O. Grote: Die griechischen Phylen

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Titel
Die griechischen Phylen. Funktion – Entstehung – Leistungen


Autor(en)
Grote, Oliver
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Luppa, Technische Universität Dresden

Den griechischen Phylen wurde in der althistorischen Forschung bisher zwar Aufmerksamkeit geschenkt, allerdings reichen die Untersuchungen kaum über eine Materialsammlung und Bestandsaufnahme hinaus. An einer umfassenden systematischen Studie der politischen Funktion mangelt es bisher, denn Forschungsbeiträge, die sich mit der politischen Dimension der Phylen beschäftigen, beschränken sich entweder nur auf einzelne Poleis oder widmen sich den Phylen lediglich im Zusammenhang mit einem bestimmten Strukturphänomen. Die Erkenntnisse solcher Beiträge blieben daher oft isoliert und griffen mehrheitlich zu kurz. Diese Lücke zu schließen, hat sich Oliver Grote mit seiner Arbeit vorgenommen, die eine leicht überarbeitete Version seiner 2014 an der Universität Bielefeld angenommenen Dissertation darstellt. Ausgehend von der Vermutung, dass die Phylen politische Verbände mit spezifischen (politischen) Funktionen darstellten (S. 17), untersucht Grote die Phylensysteme in Kyrene, Sikyon, Sparta, Gortyn, Dreros, Korinth, Argos, Milet, Chios und Athen. Grotes Einzeluntersuchungen dieser zehn Poleis sind umfangreich und sehr detailliert, sodass sich die Besprechung im Folgenden auf eine Auswahl von Kapiteln beschränken muss.

Nach einigen einleitenden Bemerkungen, in denen Grote sich eingehend mit der Forschungsgeschichte beschäftigt und einige Forschungskontroversen nachzeichnet, widmet er sich in seiner ersten Fallstudie der Polis Kyrene. Dort versuchte Demonax die Krise, die im 6. Jahrhundert u.a. durch adlige Machtkämpfe und eine zuwanderungsbedingte sprunghafte Bevölkerungszunahme hervorgerufen worden war, einerseits durch die Einschränkung königlicher Befugnisse und Privilegien, andererseits durch die Neuordnung der Bürgerschaft zu lösen. Dass die Einführung der Phylenordnung in Kyrene die Grundlage der Problemlösung war, zeuge, so Grote, vom hohen integrativen Potenzial dieser Einheiten (S. 24). Dabei weist Grote die Behauptung, dass die Phylen zur Lösung des inneren Konfliktes nicht beigetragen haben, da durch die Einteilung nach Herkunftsgruppen keine tatsächliche Durchmischung der Gesellschaft stattfand, zurück: Die Siedler waren schon in ihren Heimatpoleis personalen Einheiten, wie z.B. Mahlgemeinschaften, zugeordnet gewesen und haben diese auch zunächst beibehalten. Die Reform des Demonax führte insofern zu einer Durchmischung, als dass sich Individuen, die in ihrer Ursprungspolis unterschiedlichen Verbänden zugeordnet waren, nun in derselben Phyle wiederfanden (S. 37–38). Überhaupt seien die Mitglieder einer Phyle aus unterschiedlichen, teilweise sogar verfeindeten Regionen eingewandert: So gehörten Spartaner, Argiver, Sikyonier und Bürger kretischer Poleis ein und derselben Phyle in Kyrene an und waren damit gezwungen, ihre regionalen Sonderinteressen denen ihrer neuen Phyle unterzuordnen (S. 37). Die Berücksichtigung der Herkunft bei der Phyleneinteilung habe der Durchmischung der Gesellschaft nicht im Wege gestanden und darüber hinaus auch der sozialen Realität Rechnung getragen, sodass die drastische Neuordnung auf weniger Ressentiments in der Bevölkerung gestoßen sei (S. 39). Nicht zuletzt haben die Phylen auch die organisatorischen Strukturen dargestellt, die nötig waren, um eine gerechte Verteilung jener Güter und Befugnisse, die Demonax dem König entzogen hatte, realisieren zu können (S. 42). Mit seiner Phylenordnung habe Demonax überhaupt die Voraussetzung geschaffen, dass die Stadt zur politischen Gemeinde, zur Polis, werden konnte (S. 45).

