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Titel
Giftpfeile über der Front. Flugschriftpropaganda im und nach dem Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Koch, Christian
Reihe
Zeit der Weltkriege 3
Erschienen
Anzahl Seiten
485 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 32,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Jeismann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die intensive Propaganda während des Ersten Weltkriegs, mit allen Mitteln und technischen Finessen ihrer Zeit, Fotomontagen und gezielte Falschmeldungen eingeschlossen, hat dazu geführt, dass sie selbst zum Mythos wurde. In der Nachkriegszeit war sie deshalb ein zentrales Thema. In allen am Krieg beteiligten Ländern waren Rolle und Bedeutung der Propaganda heiß umstritten. Mit Blick auf England machte man in Deutschland besonders den Zeitungsmagnaten Lord Northcliffe dafür verantwortlich, dass Großbritannien überhaupt in den Krieg gezogen sei und nach dem Kriegsende nicht von seinen hohen Reparationsforderungen abrückte. Adressaten der Meinungsbeeinflussung waren neben der Bevölkerung des eigenen Landes auch die des Feindes.

Nicht zuletzt zielte man aber auch darauf ab, die feindlichen Soldaten mit Hilfe von Propaganda zu demoralisieren. Millionen von Flugblättern wurden auf beiden Seiten der Front abgeworfen, abgeschossen oder von speziellen Patrouillen abgelegt. An der Westfront und auf deutscher Seite sollte vor allem die „Gazette des Ardennes“ neben den feindlichen Soldaten auch die Bevölkerung in den besetzten Gebieten für die Deutschen einnehmen. Die Wirkung dieser sogenannten „Frontpropaganda“ lässt sich nicht messen, gleichwohl scheint der immense Aufwand dafür auf beiden Seiten von der politischen und militärischen Führung geradezu als notwendig empfunden worden zu sein – als Rechtfertigung und Selbsterklärung auch gegenüber den neutralen Staaten, die man nach Möglichkeit auf die eigene Seite ziehen oder zumindest ruhig halten wollte.

Diesen Front-Flugschriften hat Christian Koch seine bei Gerd Krumeich entstandene Dissertation unter dem Titel „Giftpfeile über der Front“ gewidmet. Dabei geht es im ersten Teil um die Organisation und Verbreitung der Flugschriften an der West- wie an der Ostfront sowie um die „Aufklärung“ der eigenen Truppen. Dabei hat der Verfasser eine Fülle an Quellen aus Frankreich, Großbritannien und den USA herangezogen. Sehr deutlich werden die Schwierigkeiten, denen diese Propaganda schon bei den eigenen Truppen begegnete: Die Offiziere waren mit der Durchführung von weltanschaulicher Schulung beauftragt, ohne dass sie und ihre Untergebenen den Sinn einer solchen Maßnahme im schweren Frontalltag einsahen. Auch war es schwierig und oft unmöglich, eine eher allgemeine Orientierung über Ursache und Ziel des Krieges und seinen Verlauf von einer konkreten politischen Parteinahme und Beeinflussung zu trennen. Die Debatten um diesen Punkt im Reichstag legten beredt davon Zeugnis ab, wie stark der innenpolitische Rückstoß dieser Propaganda schon während des Krieges empfunden wurde.

Besonders interessant an Kochs Arbeit ist, dass er die Propaganda und ihre Auswirkungen über den Krieg hinweg verfolgt. Seine These lautet, dass die Wirkung der Propaganda sich erst nach dem Krieg nachhaltig und in der Innenpolitik entfaltete. Die Propaganda wurde zu einer allfälligen Erklärung für die fatalen Ergebnisse einer Politik, die aus den selbst geschaffenen Antagonismen nicht mehr herausfand. Das betraf die Innenpolitik in noch höherem Maß als die Außenpolitik. Der Autor macht so das verhängnisvolle Nachglühen der Kriegspropaganda in seiner Wirkung als politischer Brandbeschleuniger verständlich: Der Krieg war zu Ende, die Lügen und Verleumdungen der Propaganda aber lebten als Wiedergänger in den innenpolitischen Debatten fort. Ihnen ist der abschließende Teil der Arbeit gewidmet.

Eine wichtige Rolle in der Agitation antirepublikanischer nationalistischer Kreise spielte die Vermengung nationalistischer und antisemitischer Motive. So wurde behauptet, Lord Northcliffe sei tatsächlich ein Frankfurter Jude, der das „Deutschtum“ bekämpfe. Im Untergrund organisiere er alles, um Unzufriedenheit in der deutschen Bevölkerung zu schüren. Die Legende vom ‚Dolchstoß’, der dem deutschen Heer durch eine abtrünnige Heimatfront versetzt worden sei, war auf das Engste mit dem vermeintlichen Einfluss sowohl der alliierten Propaganda als auch jüdischer, antinationalistischer und sozialistischer Agitation im Innern verbunden.

Auch die Sozialdemokraten wurden verdächtigt, mit dem Feind gemeinsame Sache zu machen. Der radikale, eliminatorische Antisemitismus Hitlers habe hier seinen Grund und Anfang. Wie wichtig Propaganda im Denken Hitlers war und wie sehr er auf die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg rekurrierte, ist keine neue Einsicht, wird hier aber eindrucksvoll demonstriert. Er hätte die deutsche Propaganda im Ersten Weltkrieg richtig und wirkungsvoll organisiert, so Hitler, wenn er nur schon an der entscheidenden Stelle gewesen sei. Allerdings zeigt Koch, dass sich von den mehr als 1.500 Reden, die Hitler zwischen 1919 und 1945 hielt, tatsächlich nur wenige ausführlich mit dem Ersten Weltkrieg und der Propaganda befassten. Man kann davon ausgehen, dass Hitler es nicht für sinnvoll erachtete, ausführlich darüber zu reden – schließlich hatte er ja nach der Machtübernahme ein ganzes Ministerium geschaffen, das sich ausschließlich mit Propaganda befasste. Und natürlich wirkte es sich im Zweiten Weltkrieg fatal aus, dass die alliierte Gräuelpropaganda von abgehackten Kinderhänden und ähnlichem aus dem letzten Krieg als schiere Erfindungen entlarvt wurde: Dass Juden im Osten in Massen vergast würden, wirkte vor diesem Hintergrund bloß wie eine neue Propagandalüge.

Kochs Arbeit ist eine wichtige und gründlich gearbeitete Studie zur Propaganda im Ersten Weltkrieg, deren entscheidender Vorteil gegenüber vielen Arbeiten zur Propaganda zu diesem Thema darin liegt, dass sie einen Wirkungszusammenhang sichtbar macht, der über den Weltkrieg hinausweist und damit die Metapher vom lang wirkenden „Gift“ auf die Mentalitäten rechtfertigt.

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