G. Shahar (Hrsg.): Deutsche Offiziere

Cover
Titel
Deutsche Offiziere. Militarismus und die Akteure der Gewalt


Herausgeber
Shahar, Galili
Reihe
Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2016 | 44
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
254 S., 7 Abb.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grischa Sutterer, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Mannheim

„Nicht wofür wir kämpfen, ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen“ (Ernst Jünger).

Die Umschlagsgestaltung des Tel Aviver Jahrbuch für Geschichte aus dem Jahr 2016 zeigt in der oberen Hälfte ein Foto Ernst Jüngers mit der höchsten militärischen Auszeichnung Preußens, dem Orden Pour le Mérite und verweist damit bereits auf die thematischen und zeitlichen Schwerpunkte der Ausgabe: die Entwicklung des deutschen Offizierstandes vor dem Hintergrund des Phänomens der Gewalt in der Moderne, vornehmlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dies ist nicht verwunderlich, wird doch der Epoche der Weltkriege sowohl aufgrund der Dramatik der politisch-militärischen Ereignisse als auch in ihrer Funktion als Ausgangspunkt und Katalysator mannigfaltiger Entwicklungslinien immer eine herausgehobene Stellung in der Militärgeschichte zukommen. Auf diese Weise fügt sich das Jahrbuch außerdem ein in die Reihe von Veröffentlichungen, die hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges eine erneute Forschungsdiskussion um die Wirkung und Folgen der Auseinandersetzung ausgelöst haben. Als Herangehensweise wird ein multidisziplinärer Ansatz gewählt, der Beiträge aus den Bereichen der Militär- und Geistesgeschichte sowie der Literaturwissenschaft umfasst und so einen breiten Bogen verschiedener Fallbeispiele in einen Sammelband zu integrieren vermag.

Eingeleitet wird der Sammelband durch das Editoral von Galili Shahar, der sich seinem literaturwissenschaftlichen Zugang entsprechend dem Themenkomplex Krieg und Gewalt auf der Basis einer Interpretation der Werke Heinrich von Kleists annähert. Shahar zufolge steht hinter diesen oftmals eine der essenziellen Fragenstellungen der Literatur: wie über den Krieg geschrieben werden kann. In Anlehnung an Gilles Deleuze interpretiert Shahar Kleists Schriften über die soldatische Lebenswelt als eine literarische „Kriegsmaschine“ (S. 14), in der sich die Figuren in einem individuellen Mikrokosmos der Gewalt befinden und in eine „reine Ordnung der Gewalt“ (S. 14) übertreten. Diese Ordnung konstituiere einen spezifisch modernen Gegenpol zur Aufklärung und würde so bereits den Weg für die Werke Erich Maria Remarques, Heinrich Bölls und Günther Grass‘ vorgeben.

Gundula Gahlen leistet in ihrem anschließenden Aufsatz „Militär und Bildung“ einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um die Wirkungen der von der Aufklärung ausgelösten militärischen Bildungsbewegung im 19. Jahrhundert. Mit einer sozialhistorischen Analyse von 10 % der bayerischen Offiziersakten im Zeitraum 1823 bis 1866 kann sie nachweisen, dass es sich bei dem bislang im Vergleich zu Preußen angenommenen höheren Stellenwert von universalistischer Bildung im bayerischen Offizierskorps um eine Rückprojektion der Verhältnisse aus dem Deutschen Reich auf die Zeit vor der Reorganisation des bayerischen Heeres handelte.

Hubertus Fischer reflektiert in „Fontanes Kriege“ über die Möglichkeit, der Quellengattung der „Kriegsbücher“ im Hinblick auf geschichtswissenschaftliche Fragestellungen mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. So verfolgt Fischer wie Fontanes Kriegsdarstellungen vor dem Hintergrund der antisemitischen Agitation im Deutschen Reich durch den Zionisten Theodor Zlocisti in dessen Schriften eingebunden wurden. Im zweiten Schritt verweist Fischer darauf, dass Fontanes Beschreibung des dänischen Oberbefehlshabers jüdischer Herkunft Christian Julius de Meza im Schleswig-Holsteinischen Krieg bereits eine transnationale Perspektive auf den Zusammenhang zwischen den Ideenwelten des Krieges und der Nation präfigurierte. Hier wäre zu fragen, inwiefern die Rolle und Funktion des General de Mezas nicht vielmehr auch in der Kontinuität militärischer Entwicklungslinien aus dem 18. Jahrhundert erkenntnisbringend zu analysieren sein könnte. Die folgenden Abschnitte beschäftigen sich mit den Mustern der Narration, die Fontane entwickelte, um das sich im 19. Jahrhundert herausbildende Geschehen des modernen Industriekrieges möglichst detailgetreu zu beschreiben.

