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Titel
Körperführung. Historische Perspektiven auf das Verhältnis von Biopolitik und Sport


Herausgeber
Scholl, Stefan
Erschienen
Frankfurt am Main 2018: Campus Verlag
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Weinert, Berlin

Lange Zeit wurde die Geschichte des Sports – immerhin eines der bedeutendsten populärkulturellen Phänomene des 20. Jahrhunderts – vor allem von Vertreterinnen und Vertretern der Sportwissenschaft geschrieben. Die allgemeine Geschichtswissenschaft interessierte sich – herausgehobene Ereignisse wie die Olympischen Spiele 1936 einmal ausgenommen – eher weniger für den Sport als Untersuchungsgegenstand. Doch in den letzten etwa zwei Dekaden hat sich hier ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Ausgehend von einer Sozial- und Gesellschaftsgeschichte des Sports öffnete sich die Geschichtswissenschaft dem Themenfeld auch aus kultur- und politikgeschichtlichen Perspektiven.1

Insbesondere körperhistorisch orientierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigen sich in zunehmendem Maße mit sportgeschichtlichen Fragen: Welche Rolle spielten die Verbreitung des englischen Leistungssportes oder der „Fitnessboom“ seit den 1970er-Jahren bei der Etablierung und Durchsetzung körperlicher oder gesundheitlicher Normen? Wie verliefen Aneignungs- und Subjektivierungsprozesse beim Erlernen neuer Sportarten? Welche neuen Erkenntnisse über das 20. Jahrhundert, in dessen Verlauf der Körper zu einem zentralen Bezugspunkt politischer, gesellschaftlicher und kultureller Interventionen wurde, ermöglichen gerade sporthistorische Untersuchungen?2

In diese Forschungstradition fügt sich der äußerst lesenswerte, von Stefan Scholl herausgegebene Sammelband „Körperführung. Historische Perspektiven auf das Verhältnis von Biopolitik und Sport“ ein. Er versammelt insgesamt zwölf Beiträge, die gemeinsam das 20. Jahrhundert durchmessen und sich dabei aufgrund ihrer klugen Zusammenstellung immer wieder gegenseitig ergänzen, kontrastrieren oder kommentieren. In seiner prägnanten Einleitung umkreist der Herausgeber den theoretischen Rahmen der nachfolgenden Aufsätze. Im Anschluss an die Arbeiten Michel Foucaults betont Scholl, dass das Phänomen der Biopolitik nicht nur in totalitären oder autoritären Systemen auftritt, sondern vielmehr „als Grundkomponente gerade liberaler Regierungstechniken des 18., 19. und 20. Jahrhunderts zu begreifen“ sei (S. 12). Dabei hebt er die Ambivalenz der Biopolitik hervor, die zwischen disziplinierenden oder repressiven Methoden und emanzipierenden, „ermächtigenden“ Tendenzen changiert. Für den Untersuchungsgegenstand des Sammelbandes bedeutet dies, danach zu fragen, wie sich die Individuen den Sport jeweils aneigneten, welche Erwartungshaltungen an sie bestanden, welche Interventionstechniken unter den jeweiligen Regierungen entwickelt bzw. umgesetzt wurden und auf welche Weise über den Sport Körper- oder Gesundheitsvorstellungen diskursiv wie praktisch verhandelt wurden.

Im ersten Beitrag vergleicht Rudolf Müllner am Beispiel Österreichs den Sportdiskurs um 1900 mit dem Beginn des „Fitnessbooms“ in den 1970er-Jahren. Er kann zeigen, dass die Motive zum Sporttreiben um die Jahrhundertwende noch stark von externen Gründen wie der „Volksgesundheit“ geprägt waren, während sich der Diskurs ab den 1970er-Jahren markant auf interne Motive wie die Steigerung der eigenen Attraktivität oder des individuellen Wohlbefindens verschob, selbst wenn gesundheitspolitische Argumente über den gesamten Zeitraum hinweg bedeutend blieben. Im anschließenden Beitrag fragt Angela Schwarz nach dem „Aufkommen der Zuschauersportarten in Großbritannien um 1900“. Sie verdeutlicht, dass während dieser Zeit die immer wieder auftretenden Appelle an die Bevölkerung, selbst Sport zu treiben, keinen großen Widerhall fanden – ganz im Gegenteil zum Sport als populärkulturellem Großereignis, das im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmende Popularität erlangte.

Die beiden folgenden Beiträge von Olaf Stieglitz und Michael Hau fokussieren auf die 1920er-Jahre. Stieglitz zeigt am Beispiel Bernarr Macfaddens – eines US-amerikanischen Pioniers der Fitnessszene –, wie dieser in diversen Publikationen das Altern reflektierte. Propagierte Macfadden Anfang des 20. Jahrhunderts Sport noch als Mittel, um „die biologischen Schwellen eines ‚natürlichen‘ Alterungsprozesses nach hinten zu verschieben“, betonte er im Verlauf seines eigenen Älterwerdens zunehmend den „erhaltungswürdigen Wert“ eines alternden Körpers (S. 104). Mit diesem Beitrag unterstreicht Stieglitz die Bedeutung der bisher vernachlässigten Analysekategorie „Alter“ für die Sportgeschichte. Michael Hau beschäftigt sich dagegen am Beispiel von Hans Hoske mit dem Verhältnis von Sport und Sportmedizin in der Weimarer Republik sowie im „Dritten Reich“. Deutlich werden hierbei die großen Kontinuitätslinien, die bis zum Versehrtensport für verwundete Soldaten des Zweiten Weltkrieges reichten. Diana Wendlands produktive Auseinandersetzung mit „Bewegungsdiskurse[n] in Werkszeitschriften während des Nationalsozialismus“ schließt die Reihe der Aufsätze zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Wendland schildert, wie mit Hilfe solcher Zeitschriften versucht wurde, die „Arbeitnehmer*innen zur turnerischen oder sportlichen Bewegung zu motivieren, Vorstellungen von vernünftiger und unvernünftiger Bewegung festzusetzen und biopolitisches Wissen zu vermitteln“ (S. 173).

