicht nur das Ergebnis eines Emanzipationsprozesses, in Großbritannien markierten sie sogar seinen Ausgangspunkt. Damit zeigt die vergleichend angelegte Untersuchung die besondere Rolle der Parlamente als Gesetzgeber sowie als „Kommunikationsräume“.1 Ebners historische Diskursanalyse untersucht die Plenarreden zwischen 1945/49 und 1990 anhand der schriftlichen Protokolle.2 Um die Gesetzgebungsprozesse nachzuvollziehen, wurden ergänzend weitere parlamentarische Quellen herangezogen. Es handelt sich jedoch weder um eine rechts- noch um eine politikgeschichtliche, sondern um eine theologische Dissertation, die im Rahmen des Graduiertenkollegs „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ entstanden ist.3 Folglich fragt Ebner insbesondere nach religiösen Argumenten sowie nach dem Verhältnis von Staat, Kirche und Konfession(en). Dabei vertritt sie die These, dass der Umgang mit Homosexualität „nicht ohne die Berücksichtigung christlich-religiöser Begründungs- und Rechtfertigungsmuster verstanden werden“ könne (S. 285).

Im Unterschied zu anderen neueren deutsch-britischen Vergleichsgeschichten4 überwiegen im Hinblick auf den Umgang mit Homosexualität die Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel wurden 1952 in Großbritannien etwa viermal so viele Fälle homosexueller „Vergehen“ verfolgt wie 1938; gleichzeitig gab es in der Ära Adenauer viermal so viele Ermittlungen wie in der Weimarer Republik (S. 46 bzw. S. 96). Die größte Differenzerfahrung entsteht deshalb nicht aus dem räumlichen, sondern aus dem zeitlichen Kontrast. In beiden Ländern standen bürgerlich-christliche Familienvorstellungen während der 1950er-Jahre hoch im Kurs; hinzu kamen eine Renaissance der Kirchlichkeit und ein wehrhaft-kämpferisches Leitbild im „Kalten Krieg“. Politisch-mediale Debatten über Jugendschutz und „Sittlichkeit“ führten dazu, dass abweichendes Verhalten, hier von Homosexuellen, nicht toleriert, sondern sanktioniert wurde. Sowohl in Großbritannien als auch in der Bundesrepublik war eine strenge Sexualmoral nach 1945 „eine Bewältigungsstrategie“ – „ein gemeinschaftlicher Konsens, um eine diffuse Form von Normalität“ wiederherzustellen (S. 105). In der differenzierten Deutung bestätigt Ebners Studie die Thesen etwa von Hanna Schissler, Dagmar Herzog und Sybille Steinbacher.5 Nationale Besonderheiten zeigt ihr Vergleich eher im Detail: beispielsweise wenn der Verlust des Empire als Dekadenzerscheinung („moral decline“) interpretiert wurde, während im (westlichen) Nachkriegsdeutschland der Einfluss der liberal-progressiven Reformer fehlte, die von den Nazis vertrieben oder ermordet worden waren.6

Auch die weitere Geschichte verlief im Großen und Ganzen parallel, wie sich anhand der Debatten in Bonn und Westminster nachverfolgen lässt (Transfer-Aspekte spielen bei Ebner kaum eine Rolle): Nach pionierartigen Anfängen seit Mitte der 1950er-Jahre etablierte sich allmählich eine neue Mehrheitsmeinung, nach der Homosexualität nicht länger als Verstoß gegen heteronormative Gebote verstanden wurde, sondern als eine identitätsbildende persönliche Orientierung, über die Psychologen, Ärzte und Sozialarbeiter Auskunft geben konnten. Paradoxerweise war diese Pathologisierung der Homosexualität ein erster Schritt zur Überwindung von Tabuisierung, Moralisierung und Bestrafung. Generell änderte sich nun, was Politik und Öffentlichkeit unter dem Begriff „public morality“ verhandelten. Der Freiraum der Privatsphäre wurde größer, und das spiegelte sich in den parlamentarischen Reden. Daraus folgte die Beschränkung des Strafrechts – selbst wenn die meisten Abgeordneten an einer stigmatisierenden Rhetorik festhielten. Der sozialdemokratische Justizminister und evangelische Christ Gustav Heinemann sagte 1968: „Nicht alles, was sittlich unerlaubt ist, muss auch bestraft werden.“ (zit. auf S. 133).