Für Korinth stellt Grote eine Zunahme von zunächst drei auf insgesamt acht Phylen fest, die er auf die Zeit nach dem Ende der Tyrannenherrschaft datiert (S. 147–148): Eine derart komplexe und aufwendige Unterteilung der Bevölkerung sei weder zu einem so frühen Zeitpunkt wie dem 8. Jahrhunderts v.Chr., also unter der Regierung der Bakchiaden, wahrscheinlich, noch sei zu sehen, was die Tyrannen davon gehabt haben sollen. Vielmehr deute die hohe Anzahl an Phylen auf das Bestreben hin, politische Befugnisse gleichmäßig breit zu verteilen, und dieses Bestreben mag nicht zuletzt Resultat einer Lehre gewesen sein, die aus der Tyrannenherrschaft gezogen wurde. Ähnlich wie für Sparta konstatiert Grote auch für Korinth personale und territoriale Gliederungseinheiten, nämlich Phylen und Mere (S. 151). Die Zuordnung der Bürger zu beiden Gliederungseinheiten dürfte, so Grote, eine konsolidierende Wirkung auf die Gemeinschaft gehabt haben, auch indem vormals minderberechtigte Bevölkerungsteile in die Polis integriert wurden (S. 153) und eine Machtbegrenzung des Adels bewirkt worden sei (S. 154). Dass politisch handlungsfähige Bürger einer Phyle zugeordnet waren, spreche dafür, dass die Auswahl von Ratsmitgliedern und Probouloi auf dem Phylensystem basierte und diese Verbände damit eine wichtige Funktion in der Ämterverteilung innehatten: Jede Phyle stellte demnach neun Ratsmitglieder und einen Proboulos (S. 159 und 161).

Das neunte Kapitel ist Milet gewidmet, wo sowohl die Besetzung der fünf Proshetairoi als auch die des Aisymnetenamtes mithilfe der Phylen einem komplexen Rotationsprinzip folgend vorgenommen wurden, was Grote eingehend untersucht (S. 180–183). Demnach stellten jährlich nur drei der sechs milesischen Phylen die Beamten: Jeweils zwei Phylen stellten je zwei Proshetairoi und eine dritte Phyle habe zwar nur einen Proshetairos, dafür aber den Aisymneten besetzt. Auch das Privileg, letzteren zu stellen, rotierte unter den Phylen, sodass der oberste milesische Beamte nur alle sechs Jahre aus derselben Phyle stammte. Aisymnet, Basileus und Proshetairoi bildeten gemeinsam das Gremium der Molpoi, das Grote entgegen der gängigen Lehrmeinung nicht als einen Kultverein, sondern als ein Gremium politischer Beamter ansieht (S. 190–192): Darauf weise die eponyme Funktion des Aisymneten hin sowie die Amtsbezeichnung an sich – die Rolle, die mit einem Aisymneten verbunden war, sei, so Grote, stets eine genuin politische gewesen. Dass in der Molpoi-Inschrift keine über das Religiöse hinausgehende Funktion der Molpoi beschrieben ist, lässt Grote nicht als Ausschluss anderer Funktionen gelten: Schließlich handele es sich dabei um die Beschreibung eines religiösen Festes, sodass Angaben über eine politische Funktion überhaupt nicht zu erwarten seien (S. 187). Dafür, dass die Molpoi ein Gremium der Polis und nicht etwa ein kultischer Verein waren, spräche auch ihre Fähigkeit, offizielle Beschlüsse mit Auswirkungen auf die ganze Polis zu erwirken. Denjenigen Phylen, die in einem Amtsjahr keine Beamten stellten, weist Grote die Funktion einer Kontrollinstanz zu (S. 192–196). Die Bürger der inaktiven Phylen, so vermutet Grote, fungierten demnach als Beobachter und konnten notfalls intervenieren, wobei der Umstand, dass das Gremium nicht durch einen Phylengenossen besetzt war und dadurch keine Rücksichtnahme auf die eigene Phyle genommen werden musste, sogar den Interventionswillen begünstigt habe. Die Schlussfolgerung, dass gegen ein nicht aus der eigenen Phyle besetztes Gremium eher interveniert wurde als gegen ein aus allen Phylen gleichmäßig besetztes, ist meines Erachtens aber nicht unmittelbar zu ziehen, denn auch phylenübergreifende Verbindungen dürften eindämmend auf den Interventionswillen gewirkt haben. Die Phylen waren schließlich nicht streng voneinander isoliert und dass zwei Personen unterschiedlichen Phylen angehörten, bedeutete nicht, dass es keine Verbindungen zwischen ihnen gab. Das gilt umso mehr, da, wie Grote betont, die Phylen personellen, aber nicht territorialen Ordnungsprinzipien folgten.

