J. Kilian: Krieg auf Kosten anderer

Titel
Krieg auf Kosten anderer. Das Reichsfinanzministerium der Finanzen und die wirtschaftliche Mobilisierung Europas für Hitlers Krieg


Autor(en)
Kilian, Jürgen
Reihe
Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus 3
Erschienen
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Nützenadel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Karl Friedrich Vialon, seit 1950 hoher Beamter im Bundesfinanzministerium (zuletzt als Leiter der Haushaltsabteilung), galt nicht nur als einflussreicher Finanz- und Haushaltsexperte, sondern verfügte auch über gute Auslandskenntnisse und internationale Kontakte. Schon in der Nachkriegszeit war bekannt, dass der vielseitige Finanzexperte eine erste Karriere im „Dritten Reich“ absolviert hatte: Vialon, seit 1933 NSDAP-Mitglied und 1937 ins Reichsfinanzministerium eingetreten, wurde 1940 in den Auslandsdienst versetzt, zunächst als Finanzreferent für das Elsaß und von 1942 bis 1944 als Leiter der Abteilung Finanzen „Ostland“ in Riga. Dort war er nicht nur für die Eintreibung der finanziellen Zwangsabgaben der baltischen Staaten und Weißrutheniens an das Reich zuständig, sondern auch für die Konfiszierung jüdischer Vermögen verantwortlich zeichnete.

Die Person Vialons ist vor allem deshalb so interessant, weil sie paradigmatisch zwei Aspekte der nationalsozialistischen Finanzpolitik während des Zweiten Weltkrieges beleuchtet: Zum einen die totale Ausrichtung der gesamten volkwirtschaftlichen Ressourcen auf den Eroberungs- und Vernichtungskrieg, die flächendeckende Ausbeutung und schließlich Zerstörung von Human- und Sachkapital in ganz Europa. Zum anderen das Fortbestehen einer bis zum Ende des Krieges regelkonform handelnden Verwaltung, die sich auf die Grundsätze der Reichshaushaltsordnung und des Steuer- und Verwaltungsrechts berief, gleichzeitig aber an den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes aktiv mitwirkte.

Diese zwei Seiten des „Dritten Reiches“ sind zwar seit langem bekannt und schon durch die vielzitierte Studie Ernst Fraenkels über den „Doppelstaat“ problematisiert worden, meist jedoch als Widerspruch oder zumindest separate Sphären beschrieben worden. Das konkrete Ineinandergreifen von rationalem Behördenhandeln und den destruktiven Dynamiken des NS-Systems sind hingegen immer noch nicht richtig erklärt. War Hitlers Krieg ein Krieg auf Kosten anderer, und welche Rolle spielte hierbei das Reichsfinanzministerium und seine Beamten? Die Studie von Jürgen Kilian möchte diese Forschungslücke schließen und hat hierbei Maßstäbe gesetzt. Auf der Grundlage umfangreicher Quellen aus dem Finanzministerium sowie zahlreichen anderen Beständen rekonstruiert die Arbeit detailliert das Verwaltungshandeln aus einer Innenperspektive, ohne sich darin zu erschöpfen, nur die formalen Befehlswege oder institutionellen Strukturen zu beschreiben. Insbesondere aber besticht die Studie dadurch, dass sie die NS-Expansion in ganz Europa in den Blick nimmt, statt – wie viele andere Studien – sich auf einzelne Länder oder Besetzungsgebiete zu konzentrieren. Dieses Buch liefert nicht nur für die NS-Forschung, sondern auch für die Wirtschafts- und Finanzgeschichte einen überaus wichtigen Beitrag. Aus der Vielzahl von Einzelergebnissen sind fünf Ergebnisse hervorzuheben:

Erstens arbeitet die Studie erstmals heraus, wie wichtig die staatliche Finanzverwaltung für die Kriegswirtschaft tatsächlich war. Zwar verlor das Reichsfinanzministerium im Zuge der Konsolidierung der NS-Herrschaft an politischer Autorität, was vor allem damit zusammenhing, dass ihm die Etatkontrolle über die militärischen Ausgaben entzogen wurde und die zahlreichen Sonder- und Parteiorganisationen nicht der Reichshaushaltsordnung unterlagen Zudem stand Finanzminister Schwerin von Krosigk in der Machthierarchie des „Dritten Reiches“ eher im zweiten Glied. Dies bedeutete allerdings nicht, dass das Ministerium und die ihm nachgeordneten Behörden völlig unbedeutend waren. Diese Sichtweise wurde von führenden Ministerialbeamten bewusst verbreitet. Sie versuchten sich nach 1945 einer strafrechtlichen Verurteilung zu entziehen pflegten als Zeugen in den Nürnberger Prozessen den Mythos einer weitgehend entmachteten Verwaltung.