Vier weitere Aufsätze beschäftigen sich mit dem Werk Ernst Jüngers. Den Auftakt macht Helmuth Kiesel, der noch einmal prägnant die Entwicklungsstufen, Narration, Metaphorik und Rezeption von Jüngers „In Stahlgewittern“ Revue passieren lässt. Insbesondere geht es Kiesel dabei um das Verhältnis der in den Kriegstagebüchern Jüngers dokumentierten Erfahrungen und deren literarische Verarbeitung. So werden die Prozedur und der Modus der „Literarisierung der äußerlichen Vorgänge und innerlichen Reaktionen“ (S. 91) im Detail analysiert. Der Aufsatz wird durch einen Beitrag zur Forschungsdiskussion über die „Judenzählung“ im Deutschen Heer im Jahr 1916 abgerundet. Kiesel kann hier durch Rückgriff auf die Kriegstagebücher Jüngers sowie die Werke anderer Autoren nachweisen, dass zumindest im Alltag der Soldaten keine geschlossenen antisemitischen Weltbilder existierten und die „Keimzellen“ (S. 106) des Antisemitismus der 1920er nicht im Heer und im Krieg zu suchen sind.

Alon Segev geht der Frage auf den Grund, wie das neuartige Phänomen des industriellen Massenkrieges von Jünger charakterisiert und interpretiert wurde. Segev grenzt hier Jüngers Perspektive von den Konzepten Carl Schmitts und Erich Ludendorffs ab, die ebenfalls auf die durch die Mobilisierung im Ersten Weltkrieg ausgelösten gesamtgesellschaftlichen Veränderungen eingingen. Segev zeigt, dass Jüngers Beschreibung der militärischen und gesellschaftlichen Umformierungsprozesse in ein nietzscheanisch geprägtes Weltbild eingebunden war. Innerhalb dessen stellte der Erste Weltkrieg einen notwendigen Umschlagspunkt dar: Durch den Krieg sei der Firnis der Zivilisation des bürgerlichen Zeitalters beseitigt und dem kriegerischen Lebensstil der Weg geebnet worden.

Auch der Beitrag von Klaus Vondung geht auf diesen Zusammenhang aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ein. Es geht darum nachzuweisen, dass sich im Zeitraum der Jahre 1920 bis 1923 in den Kriegstexten Jüngers ein geschichtsphilosophisches Modell immer weiter ausdifferenziert, welches sich durch eine apokalyptische Struktur auszeichnet. Der Erste Weltkrieg war in diesem Modell ein karthasisches Ereignis, welches den Aufstieg des technischen Zeitalters einleiten sollte.

Ilai Rowner beschließt die Beschäftigung mit Jünger, indem er dessen Kriegsliteratur mit derjenigen von Louis Ferdinand Céline vergleicht. Beide Autoren zogen unterschiedliche Schlüsse aus ihren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. In Anlehnung an das von Georg Batailles in „Die Literatur und das Böse“1 skizzierte Schema begegnete Jünger mit Affirmation und Bejahung der „total machine of society“ (S. 150), während Céline mit individueller Rebellion und Wahnsinn auf diese reagierte.

Gal Hertz und Luca Beisel interpretieren in ihrem Beitrag Walter Flex‘ Buch „Wanderer zwischen beiden Welten“ neu, das zu den meistgelesenen der Weimarer Republik zählte. Im Gegensatz zur bisherigen Rezeption, welche die autobiographische Erzählung im Rahmen einer bellizistisch-nationalen Tradition verortet hat, geht es den Autoren darum, die im Leben und Schaffen von Flex enthaltenen Spannungen nicht aufzuheben, sondern herauszustellen. Dabei verweisen die beiden Autoren auf Flex‘ andauernde Beschäftigung mit dem Narrativ des Tragischen in seinem literarischen Werk. Damit gelingt nicht nur eine neue Perspektive auf die Traditionslinien des Werkes, sondern auch auf die Weltsicht von Flex.

