J. Jacob u.a. (Hrsg.): Das 18. Jahrhundert

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Titel
Das 18. Jahrhundert. Lexikon zur Antikerezeption in Aufklärung und Klassizismus


Herausgeber
Jacob, Joachim; Süßmann, Johannes
Reihe
Der Neue Pauly, Supplemente 13
Erschienen
Stuttgart 2018: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
XVI, 604 S./ 1208 Sp.
Preis
€ 199,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Marburg

Der Name „Pauly“ steht in der Gelehrtenwelt synonym für eine qualifizierte lexikalische Bearbeitung der Antike. Am bekanntesten ist die monumentale „RE“, Pauly-Wissowas „Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft“, die seit Ende des 19. Jahrhunderts herausgegeben wurde.1 In dieser Tradition steht „Der Neue Pauly“ (DNP), der das Spektrum seiner Vorgänger beträchtlich erweitert und neben der Reihe, die sich dem antiken Stoff widmet (Bände 1–12), auch die Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte des Faches mit einbezieht (Bände 13–15). Zur Ergänzung schuf man ferner eine beträchtliche Anzahl von Supplementen. Als Band 13 dieser komplementären Serie ist das vorliegende Sachlexikon anzuzeigen, das die Auseinandersetzung mit dem griechisch-römischen Altertum im 18. Jahrhundert thematisiert. Den Ausgangspunkt des historischen Rahmens markiert die „Querelle des anciens et des modernes“ („Antikenstreit“), den Endpunkt der Wiener Kongress 1815. Insgesamt vereint das Werk rund 140 Artikel aus der Feder von mehr als 100 Experten, die alphabetisch die ausgewählten Fachbegriffe von „Adel“ bis „Zensur“ erläutern.

Die Länge der Einträge variiert und umfasst durchschnittlich etwa vier Buchseiten à zwei Spalten. Eine klare Struktur der Abschnitte erleichtert die Orientierung, eingefügte Schwarzweiß-Abbildungen erhöhen die Anschaulichkeit. Die zeitgenössischen Motive zeigen unter anderem Gemälde, Skizzen von Gebäuden, Grabmälern, Palästen und Kostümen, Wandmalereien, Kupferstiche von Vasen oder Gemmen sowie Spielkarten. Am Ende eines jeden Artikels befinden sich Hinweise auf Quellen und Sekundärliteratur. Mit diesen substantiellen Angaben werden nicht nur Zitate im Text belegt, sondern auch eine Weiterbearbeitung des jeweiligen Spezialthemas ermöglicht.2 Ergänzend zu jedem vorgestellten Begriff wird auf verwandte Einträge in dem Lexikon aufmerksam gemacht. Studiert man beispielsweise den Artikel „Mode“ (Sp. 568–580), erhält man Querverweise auf Geschlechterdifferenz, Adel, Bürgertum, Reiseliteratur, Roman, Porträtkunst, Theater, Tanz, Skulptur, Kontur, Sklaverei, Nacktheit, Farbigkeit, Porzellan, Hofkultur, Idylle, Griechisch, Französische Revolution, Historienmalerei, Nation, Verfassung, Lebende Bilder, China, Sammlungen, Interieurs, Möbel, Wirtschaftstheorie, Erotika, Anthropologie und Neuhumanismus. Da in dem Lemma sogar Begriffe mehrfach genannt werden, bliebe zu hinterfragen, ob diese ausufernde Verweisung zur Verklammerung der Beiträge nützlich ist oder doch eher zur Verwirrung des Lesers beiträgt. Möglicherweise haben sich die Herausgeber diese Frage ebenfalls gestellt, da am Ende der Artikel noch einmal die vermeintlich wichtigsten Schlagworte aufgeführt werden.

Personenregister, Geographisches Register und Sachregister dienen der Erschließung des Kompendiums. Ein Blick in das Personenverzeichnis lässt erkennen, dass die klassischen antiken Autoren wie etwa Aristoteles, Cicero, Homer oder Platon dominieren. Bei den Intellektuellen des 18. Jahrhunderts genießen Descartes, Gibbon, Goethe, Herder, Heyne, Wilhelm von Humboldt, Kant, Lessing, Montesquieu, Rousseau, Schiller, Voltaire und Winckelmann Priorität. Da neben den Buchspalten der Erwähnung auch die Lebensdaten sowie der Artikel angegeben wird, in dem die Person vorkommt, könnte man hier von einem biografischen Index de luxe sprechen. Das Wagnis, ein Sachregister anzulegen, verdient ebenfalls hohe Anerkennung. Dass bei der Erstellung der komplexen Indices keine einhundert prozentige Genauigkeit zu erreichen ist, dürfte jedem Praktiker von vornherein klar sein.3