Die Untersuchung von Kilian zeigt hingegen, dass zwei gegenläufige Prozesse sich überlagerten: Der formale Bedeutungsverlust des in der Weimarer Republik so mächtigen Reichsfinanzministeriums in den Jahren nach 1933, und die allmähliche Aufwertung der Finanzverwaltung nach Ausbruch des Krieges. Letzteres hatte damit zu tun, dass sich das Regime nun mit der Doppelaufgabe konfrontiert sah, die enormen Finanzierungslasten des Krieges zu bewältigen und gleichzeitig Versorgungseinbrüche im Reichsgebiet verhindern musste. Diese immer schwierigere Aufgabe sowie die komplexen Steuerungsprobleme der Kriegswirtschaft erforderten umfassende Verwaltungskenntnisse und führten indirekt zu einer Aufwertung der Fachbeamten – welche diese Rolle wiederum bereitwillig übernahmen. Der Verweis auf die Notwendigkeit, den Krieg unter Anwendung des Steuer- und Haushaltsrechts zu finanzieren, war immer auch eine Strategie, die eigene Rolle gegenüber den anderen NS-Institutionen aufzuwerten.

Zweitens wissen wir nach der Studie von Kilian viel präziser, in welche Organisationsstrukturen und Befehlsketten die Finanzbeamten in den besetzten Gebieten eingebettet waren und worin ihre Tätigkeit genau bestand. Diese variierte je nach Besatzungsordnung erheblich – in einigen Gebieten, etwa dem Generalgouvernement, wo etwa die Hälfte der über 1.000 entsandten deutschen Finanzbeamten tätig waren, ersetzten sie die heimische Verwaltung weitgehend, in anderen Gebieten übten sie eher eine fachliche Aufsichtsfunktion aus. Wichtigste, aber keineswegs alleinige Aufgabe war die Sicherstellung der finanziellen Beiträge zu den Kriegs- und Besatzungskosten – eine Aufgabe, die die Verwaltung im Rahmen ihrer Möglichkeiten überaus effizient bewältigte. Kilian arbeitet präzise heraus, wie sich die Beamten in den besetzten Gebieten mit dem Ministerium abstimmten. Auch wenn sie formal freigestellt waren und der offizielle Dienstweg gegenüber dem Berliner Ministerium eigentlich untersagt war, bestanden informell vielfältige Verbindungen zwischen Zentrale und Peripherie. Dies war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass innerhalb des Reichsfinanzministeriums mit der für Auslandsfragen zuständige Abteilung V, die ursprünglich u.a. für die Reparations- und Kriegsschuldenfrage zuständig war, eine effiziente und in ihren Funktionen gebündelte Organisationseinheit zur Verfügung stand. Diese Informalisierung der Kommunikation ist ein wichtiger Aspekt, der zeigt, wie sich jenseits der geordneten behördlichen Hierarchien und Dienstwege neue Handlungsstrukturen herausbildeten.

Drittens wird durch die Studie noch deutlicher erkennbar, dass die Mobilisierung finanzieller Ressourcen auf einer engen Verbindung von Zwang und Kollaboration beruhte. Angesichts der unterschiedlichen Steuer- und Abgabensysteme und der begrenzten personellen Möglichkeiten – nach Schätzung Kilians waren auf dem Höhepunkt etwa 1.200 Finanzbeamte aus dem Reich in den insgesamt 13 Ländern tätig – konnte das System ohne aktive Mitwirkung der lokalen Verwaltungen nicht funktionieren. Vielfach versuchten die deutschen Besatzer, die Fassade eines fairen wirtschaftlichen Austausches aufrecht zu erhalten, um ein Maximum an Ressourcen zu mobilisieren: Steuergesetze blieben in Kraft, Kredite wurden offiziell geführt und die bilateralen Clearingkonten suggerierten ein wechselseitiges Geben und Nehmen, das in Wirklichkeit natürlich nicht mehr existierte.