Danny Orbach reagiert in seinem Aufsatz über Generalmajor Henning von Tresckow und den 20. Juli 1944 auf die in den letzten fünfzehn Jahren geführte Diskussion über den Zusammenhang zwischen der um Tresckow gruppierten Widerstandgruppe in Smolensk und den von Wehrmacht und SS-Verbänden in deren Operationsbereich verübten Kriegsverbrechen.2 Orbach verweist darauf, dass es Tresckow aufgrund seines Charismas in einer spezifischen historischen Situation gelang, Offiziere, die aufgrund der Grausamkeiten der NS-Kriegsführung den herrschenden Rahmen der NS-Ideologie in Frage stellten, für den Kampf gegen das Hitler Regime zu gewinnen. Dies war möglich, da Tresckow den Widerstand gegen das Regime mit der Weiterführung des Krieges gegen die Sowjetunion in einer kohärenten Weltdeutung zusammenführte.

Yaron Jean beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Made in Germany“ mit der Karriere von Hannah Reitsch, einer der erfolgreichsten deutschen Fliegerinnen im 20. Jahrhundert. Ihr Lebenslauf sei ein Musterbeispiel für die soziale Partizipation mithilfe des technologischen Fortschritts in NS-Deutschland und für die wechselseitige Durchdringung des wissenschaftlichen und militärischen Subsystems der Gesellschaft im Zeitalter des totalen Krieges. Trotz ihrer Verwicklungen mit dem NS-Regime gelang es Reitsch sich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft aufgrund der Eigenlogik des technischen Bereiches als Botschafterin des aviatischen Fortschritts zu präsentieren.

Jörg Echternkamp behandelt abschließend in seinem gelungenen Aufsatz einen „neuralgischen Punkt“ des zivil-militärischen Verständnisses – nämlich den des politischen Offiziers als militärisches Leitbild. Mithilfe eines begriffsgeschichtlichen Ansatzes zeigt er, dass der im Kaiserreich tradierte und in der Weimarer Republik aktualisierte normative Typus des unpolitischen Offiziers sich im Dritten Reich entscheidend wandelt. „Unpolitisch“ meint zunächst die Ablehnung von parteipolitischen Vorstellungen. Im Dritten Reich vollzog sich dann eine signifikante semantische Bedeutungsverschiebung, durch welche der Begriff des Offiziers im Sinne der NS-Ideologie weltanschaulich aufgeladen wurde.

Von den zehn Aufsätzen des Bandes bieten insbesondere die Aufsätze von Jörg Echternkamp, Helmuth Kiesel und Danny Orbach methodisch und inhaltlich gehaltvolle Beiträge zu mehreren relevanten Forschungsdiskussionen. Leider ist bei aller Bedeutung des literarischen Schaffens von Ernst Jünger und Walter Flex zu bemängeln, dass sich der Fokus in Bezug auf den Ersten Weltkrieg – aus Sicht des Historikers – zu sehr in literaturwissenschaftlichen Analysen niedergeschlagen hat. Besonders der Aufsatz von Rowner fällt hier ins Gewicht, zeigt doch das an den Konzepten von Georg Bataille orientierte Kategorienraster erneut die begriffliche Unschärfe poststrukturalistischer Theoriebildung bei der Analyse geschichtlicher Zusammenhänge. Ein weiterer Kritikpunkt ist die teilweise nur lose Verknüpfung des thematischen Schwerpunktes des Bandes mit den einzelnen Aufsätzen. So fragt sich der Leser, warum nur drei der Aufsätze sich mit dem Offiziersstand als solchem beschäftigen. Darüber hinaus sind einige ärgerliche Fehler des Lektorats zu beanstanden, so war zum Beispiel Ernst Jünger niemals „General“ (S. 155).

Trotz dieser kleineren Kritikpunkte fällt das Urteil im Grundsatz positiv aus. Wenn man bei einer Aufsatzsammlung nicht wert auf Kohärenz legt und diese eher als Forum verschiedenster Ansätze zu einem großen Thema begreift, dann wird man an vielen Stellen auf interessante Einblicke stoßen und zahlreiche Denkanstöße finden. Ein Gesamtbild des deutschen Offiziers wird man jedoch nicht finden. Der Band bietet aufgrund seiner methodischen Pluralität einige anschlussfähige Studien zur deutschen Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts und unterstützt damit den bereits seit einiger Zeit laufenden Prozess, der die militärgeschichtliche Historiographie aus einer methodischen Engführung befreit.

Anmerkungen:
1 Siehe Georg Bataille, Literature and Evil, trans. by Alastair Hamilton, London [1957] 1973.
2 Siehe Hermann Graml, Massenmord und Militäropposition. Zur jüngsten Diskussion über den Widerstand im Stab der Heeresgruppe Mitte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), 1, S. 1–26.

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