Die Einleitung von Jacob und Süßmann, die quasi die „Visitenkarte“ darstellt, fällt überraschend knapp aus (S. XI–XV). Als Sinnbild für den Gegenstand des Lexikons wird zunächst auf das von Johann Wolfgang von Goethe konzipierte „Römische Haus“ verwiesen, ehe sehr allgemein auf die Auswahl der einzelnen Artikel eingegangen wird. Um die damals vorherrschende Erfahrung der Antike mit „allen Sinnen“ herauszuarbeiten, habe man sie so angelegt, dass der „ganze Mensch“ angesprochen werde. Exemplarisch genannt werden die Lemmata „Inneneinrichtung“, „Mode“, „Nacktheit“ und „Tanz“ (S. XII). Die Charakterisierung von Aufklärung und Klassizismus bleibt eher stiefmütterlich. Zu den Bedingungen der damaligen Antikerezeption hätten Höhere Bildung, Popularisierung, Empirie sowie Kommunikations- und Transferprozesse gehört, zu ihren Spezifika Medialisierung, Verwissenschaftlichung, Pluralisierung, Nationalisierung, Historisierung und Relativierung. In dieser Auflistung vermisst man die „Idealisierung“ des Altertums. Offenbar verfolgen die Herausgeber mit dem rudimentären Vorspann die Konzeption, die Enzyklopädie durch ihre Artikel für sich selbst sprechen zu lassen und verzichten daher sowohl auf eine detaillierte Begründung der Auswahlkriterien der Einträge als auch auf eine nennenswerte historische Verortung der Epochen. Das ist insofern konsequent, da das Werk Stichworte wie „Altertumswissenschaft“ oder „Französische Revolution“ enthält, erleichtert es aber dem Leser nicht gerade, sich in dem Dschungel der 140 Einträge zurecht zu finden. Sicherlich wäre auch eine Zusammenfassung mehrerer Artikel und damit die Reduzierung ihrer Anzahl möglich gewesen. Als Konsequenz der gewählten „quantitativen“ Herangehensweise ergibt sich jedenfalls, dass ein hohes Maß an Standardisierung und Verdichtung eine individuelle Handschrift der Beiträge verhindert.

Weiterhin sehen sich die Herausgeber der „Globalisierung“ (S. XII) verpflichtet und haben deshalb die Einträge „China“, „Nordamerikanische Revolution“ und „Südamerika“ aufgenommen. In der Einleitung heißt es dazu, dass man „in China […] die griechisch-römische Antike zugunsten des eigenen Altertums weitgehend ignorierte“ (S. XIII). Diese widersprüchliche Beobachtung bestätigt der Artikel zum „Reich der Mitte“, der wenig mehr als den Hinweis auf die „acht Weltwunder“ des belgischen Missionars Ferdinand Verbiest enthält, ansonsten aber die Wahrnehmung der chinesischen Antike in Europa zum Gegenstand macht, also die Perspektive umdreht (Sp. 117–135). Rechtfertigt dieser dürre Befund die Berücksichtigung des fernöstlichen Landes? Die vorliegende Lektüre lehrt, dass die Kernbereiche der Antikerezeption im 18. Jahrhundert eindeutig in England, Frankreich, Italien und im deutschsprachigen Raum lagen, zu denen nur sehr vereinzelt andere Staaten oder Metropolen traten. Von einer weltweiten Entwicklung wird man angesichts der unübersehbaren „weißen Flecken“ wohl schwerlich sprechen können. Möglicherweise wollte man mit einem Bekenntnis zur „Globalisierung“ dem Vorwurf von Eurozentrismus oder nationalistischer Verengung begegnen, auch wenn die Anwendung des postindustriellen Topos kaum durch Fakten abgesichert ist.

Mit nur einem Eintrag finden weibliche Bezüge zur Antikerezeption wenig Beachtung.4 Dieser Artikel, der der „Geschlechterdifferenz“ (Sp. 273–281) gewidmet ist, legt dar, dass das Eingeschlechtermodell im 18. Jahrhundert durch eine Geschlechterpolarität ersetzt worden sei, bei der der Mann als der vollkommene Mensch inszeniert und die Frau auf Passivität, Zartheit und Emotionalität reduziert wurde. Jedoch sind vereinzelt auch Gegenentwürfe von Frauen feststellbar. Als eine der wenigen Kritikerinnen der vorherrschenden Misogynie wird die Britin Mary Shelley und ihr dystopischer Roman „The Last Man“ ins Feld geführt, der jedoch wegen seines Erscheinungsjahres 1826 streng genommen nicht mehr in den Untersuchungszeitraum gehört.

Insgesamt erfüllt das Werk seine Funktion als Wissensspeicher und bietet opulente Einblicke in teilweise vernachlässigte Aspekte der Antikerezeption im Zeitalter von Aufklärung und Klassizismus, insbesondere den kultur- und alltagsgeschichtlichen Bereich. Exemplarisch kann auf die Einträge „Homosexualität“ (Sp. 359–365), „Kochkunst“ (Sp. 431–435) oder „Tapete“ (Sp. 945–951) verwiesen werden. Es ist durch zahlreiche Indices ausgezeichnet erschlossen, wird aber durch den stolzen Anschaffungspreis seinen Platz vornehmlich in öffentlichen Bibliotheken finden. Ob sich das lexikalische Druckformat im Zeitalter des Internets behaupten kann, bleibt abzuwarten. Der bibliophile Leser wird jedenfalls das Gefühl des Blätterns dankbar begrüßen.

Anmerkungen:
1 Georg Wissowa u.a. (Hrsg.), Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Stuttgart 1890–1978.
2 Nicht gerade glücklich wirkt der Eintrag „Archäologie“ (Sp. 36–44), der allein neun Mal auf Peter Kuhlmann / Helmuth Schneider (Hrsg.), Geschichte der Altertumswissenschaften: biographisches Lexikon (DNP-Supplemente, Bd. 6), Stuttgart 2012 verweist.
3 Im Personenverzeichnis vermisst man z.B. Einträge zu Caroline de la Motte Fouqué (Sp. 572, 576) oder Maximilien de Robespierre (Sp. 857), im Sachverzeichnis zum „Wiener Kongress“ (S. XII). Wenig konsequent wirkt es, wenn man Karl Marx und Walter Benjamin in das Register aufnimmt, Reinhart Koselleck und Niklas Luhmann aber nicht (Sp. 233 und 359).
4 Das Sachregister enthält zudem die Begriffe „Emanzipation“ (Sp. 1151) und „Weiblichkeit“ (Sp. 1205).

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