Das Ende der strafrechtlichen Verfolgung 1967 bzw. 1969 – jeweils getragen von einer linken bzw. sozial-liberalen Parlamentsmehrheit – war eine Zäsur: Zum einen konnten sich männliche Homosexuelle nun offener zeigen. Insofern schuf der progressiv-hedonistische Zeitgeist der 1970er-Jahre die Voraussetzungen für eine „Normalisierung“ der Homosexualität und für das politisch-zivilgesellschaftliche Engagement der Schwulenbewegung. Zum anderen rief dies auch Gegner auf den Plan. Nachdem Margaret Thatcher im Unterhaus noch für die Entkriminalisierung (im Sinne von Privatheit und Selbstbestimmung) gestimmt hatte, propagierte die Vorsitzende der Tories später klassische „family values“ und „decency“. Obwohl in den 1980er-Jahren HIV und Aids gewisse restaurative Tendenzen zu begünstigen schienen7, zeigten sich laut Ebner deutliche Folgen der Säkularisierung. Vor allem im Bundestag spielten religiöse Bezüge keine große Rolle mehr. Den bis ins 21. Jahrhundert anhaltenden Widerstand gegen weitere Emanzipationsschritte deutet sie als Traditionalismus, aber nicht mehr als Konsequenz moraltheologischer Lehrmeinungen im politischen Diskurs.

Katharina Ebner legt eine sehr präzise Analyse vor, die rechts- und sexualitätshistorisch breit informiert ist. Vielleicht wäre etwas mehr Einordnung in die kirchliche und theologische Tradition nützlich gewesen, da die christliche Homophobie eher vorausgesetzt als erklärt wird. Alles in allem wirft Ebners Studie jedoch viele erhellende Schlaglichter auf die Kultur- und Parlamentsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch auf den Grad der jeweiligen Verflechtung von Kirche(n) und Politik. So waren es Vertreter der anglikanischen Staatskirche, die frühzeitig Initiativen für die Entkriminalisierung der Homosexualität entwickelten. Ausgerechnet Kleriker im Oberhaus agierten progressiver als Medien und Öffentlichkeit, zumindest gingen sie sensibler auf die Anliegen von Minderheiten ein als die Abgeordneten, die nach dem Mehrheitswahlrecht bestimmt wurden. Explizit beriefen sie sich auf eine „Vorreiterrolle des Parlaments“, wie Ebner schreibt (S. 69), das die Aufgabe habe, die öffentliche Meinung zu erziehen. Umgekehrt kann die deutsch-britische, transkonfessionelle Perspektive die These vom katholisch-evangelischen Gegensatz in der frühen Bundesrepublik ergänzen: Übereinstimmungen in Fragen der „Sittlichkeit“ erscheinen insofern als ein gemeinsamer Nenner, auf den sich die christlichen Konfessionen lange verständigen konnten.

Anmerkungen:
1 Andreas Schulz / Andreas Wirsching (Hrsg.), Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum, Düsseldorf 2012; rezensiert von Tobias Weidner, in: H-Soz-Kult, 21.02.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19994 (05.12.2018).
2 Digitalisierte Parlamentsprotokolle finden sich unter http://pdok.bundestag.de bzw. https://api.parliament.uk/historic-hansard/index.html (05.12.2018). In der Studie nicht berücksichtigt wurden die Dokumente der Bundestagsfraktionen, die von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien inzwischen online zugänglich gemacht wurden (für die Zeit bis 1990): http://www.fraktionsprotokolle.de (05.12.2018).
3https://www.igk-religioese-kulturen.uni-muenchen.de/aktuelles-neu/index.html (05.12.2018).
4 Etwa Martina Steber, Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Berlin 2017; rezensiert von Bernhard Dietz, in: H-Soz-Kult, 11.04.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-27066 (05.12.2018); Peter Beule, Semantiken des Marktes in der Parteipolitik der Bundesrepublik Deutschland und Großbritanniens in den 1970er Jahren, phil. Diss. Universität Bonn 2018 (Buchpublikation für 2019 in Vorbereitung).
5 Hanna Schissler, ›Normalization‹ as Project: Some Thoughts on Gender Relations in West Germany during the 1950s, in: dies. (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany 1949–1968, Princeton 2001, S. 359–375; Dagmar Herzog, Sex After Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany, Princeton 2005; dt.: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer und Anne Emmert, München 2005; rezensiert von Sven Reichardt, in H-Soz-Kult, 14.04.2006, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-6566 (05.12.2018); Sybille Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011; rezensiert von Massimo Perinelli, in H-Soz-Kult, 05.08.2011, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-15793 (05.12.2018).
6 Robert Beachy, Gay Berlin. Birthplace of a Modern Identity, New York 2014; dt.: Das andere Berlin. Die Erfindung der Homosexualität. Eine deutsche Geschichte 1867–1933. Aus dem Englischen von Hans Freundl und Thomas Pfeiffer, München 2015.
7 Henning Tümmers, AIDS. Autopsie einer Bedrohung im geteilten Deutschland, Göttingen 2017; rezensiert von Zülfukar Çetin, in: H-Soz-Kult, 29.05.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-27106 (05.12.2018).