Seine Einzeluntersuchungen schließt Grote mit einem Kapitel über die Entstehung der dorischen Phylen ab, in dem er sich gegen den momentanen Trend der Forschung wendet und argumentiert, dass die Phylen nicht als Neuschöpfungen der archaischen Zeit zu begreifen seien. Er verweist dazu auf den Terminus der Phyle in den homerischen Epen, der allerdings für sehr unterschiedliche Gruppen von Personen verwendet werden konnte, eben auch für Verbände, die im Krieg eingesetzt wurden. Als mit der Polisentstehung Phylen mit funktional politischem Charakter entstanden, änderte sich wahrscheinlich ihre Bezeichnung von phûlon zu phulé (S. 230–231 und S. 241).

Im Rahmen seiner Schlussbetrachtung bemüht sich Grote um eine Synthese der Ergebnisse seiner Einzelstudien und formuliert Aussagen für den gesamtgriechischen Raum in archaischer und frühklassischer Zeit. Dabei betrachtet er die Phylenordnung erstens als frühe Form politischer Repräsentation, zweitens legt er ihre Bedeutung für die Herausbildung der Phylenidentität und der politischen Ordnung dar und drittens verdeutlicht er seine Auffassung von den Phylen als Garanten von Homogenität und Egalität. Grote kommt zu dem Schluss, dass die Phylen einerseits ein probates Mittel zur Segmentierung der Bürgerschaft in homogene Verbände darstellten (S. 259) und dabei zur Überwindung innerer Spannungen beitragen konnten, indem sie zur Verteilung der Ämter genutzt wurden. Andererseits konnten die Phylen, da sie schon früh keine Verwandtschafts- und Ortsverbände und damit verhältnismäßig abstrakt waren, in durchaus tiefgreifenden Reformen neu strukturiert werden, ohne dass dies auf massiven Widerstand in der Bürgerschaft traf (S. 262).

Insgesamt gelingt Grote eine aufschlussreiche Untersuchung der frühgriechischen Phylen. Weil der Autor es nicht bei in sich geschlossenen Einzelstudien belässt, sondern immer wieder kontextualisiert und vergleicht, ist er in der Lage, viele neue Deutungen und Einblicke in den Forschungsgegenstand der griechischen Phylen anzubieten. Grote schafft es, trotz vieler, eingedenk der Quellenarmut aber auch notwendiger Abschweifungen, eine stringente und nachvollziehbare Argumentation vorzulegen und dass viele dieser Überlegungen dabei recht hypothetisch bleiben, ist aufgrund der Quellenlage unvermeidbar. Die strenge Konzentration auf die politische Dimension hat aber auch ihren Preis, denn die Überzeugungskraft, mit der Grote die politische Bedeutung der griechischen Phylen darlegt, birgt die Gefahr, anderen Bereichen, wie dem sozialen und damit der Wirkmächtigkeit der Phylen im Ganzen, nicht Genüge zu tun. Ein solch komplexes, auf allen Ebenen einschneidendes Phänomen, dürfte aber auch über das politische Feld hinaus Einfluss gehabt haben. Diese Anmerkung soll freilich nicht die hohe Qualität der von Grote vorgelegten Untersuchung in Frage stellen: Zweifelsfrei handelt es sich bei der Arbeit um einen wichtigen Forschungsbeitrag, der zu vielen Diskussionen anregt und neue Erkenntnisse wirkmächtig übermittelt.

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