Viertens kann Kilian durch eine präzise, bislang nicht vorliegende Neuberechnung der gesamten Finanzbeiträge zeigen, wie wichtig die Zahlungen aus den eroberten Territorien für die Finanzierung des Krieges waren. Angesichts der massiven Überforderung der deutschen Volkswirtschaft war allen Beteiligten von Beginn an bewusst, dass Deutschland den Krieg nicht aus eigener Kraft stemmen konnte und daher auf finanzielle Zuflüsse aus den besetzten Territorien angewiesen war. Weder das Reichsfinanzministerium noch die abgeordneten Beamten waren auf diese Aufgabe vorbereitet bzw. hatten eine konkrete Vorstellung, wie dieser Prozess organisatorisch zu bewältigen war. Genau aus diesem Grund rekurrierte man auf die bewährten bürokratischen Routinen der Steuer- und Finanzverwaltung, die sich als geeignetes Instrument der Lenkung erwies.

Die „geräuschlose“ Kriegsfinanzierung im Reich, die letztlich auf einer stillschweigenden Abschöpfung der privaten Ersparnisse und einer aufgestauten Inflation basierte, korrespondierte mit einer ebenso geschickten Organisation der Kontributionen aus den eroberten Ländern. Kilian weist darauf hin, dass ein offener Raubzug das System zum Kollabieren gebracht hätte. Ein geordnetes Zahlungssystem, die Festlegung von Wechselkursen und Devisenbestimmungen usw. waren erforderlich, um das System funktionsfähig zu erhalten. Vor allem aber: die Zahlungen aus den Ländern mussten mit realen Werten hinterlegt werden, eine offene Geldentwertung wie die Entstehung von Schwarzmärkten hätte dieses System rasch unterminiert.

Wie hoch waren fünftens aber nun die finanziellen Beiträge der besetzten Länder, und inwiefern haben sie dazu beigetragen, den Krieg zu verlängern? Kilian schätzt den Gesamtbetrag der Leistungen auf die gewaltige Summe von 126 Mrd. RM. Nur mit Hilfe dieser finanziellen Leistungen war es dem nationalsozialistischen Deutschland überhaupt möglich, der wirtschaftlichen und militärischen Übermacht der Alliierten bis zum Frühjahr 1945 Stand zu halten. Aber: Diese Summe liegt deutlich unter den Angaben Götz Alys, der bekanntlich die These eines umfassenden Raubkrieges vertreten hat, mit der Deutschland nicht nur den Krieg finanziert, sondern der eigenen Bevölkerung auch ein hohes Konsumniveau bis zum Ende ermöglicht habe.

Alys These, der NS sei eine Gefälligkeits- und Wohlfühldiktatur gewesen, wird von Kilian gründlich widerlegt. Ungeachtet der hohen Beiträge aus den eroberten Territorien waren die Finanzierungslasten der deutschen Bevölkerung gewaltig, da aus dem Reich zwei Drittel der Kriegskosten aufgebracht wurden. Auch die Verwendung der Mittel spricht gegen Alys Deutung: Der überwiegende Teil der finanziellen Beiträge wurde in den jeweiligen Besatzungsgebieten verausgabt und diente der Finanzierung der dort anfallenden Ausgaben für Militär und Zivilverwaltung. Gegenüber den beachtlichen Summen, die für die Besatzungsverwaltung und die Kriegsführung der Wehrmacht von den besetzten Staaten aufgewendet wurde, fallen die Mengen an Waren, die von Wehrmachtssoldaten an die Heimatfamilien geschickt wurden, kaum ins Gewicht. Kilian schätzt, dass selbst im Falle von Frankreich, wo diese Rücksendungen vermutlich höher waren als in allen anderen besetzten Ländern, maximal sieben Prozent der insgesamt entnommenen finanziellen Lasten entfielen. Psychologisch hatten solche Sendungen vielleicht einen Effekt, doch an der sich zunehmend verschlechternden materiellen Versorgungslage im Reich änderten sie kaum etwas.

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