Lukas Rehmann lenkt anschließend den Blick auf „Sportmedizin als biopolitische Interventionstechnik in der DDR“. Anders als in der Bundesrepublik gelang es der Sportmedizin im zweiten deutschen Staat, sich zu „einer eigenständigen medizinischen Fachdisziplin mit eigener Approbation zum Facharzt, einer institutionellen Infrastruktur und einem disziplinspezifischen Korpus an wissenschaftlichem Wissen auszudifferenzieren“ (S. 177). Rehmann erklärt dies einerseits damit, dass dem Sport in der DDR eine wichtige Funktion für die Gesundheitsprävention zugeschrieben wurde. Andererseits spielte die Sportmedizin in der leistungssportlichen Orientierung ab den 1960er-Jahren eine zentrale Rolle, die bis hin zum systematischen Doping reichen konnte. Während Rehmanns Beitrag eine medizinische Profession zum Hauptuntersuchungsgegenstand hat, nimmt Kai Reinhart die „unterschiedliche[n] Elemente des Sports in der DDR“ in den Blick. Dabei demonstriert er in einem ersten Schritt, welchen analytischen Mehrwert Foucaults Konzept der Biomacht bietet. Im zweiten Schritt untersucht er anhand ausgewählter „Randsportarten“ – dem Sächsischen Bergsteigen und dem Skateboarden –, dass es auch in der DDR zu Bewegungen kam, die als „Technologien des Selbst“ verstanden werden können. Nach diesen beiden Artikeln zur DDR weitet Stefan Scholl den Untersuchungsgegenstand auf die (west)europäische Ebene aus. Am Beispiel des „Sport-für-alle-Paradigma[s] des Europarats in den 1960er und 1970er Jahren“ analysiert er, welche biopolitischen Konzepte während dieses Zeitraumes in die europäische Sportpolitik eingingen. Überzeugend kann Scholl belegen, dass nicht mit Zwang, sondern mit der Idee der Selbstführung des Einzelnen operiert wurde: „Individuen [sollten] über körperliche Prozesse der Subjektivierung dazu angeleitet werden, das zu wollen, was sie sollen […].“ (S. 255).

Im Folgenden bieten Pierre Pfütsch und Melanie Woitas zwei instruktive, aufeinander beziehbare Auseinandersetzungen mit der Kategorie Geschlecht im Sport. Pfütsch beschäftigt sich mit Fitness als biopolitischer Praktik zur Modellierung des eigenen Körpers. Am Beispiel bundesdeutscher Gesundheitspublikationen der 1970er- und 1980er-Jahre geht er der zunehmenden Verschränkung von Gesundheits- und Schönheitsvorstellungen nach und zeigt, wie sich der Fitnesssport als „Selbsttechnik der Gesunderhaltung“ etablierte (S. 270). Bemerkenswert ist, dass sich die Gesundheitsaufklärung in der Nachkriegszeit zunächst vor allem auf männliche Körper bezog und eine Angleichung geschlechterspezifischer Praktiken erst allmählich erfolgte. Melanie Woitas untersucht dagegen mit Jane Fondas Aerobic-Videos eine dezidiert weibliche Körperpraktik. In ihrem interessanten Beitrag, der unterschiedliche analytische Ansätze miteinander verbindet, kann sie verdeutlichen, dass Aerobic letztlich an dem selbst gesetzten Anspruch scheiterte, vorherrschende Körperideale herauszufordern und zu korrigieren. Stattdessen reproduzierte der „aerobic body“ ein weibliches Körperideal, das sich an klassischen Schönheits- und Gesundheitsvorstellungen orientierte. Den Abschluss des Bandes bildet ein eher grundsätzlicher Aufsatz von Sandra Günter zu „Dopingpolitik und Biomacht“, in dem sie am Beispiel des Dopings Giorgio Agambens Denkfigur des „homo sacer“ und Michel Foucaults Arbeiten miteinander in Beziehung setzt.

Stefan Scholls Sammelband „Körperführung“ bietet spannende Beiträge, die sich erfreulicherweise alle auf den vom Herausgeber vorgegebenen analytischen Rahmen einlassen und sich dadurch inhaltlich ergänzen. Der Band macht Lust auf die weiteren Forschungsarbeiten der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, weist auf Leerstellen in der bisherigen Sporthistoriographie hin und regt zum Weiterdenken an.

Anmerkungen:
1 Vgl. Olaf Stieglitz / Jürgen Martschukat / Kirsten Heinsohn, Sportreportage: Sportgeschichte als Kultur- und Sozialgeschichte, in: H-Soz-Kult, 28.05.2009, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1048 (28.10.2018); Olaf Stieglitz / Jürgen Martschukat, Sportgeschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 08.07.2016, http://www.docupedia.de/zg/Stieglitz_martschukat_sportgeschichte_v2_de_2016 (28.10.2018).
2 Vgl. Daniel Siemens, Von Marmorleibern und Maschinenmenschen. Neue Literatur zur Körpergeschichte in Deutschland zwischen 1900 und 1936, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 639–682, http://library.fes.de/afs-online/afs/ausgaben-online/band-47/forschungsberichte-und-rezensionen/von-marmorleibern-und-maschinenmenschen-neue-literatur-zur-koerpergeschichte-in-deutschland-zwischen-1900-und-1936/view (28.10.2018).